Rezension über:

Dieter Segert: Die Grenzen Osteuropas. 1918, 1945, 1989 - Drei Versuche im Westen anzukommen, Frankfurt/M.: Campus 2002, 339 S., ISBN 978-3-593-37020-0, EUR 39,90
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Rezension von:
Claudia Kraft
Deutsches Historisches Institut, Warschau
Redaktionelle Betreuung:
Winfried Irgang
Empfohlene Zitierweise:
Claudia Kraft: Rezension von: Dieter Segert: Die Grenzen Osteuropas. 1918, 1945, 1989 - Drei Versuche im Westen anzukommen, Frankfurt/M.: Campus 2002, in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 2 [15.02.2003], URL: https://www.sehepunkte.de
/2003/02/3281.html


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Andere Journale:

Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Dieter Segert: Die Grenzen Osteuropas

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Das "kurze 20. Jahrhundert" (Hobsbawm) zeitigte für etliche europäische Staaten gleich mehrere diktatorische beziehungsweise autoritäre Erfahrungen und gewaltsame Herrschaftswechsel. Dem Verfasser geht es aber nicht - wie die drei Jahreszahlen im Titel vermuten lassen könnten - um die Darstellung der jeweiligen punktuellen Epochenumbrüche, sondern um eine strukturelle Beschreibung der Gründe für die Rückständigkeit und eventueller Modernisierungspotenziale einer europäischen Region. Dieter Segert lässt in seinen einführenden Bemerkungen die Problematik einer genauen Bestimmung dessen, was "Osteuropa" ist beziehungsweise sein soll, kurz anklingen, vertieft sich aber dann nicht weiter in die häufig akademischen Diskussionen. Zwar benennt er einerseits den Raum zwischen (West-)Deutschland und Russland als Osteuropa, wobei er auch immer wieder Seitenblicke auf die Entwicklung in der Sowjetunion wirft. Wichtiger als historisch-kulturelle beziehungsweise geografische Trennlinien ist ihm aber die staatssozialistische Erfahrung, die sein Untersuchungsfeld somit von der Elbe bis nach Wladiwostok reichen lässt und auch die balkanischen Staaten einbezieht. Ziel des Verfassers ist es, die zivilisatorischen Leistungen des Staatssozialismus einer kritischen Würdigung zu unterziehen.

Zunächst wird die Krise der Demokratie, die für viele europäische Staaten in der Zeit zwischen den Weltkriegen prägend wurde, betrachtet. Die unterschiedlichen Diktaturerfahrungen in jener Epoche werden von Segert nicht nur als rein chronologische Vorgeschichte für die Etablierung des Sozialismus nach 1945 gesehen. Er betont den modernisierenden Impetus der autoritären Regime und weist auf ihren teilweise traditionalen, teilweise modernen Charakter hin. Mit der zumindest partiellen Einbeziehung der Bevölkerung in das Herrschaftssystem - etwa mittels Staatsparteien in Polen und Ungarn - sieht er bestimmte Entwicklungen der Nachkriegszeit vorweggenommen.

In einem weiteren Schritt analysiert er, warum es überhaupt zu einer Etablierung sozialistischer Systeme in der von ihm untersuchten Region kommen konnte. Dabei hebt er sich wohltuend von präsentistischen Darstellungen ab, die die Geschichte des Sozialismus nur von ihrem Scheitern her betrachten. Der gesellschaftspolitische Wandel in großen Teilen Europas kam nach dem Zweiten Weltkrieg nicht allein mittels der Bajonette Moskaus beziehungsweise als eine Folge der europäischen Nachkriegsordnung von Jalta zu Stande. Die Kriegsereignisse, das politische und sozialreformerische Potenzial des Sozialismus und nicht zuletzt seine Aufstiegsangebote an große Teile der Bevölkerung schufen ein Klima, in dem nur bedingt Zwang zur Etablierung der neuen Gesellschaftsordnung benötigt wurde.

In ähnlichem Tenor kritisiert Segert die nach 1989 vielerorts wieder belebte Totalitarismustheorie, die mit ihrer Überbetonung politisch-ideologischer Aspekte einen differenzierten Blick auf das Funktionieren der sozialistischen Herrschaft verstellt hat. Er fordert eine "Sozialgeschichte der politischen Macht des Staatssozialismus" (101) ein und weist auf zahlreiche Forschungsdesiderate hin. Nicht die dichotomische Gegenüberstellung Regime versus Bevölkerung, sondern die differenzierten Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse beziehungsweise die Kommunikationsprozesse zwischen den Eliten, den "Dienstklassen" und der Bevölkerung interessieren ihn. Dabei spielen einerseits die Interessen der in diesem Machtgefüge agierenden Gruppen eine Rolle, andererseits macht der Verfasser aber auch plausibel, dass es wichtig ist, nach den jeweiligen Identitäten zu fragen. In diesem Zusammenhang weist er darauf hin, dass Ideologie und Zensur neben ihrer Funktion der Herrschaftsstabilisierung längerfristig auf die Bevölkerung einwirkten und einen "vorpolitischen Wahrnehmungs- und Wertungsrahmen" (129) schufen, der prägend für Wünsche und Handlungen wurde. In dem sozialen Kräftefeld des Staatssozialismus war jedoch das Einwirken des Staates auf die Bevölkerung durch Ideologie und Zensur - beziehungsweise vor allem in seiner Frühzeit durch Terror - keine Einbahnstraße. Insbesondere seit den Sechzigerjahren reagierten die politischen Eliten zunehmend auf Forderungen der Bevölkerung, was mancherorts zur Entstehung eines "Konsumsozialismus" führte. Die damit kurzfristig stabilisierte Herrschaft wurde auf lange Sicht untergraben, da diese Politik gesellschaftliche Ansprüche legitimierte, die augenscheinlich von den westlichen Staaten besser befriedigt werden konnten.

Bei der Betrachtung des Zusammenbruchs des Staatssozialismus in Osteuropa plädiert der Verfasser für eine differenzierte Betrachtung der jeweiligen systemimmanenten Mechanismen, die zum Ende der sozialistischen Herrschaft beitrugen. Exemplarisch führt er mit der Analyse der Rolle der Reformkommunisten, der Wirtschaftsreformbestrebungen der Sechzigerjahre sowie der Bedeutung der Kulturpolitik für den Systemwandel vor, wie eine solche Betrachtung jenseits des die Länder und die jeweiligen Wirkungsursachen homogenisierenden Blicks der Totalitarismustheorie aussehen kann. Für die Zeit nach 1989 stellt Segert die in manchen Ohren sicher ketzerisch klingende Frage, welche Entwicklungspotenziale die staatssozialistische Erfahrung für den dritten Anlauf zur Demokratisierung in Osteuropa zur Verfügung stellt. In der vergleichenden Betrachtung mit der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen kommt er zu dem Ergebnis, dass die Erfolgsaussichten für die dauerhafte Etablierung einer demokratischen Ordnung in den Staaten Osteuropas im Vergleich zum Jahr 1918 deutlich gestiegen sind. Die Schlussfolgerung, "dass das Erbe einer eindeutig nichtdemokratischen Ordnung die Demokratie in erheblichem Maße gefördert hat" (275), bedarf jedoch sicher noch längerfristiger Analysen, die vor allem den Bereich der politischen Kultur im postkommunistischen Europa genauer in den Blick nehmen.


Claudia Kraft