Rezension über:

Jan Křen: Die Konfliktgemeinschaft. Tschechen und Deutsche 1780-1918. Übersetzung aus dem Tschechischen von Peter Heumos. Studienausgabe (= Veröffentlichungen des Collegium Carolinum; Bd. 71), 2. Aufl., München: Oldenbourg 2000, 404 S., ISBN 978-3-486-56449-5, EUR 24,80
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Rezension von:
Monika Glettler
Freiburg/Brsg.
Redaktionelle Betreuung:
Winfried Irgang
Empfohlene Zitierweise:
Monika Glettler: Rezension von: Jan Křen: Die Konfliktgemeinschaft. Tschechen und Deutsche 1780-1918. Übersetzung aus dem Tschechischen von Peter Heumos. Studienausgabe, 2. Aufl., München: Oldenbourg 2000, in: sehepunkte 2 (2002), Nr. 1 [15.01.2002], URL: https://www.sehepunkte.de
/2002/01/3214.html


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Jan Křen: Die Konfliktgemeinschaft

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Die zwölfjährige Entstehungsgeschichte dieser umfangreichen Synthese zum deutsch-tschechischen Verhältnis im mitteleuropäischen Kontext von 1780 bis zur Gründung der Ersten Tschechoslowakischen Republik 1918 beginnt bereits im Jahre 1974: unter den schwierigsten Arbeitsbedingungen des Autors angesichts der "Normalisierung" nach dem Prager Frühling von 1968. Jan, heute Vorsitzender der tschechischen Sektion der Deutsch-Tschechischen und Deutsch-Slowakischen gemeinsamen Historikerkommission, damals Mitglied der "Charta 77", verknüpft drei Untersuchungsebenen und Entwicklungslinien: die deutschböhmische, die österreichische und die gesamtdeutsche Perspektive und betrachtet sowohl die Tschechen als auch die Deutschen und Juden der böhmischen Länder als Bestandteile einer umfassenden, allerdings konfliktreichen Gemeinschaft (16) - inzwischen ist tschechisch-deutsche "Konfliktgemeinschaft" zum vielzitierten Topos der Historiker geworden. Die Erstveröffentlichung erfolgte - radikal gekürzt - als Samisdat-Kopie 1988, eine zweite Ausgabe erschien ein Jahr später im Exilverlag Škvorecký in Toronto; die Prager Edition folgte 1990 im Verlag der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften. Dem Nachholbedarf beim deutschen Leserpublikum wurde erstmals 1996 abgeholfen, dank der hervorragenden Übersetzung von Peter Heumos, der auch einen auf neuesten Forschungsstand gebrachten Anmerkungsapparat und ein Personenregister hinzugefügt hat.

In sechs chronologisch gegliederten Kapiteln entfaltet Křen ein breites Spektrum zu einzelnen Themen und Phasen der nationalen Emanzipation im späten 18. Jahrhundert, zur Entstehung des politischen Nationalismus 1840-1849, zum Absolutismus der Ära Bach, zum österreichisch-ungarischen Ausgleich 1867, zur deutschen Reichsgründung und den gescheiterten böhmischen Ausgleichsaktionen (Fundamentalartikel) von 1871. Als "goldenes Zeitalter" der Habsburgermonarchie werden die Jahre von 1871 bis 1900 charakterisiert: Danach beginnt für Křen das "Ende der österreichischen Ära" bis zum Jahre 1918, als Ausdruck der "größte[n] nationale[n] Umwälzung in Mitteleuropa" (383). Das Hauptverdienst der Darstellung liegt zweifellos in der Einbindung der tschechisch-deutschen "inländischen" Beziehungen in den europäischen Kontext, wenngleich die intendierte jüdische Problematik nur am Rande zur Sprache kommt.

Diskussionsbedürftig und -würdig erscheint der Rezensentin das Ungarnbild des Verfassers. Dies sei an drei Beispielen erläutert: "Rückständige Gesellschaften [Ungarn] scheinen sich im Widerstand besser behaupten zu können", liest man auf Seite 59, ohne Beweis dieser Behauptung. Zur Revolution von 1848/49 urteilt Křen: "1848 stellte ein weiteres Ereignis dar, das zur Absonderung Mitteleuropas von Ost- und Südosteuropa beitrug, denn die östlichen und südöstlichen Teile des Kontinents wurden von dem Drama dieses Umsturzes überhaupt nicht betroffen" (70). Hierzu hätte die ungarische Fachliteratur wohl Einiges zu bemerken... Schließlich widerspricht der Verfasser sich selbst, das heißt dem "Erfolg" des dualistischen Konzeptes (141), wenn er mehrfach dieses "Konzept" als "demütigende Niederlage" für die Tschechen interpretiert (144, 129), wobei die "rücksichtslose Entnationalisierung" (192) meines Erachtens durchaus auch als Streben nach Modernisierung des Ungarlandes interpretiert werden könnte. Weiter: "Die proösterreichische Einstellung der Tschechen" (126) kann - so pauschal - wohl auch nicht gelten, angesichts des längerfristigen tschechischen Boykotts des Wiener Reichsrates und der Ablehnung Zisleithaniens (123) - und Transleithaniens sowieso. Obwohl - laut Křen - gerade dann "der Nutzen des tschechisch-deutschen Zusammenlebens offenbar" wurde, "als die industrielle Gesellschaft der böhmischen Länder einen Sprung nach vorn machte" (21), negiert der Verfasser wenig später diese These: "Auch für die Arbeiter bedeutete die industrielle Revolution keinen Segen", vor allem nicht in Nordböhmen und Schlesien (95).

Die Auswahl dieser subjektiven Randbemerkungen sollte freilich nicht missverstanden beziehungsweise "konfliktabsichtlich" umgedeutet werden: Im Gegenteil - sie sollten Anregung zur Diskussion sein. Dass sich in der tschechischen Historiographie nicht erst seit der "Wende" eine kritische Distanz zum traditionellen Verständnis der eigenen Geschichte durchgesetzt hat, ist beweisbar, und hierzu hat auch die "ältere Generation" Wesentliches beigetragen. Bedauerlicherweise wird jedoch bisher immer nur die angeblich marginale "Deutsche Bohemistik - kontrovers gesehen" - noch dazu mit Schuldzuweisungen und Klageliedern.[1] Křen allerdings vermittelt nicht nur fundiertes Geschichtswissen, er regt vor allem zur Reflexion über die Ereignisse und Gedankenwelten vergangener Generationen und Nationalitäten an. Am Anfang seines Buches (11) steht das Leiden, Mit-Leiden, Voraus-Leiden, Nach-Leiden eines Rilke-Zitates. Am Ende (400) steht die Hoffnung auf "Weiterentwicklung und Zusammenleben" von Tschechen und Deutschen in Gesamteuropa. (Wo bleiben die Österreicher?)

Alles in allem: ein insgesamt großartiges, aktuelles Standardwerk der tschechischen Historiografie, als Grundlage für neue methodische Ansätze bestens geeignet!

Anmerkung:

[1] Dušan Třeštík: Deutsche Bohemistik - wozu?, in: Wohin steuert die Osteuropaforschung?, hrsg. von Stefan Creuzberger und Ingo Manteufel, Köln 2000, 151-155, hier 153.

Monika Glettler