Rezension über:

Angelika Marsch / Josef H. Biller / Frank D. Jacob (Hgg.): Die Reisebilder Pfalzgraf Ottheinrichs aus den Jahren 1536/ 37 von seinem Ritt von Neuburg a.d. Donau über Prag nach Krakau und zurück über Breslau, Berlin, Wittenberg und Leipzig nach Neuburg, Weißenhorn: Anton H. Konrad 2000, Bd. 1: Faksimileband: 50 Bildtafeln mit 70 Ansichten von Städten, Residenzen und Burgen in Originalgröße. Bd. 2: Kommentarband: 504 S., 12 Farbtafeln, 108 s/w Abb., ISBN 978-3-87437-440-8, EUR 256,00
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Rezension von:
Jörg Deventer
Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) an der Universität Leipzig
Redaktionelle Betreuung:
Stephan Laux
Empfohlene Zitierweise:
Jörg Deventer: Rezension von: Angelika Marsch / Josef H. Biller / Frank D. Jacob (Hgg.): Die Reisebilder Pfalzgraf Ottheinrichs aus den Jahren 1536/ 37 von seinem Ritt von Neuburg a.d. Donau über Prag nach Krakau und zurück über Breslau, Berlin, Wittenberg und Leipzig nach Neuburg, Weißenhorn: Anton H. Konrad 2000, in: sehepunkte 2 (2002), Nr. 5 [15.05.2002], URL: https://www.sehepunkte.de
/2002/05/2875.html


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Angelika Marsch / Josef H. Biller / Frank D. Jacob (Hgg.): Die Reisebilder Pfalzgraf Ottheinrichs aus den Jahren 1536/ 37 von seinem Ritt von Neuburg a.d. Donau über Prag nach Krakau und zurück über Breslau, Berlin, Wittenberg und Leipzig nach Neuburg

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Das hier anzuzeigende Werk fällt in mehrfacher Hinsicht aus dem Rahmen des Üblichen, und es ist wohl keine Übertreibung, angesichts dieser Bucherscheinung von einer kulturhistorischen Sensation zu sprechen: Mit einem Faksimileband und einem wissenschaftlichen Kommentarband ist nun einer breiteren Öffentlichkeit eine außergewöhnliche Ansichtenfolge zugänglich von Städten, Burgen und Schlössern in Oberbayern, der Oberpfalz, Ober- und Mittelfranken, Böhmen, Schlesien, Polen, Brandenburg, Thüringen und Sachsen aus der 1. Hälfte des 16. Jahrhunderts. Diese stellen auf 43 von insgesamt 50 Bildtafeln die frühesten Darstellungen der auf ihnen wiedergegebenen Orte dar. Bisher waren aus der Zeit vor 1536/37 lediglich die Ansichten der Städte Breslau, Eichstätt, Krakau, Neisse und Prag, die in der 1493 von Hartmann Schedel herausgegebenen Weltchronik abgebildet wurden, und eine Ansicht von Pilsen bekannt. Die Entstehungsgeschichte des Albums geht - wie dem Kommentarband zu entnehmen ist - auf die Reise eines Renaissancefürsten zurück, der einen zum Tross gehörenden Zeichner beauftragt hatte, die an der Reiseroute liegenden Orte in einem Skizzenbuch festzuhalten. Nach der Rückkehr wurden dann die endgültigen Stadtansichten komponiert und ausgearbeitet.

Der prachtvolle Faksimileband enthält 50 zum Teil gefaltete Blätter, auf denen (durch die zum Teil simultane Wiedergabe mehrerer Reisestationen) insgesamt 70 Ortsansichten festgehalten sind. Die Federzeichnungen in einer Größe von ca. 30 x 40 - 86 cm sind mit Aquarell- und Deckfarben koloriert und mit Goldhöhung verziert. Angesichts der Bedeutung dieser Bilder für die stadt-, landes-, kultur- und kunsthistorische Forschung sollen im folgenden die wiedergegebenen Ortsansichten entsprechend dem Routenverlauf vollständig aufgelistet werden[1]:

1. Neuburg an der Donau (Ob.), 2. Sandersdorf (Ob.), 3. Riedenburg (Nb.), 4. Burglengenfeld (Opf.), 5. Schwandorf und Fronberg mit den Burgen Tännisberg, Leuchtenberg und Waldau (Opf.), 6. Nabburg (Opf.), 7. Pfreimd mit den Burgen Wernberg und Pleystein (Opf.), 8. Ehemaliger Pfrentschweiher (Opf.), 9. Haid/Bor mit Pfraumberg/Přimda (Wbö.) und Vohenstrauß (Opf.), 10. Mies/ Stříbro (Wbö.), 11. Pilsen/ Plzeň mit Rokican/ Rokycany und der Burg Radyně (Wbö.), 12. Beraun/ Beroun mit den Burgen Žebrak/ Žebrák und Točnik/ Točník (Mbö.), 13. Prag/ Praha, 14. Nimburg/ Nymburk (Mbö.), 15. Jaroměř und Neu-Bydžow/ Nový Bydžow (Obö.), 16. Nachod/ Náchod (Obö.) mit der Burg Hummel/ Lewińki Zamek (Ns.), 17. Glatz/ Kłodzko (Ns.), 18. Ottmachau/ Otmuchów mit Patschkau/ Paczków (Os.), 19. Neisse/ Nysa (Os.), 20. Zülz/ Biała (Os.), 21. Oberglogau/ Głogówek (Os.), 22. Cosel/ Koźle (Os.), 23. Ujest/ Ujazd (Os.), 24. Beuthen/ Bytom (Os.), 25. Będzin mit Sławków und Olkusz, 26. Krakau/ Kraków, 27. Tost/ Toszek (Os.) und Schloss Balice, 28. Oppeln/ Opole (Os.) und Groß Strehlitz/ Strzelce Opolskie, 29. Brieg/ Brzeg (Ns.), 30. Ohlau/ Oława (Ns.), 31. Breslau/ Wrocław (Ns.), 32. Neumarkt/ Sroda Sląska (Ns.), 33. Liegnitz/ Legnica (Ns.), 34. Polkwitz/ Polkowice (Ns.) mit Freystadt/ Kożuchów Lubuskie (Ns.), 35. Frankfurt an der Oder (Br.), 36. Strausberg und Müncheberg (Br.), 37. Berlin, 38. Treuenbrietzen mit Beelitz (Br.), 39. Wittenberg (Sa.-An.), 40. Bad Düben (Sa.) und Kemberg (Sa.-An.), 41. Leipzig (Sa.), 42. Zeitz (Sa.-An.) mit Pegau (Sa.), 43. Gera mit Schleiz (Thü.), 44. Hof in Bayern mit Bayreuth und Gefrees (Oberfranken), 45. Vilseck mit Auerbach (Opf.) und Creussen (Of.), 46. Sulzbach-Rosenberg mit Amberg (Opf.), 47. Kastl und Neumarkt (Opf.), 48. Heideck (Mf.), 49. Eichstätt (Ob.), 50. "Kastl" - nicht bestimmbare Ansicht.

Der umfangreiche Kommentarband dokumentiert die Forschungsergebnisse einer aufwändigen, fast zehnjährigen detektivischen Kleinarbeit, in deren Verlauf die Reisebilder identifiziert und zahlreiche offene Fragen zur Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte der Ansichtenfolge beantwortet werden konnten. Angelika Marsch, die den Sensationsfund als solchen sofort erkannt hatte, berichtet in der (auch auf polnisch und tschechisch abgedruckten) Einleitung (11-14) von der Entdeckung des Albums in der Universitätsbibliothek Würzburg. Sie war es dann auch, die für die wissenschaftliche Erschließung der Ansichten ein Team von Historikern, Kunsthistorikern und Archivaren aus Deutschland, Tschechien und Polen formierte. Die nur mit Ortsnamen gekennzeichneten Ansichten, die keine Künstlersignatur zeigen, gelangten demnach im Jahre 1803 im Zuge der Säkularisation von der Zisterzienserabtei Ebrach in Franken nach Würzburg. Aus der Übertragung der Namen auf eine Landkarte ergab sich eine Reiseroute in Tagesetappen, deren westlichster Punkt Neuburg an der Donau, der östlichste Krakau, der nördlichste Berlin war. Mithilfe von zwei Datierungskriterien - Wasserzeichen der Papiere, auf den Städtebildern dargestellte Bauwerke - gelang es dann, die Zeit der Entstehung der Ansichten auf den Zeitraum zwischen Oktober 1536 und April 1538 einzugrenzen. Schließlich konnte durch Indizienbeweise die Entstehung der Ansichten mit der in der Literatur kaum bekannten Reise des Pfalzgrafen Ottheinrich nach Krakau im Winter 1536/37 in Verbindung gebracht werden. Zwei Anhaltspunkte ließen die Folgerung zu, dass die Residenz des Pfalzgrafen Ausgangspunkt der Reise gewesen war: zum einen der Zusatz "D.F.S." für "Die Fürstliche Stadt" auf der Inschriftenbanderole, der nur für Neuburg an der. Donau angewandt wird, zum anderen eine auf die Entstehungszeit zurückgehende "1" in der linken Bildecke dieser Ansicht.

In der überblicksartigen Vorstellung der Ansichtenfolge (23-42) liefert Angelika Marsch zunächst Informationen zu Einband und Maßen, zur Papierherkunft, zur Abfolge der künstlerischen Arbeitsabschnitte von der Skizze bis zum farbigen Bild und zum Bildaufbau. Schließlich widmet sie sich der (bis heute ungeklärten) Frage nach dem Künstler, der vermutlich im fränkisch/ schwäbischen Raum beheimatet war und im Kreise der Hofkünstler Ottheinrichs zu suchen ist, die in dieser Zeit an der Ausmalung von Innenräumen der Schlossbauten in Grünau und Neuburg beteiligt waren.

Mitherausgeber Josef H. Biller befasst sich in seinem Beitrag auf der Grundlage von archivalischen Funden im Bayerischen Hauptstaatsarchiv München und im Archiwum Główne Akt Dawnych (Hauptarchiv Alter Akten) in Warschau mit dem Motiv, der Vorbereitung und der Durchführung der Reise des Pfalzgrafen (43-62). Anlass der Polenreise war ein Schuldschein der nicht ausgezahlten Mitgift von Ottheinrichs Großmutter, der polnischen Prinzessin Hedwig (1457-1502), die 1475 Georg den von Bayern-Landshut (1480-1531) geheiratet hatte. Nachdem der ständig geldbedürftige Ottheinrich durch Erbverzicht seiner Tante, der Prinzessin Margarethe von Bayern-Landshut (1480-1531), in den Besitz des auf 32.000 Gulden ausgestellten Schuldbriefs gekommen war, forderte dieser bei seinem Großonkel, dem polnischen König Sigismund dem Älteren (Reg. 1506-1548), die ausstehende Schuld ein. Nach jahrelangem Hinhalten und diplomatischen Sondierungen reiste Ottheinrich in der Gewissheit, den König in seiner Residenz anzutreffen, mit einem Zug von rund 40 Teilnehmern schließlich nach Krakau, wo er nach einer Reisezeit von fast vier Wochen am 24. Dezember 1536 eintraf. Der strapaziöse Ritt zahlte sich aus: König Sigismund legte die Schuldanerkennung in einer Urkunde nieder, die ausstehende Mitgift wurde in acht Raten ausbezahlt.

Dass Ottheinrich für die Rückreise nicht (wie vermutlich geplant) denselben Weg wie für die Anreise nahm, sondern einen großen Umweg über Berlin machte, geht auf die Bitte des amtierenden polnischen Königs zurück, in "heikler Mission" Kurfürst Joachim II. von Brandenburg in Berlin aufzusuchen. Die Frage jedoch, um was für eine diplomatische Mission es sich handelte, harrt noch einer endgültigen Klärung. Biller vermutet Vermittlungsgespräche im Hinblick auf die Konflikte zwischen König Christian II. von Dänemark und dem Deutschen Orden. Durch den Abstecher nach Nordwesten wurde jedenfalls die Reise zu einer Rundtour durch eine europäische Kernregion, der wir nunmehr die frühesten Ansichten zahlreicher Städte verdanken.

Unter Beigabe einer schwarz-weiß- Abbildung der jeweiligen Ansicht und versehen mit Ausschnittvergrößerungen, werden im Katalogteil (85-417) die Bilder der Städte in der Folge der Reiseroute einzeln untersucht. Unter Einbeziehung von Aussagen anderer Quellen und Ergebnissen der lokal- und regionalgeschichtlichen Forschung werden die Ansichten ausführlich beschrieben und auf ihren Realitätswert hin überprüft, der - so das Ergebnis der Einzelanalysen - höchst unterschiedlich ist. Eine Würdigung der einzelnen Artikel, die je nach Quellenlage, Größe und Bedeutung der Orte einen Umfang zwischen drei (Zülz) und zwölf (Prag, Berlin) Seiten haben, würde den vorgegebenen Rahmen einer Rezension sprengen.

Welche Bedeutung kommt der Ansichtenfolge von 1536/37 für die Kunstgeschichte, die Historische Bildkunde und die Realienkunde zu? Diesen Fragen geht Frank-D. Jacob in zwei Beiträgen nach, die dem Katalogteil voran- beziehungsweise nachgestellt sind. In seinem Artikel "Zur Entwicklung der Stadtdarstellung von den Anfängen bis Mitte 16. Jahrhundert" (69-83) bietet Jacob über die Inblicknahme verschiedener Felder des Kunstschaffens einen fundierten Überblick zur Genese und historischen Vielfalt von Stadtansichten. Nach dem Abschreiten wichtiger Stationen auf dem Weg hin zum Zeichnen in der Natur und zu wirklichkeitsgetreuen Stadtdarstellungen seit dem Ende des 15. Jahrhunderts kommt Jacob zu dem Ergebnis, dass der Zeichner der Reisebilder "bereits einer neuzeitlichen Sicht auf die Welt verpflichtet" war. Und fährt fort: "Der einem wesentlichen Teil der Blätter der Ansichtenfolge eigene hohe Grad topografischer Exaktheit und Wirklichkeitstreue stellt sie, abgesehen von rein künstlerischen Gesichtspunkten, neben Dürers Aquarellfolge seiner italienischen Reise oder die Reiseskizzen anderer Künstler"(83).

Welche Fülle an Informationen die Ansichten für die städtische Sozialgeschichte im Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit liefern, macht Jacob in einer quellenkundlichen Betrachtung der Reisebilder deutlich (421-439). Neben wichtigen Erkenntnissen zur Baugeschichte (hier vor allem zu Bauten, die nicht überliefert sind, von denen man nur aus der Literatur Kenntnis hatte oder die wesentlich umgebaut wurden) sind die Ansichten eine ergiebige Quelle unter anderem für die Wirtschafts- (Darstellungen von Land- und Gartenwirtschaft sowie von Gewerbetätigkeit in den Vorstädten), Technik- (Mühlen, Brücken, Kräne, Uhrwerke, Bergwerks- und Hüttenanlagen), Kriminalitäts- (Richtstätten), Kirchen- und Frömmigkeitsgeschichte (Kirchen, Klöster, Kapellen, Spitäler, Bildstöcke).

Die Herausgeber räumen freimütig ein, dass noch viele Fragen - wie etwa nach dem Künstler und nach der diplomatischen Mission Ottheinrichs in Berlin - offen sind. Diese endgültig zu klären, muss der weiteren Forschung vorbehalten bleiben[2]. Dies mindert den Wert des Werkes keineswegs, denn mit der Ansichtenfolge wird ein längst in Vergessenheit geratener mitteleuropäischer Kultur-Schatz gehoben, dessen Bedeutung für die Anfänge historischer Städteansichten und des frühen Landschaftsbildes, vor allem aber für die Kulturgeschichte von Deutschland, Tschechien und Polen, gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.

Anmerkungen:

[1] Die Verwendung der Ortsnamen folgt der von den Herausgebern im Kommentarband (85) gewählten Form: Böhmische und schlesische Ortsnamen werden bei ihrer Erstnennung zweisprachig aufgeführt. Bei den Orten des ehemaligen Königreichs Böhmen sind den tschechischen Ortsnamen die deutschen Namen aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg vorangestellt. Schlesischen Ortsnamen wird der polnische Name nach der Umbenennung 1945 hinzugefügt. Verwendete Abkürzungen: Br. - Brandenburg, Mbö. - Mittelböhmen, Mf. - Mittelfranken, Nb. - Niederbayern, Ns. - Niederschlesien, Ob. - Oberbayern, Obö. - Ostböhmen, Of. - Oberfranken, Opf. - Oberpfalz, Os. - Oberschlesien, Sa. - Sachsen, Sa.-An. - Sachsen-Anhalt, Thü. - Thüringen, Wbö. - Westböhmen.

[2] Siehe jetzt den Tagungsband Pfalzgraf Ottheinrich. Politik, Kunst und Wissenschaft im 16. Jahrhundert, Redaktion Barbara Zeitelhack, Regensburg 2002.


Jörg Deventer