Rezension über:

Michael Brocke / Aubrey Pomerance / Andrea Schatz (Hgg.): Neuer Anbruch. Zur deutsch-jüdischen Geschichte und Kultur (= minima judaica; Bd. 1), Berlin: Metropol 2001, 339 S., ISBN 978-3-932482-77-9, EUR 20,00
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Rezension von:
Marcus Pyka
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Marcus Pyka: Rezension von: Michael Brocke / Aubrey Pomerance / Andrea Schatz (Hgg.): Neuer Anbruch. Zur deutsch-jüdischen Geschichte und Kultur, Berlin: Metropol 2001, in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 3 [15.03.2003], URL: https://www.sehepunkte.de
/2003/03/1704.html


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Michael Brocke / Aubrey Pomerance / Andrea Schatz (Hgg.): Neuer Anbruch

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In Zeiten schwindender Finanzmittel mag es zunächst einmal wie ein besonders gewagtes Unternehmen erscheinen, wenn das Duisburger Salomon Ludwig-Steinheim Institut für deutsch-jüdische Geschichte mit den "minima judaica" eine neue Publikationsreihe eröffnet, die "sich aus den Erträgen judaistischer Arbeit vor allem jüngerer Forscherinnen und Forscher speisen soll" (9), wie der Mitherausgeber Michael Brocke in der Einleitung hervorhebt. Dass es sich - zumindest in dem jetzt vorliegenden ersten Band - jedoch um ein äußerst viel versprechendes Unternehmen handelt, soll hier gerne vorweg festgestellt werden. Gerade die von Brocke zurecht auch als "Anbrüche" (10) bezeichneten 'Erstlinge' erweisen sich als ausgesprochen anregend.

Besonders erfreulich ist dabei der oftmalige Bezug auf die Verbindungen zwischen jüdischer Geschichte und Kultur sowie derjenigen ihrer nichtjüdischen Umgebung, was nachdrücklich belegt, wie breit auch in der deutschen Judaistik mittlerweile die Trends in den Jewish Studies Amerikas und Israels rezipiert und fortgeführt werden. Dies wird deutlich etwa in Lucia Raspes Untersuchung zur Regensburger Sankt-Emmerams-Überlieferung und ihren Verbindungslinien zu den Legenden um Amram von Mainz. Wenngleich die Amrams-Erzählung in der Forschung als das nachgerade klassische Beispiel für die Übernahme christlicher Motive in der jüdischen Legende gilt, so gelingt es Raspe doch, bislang nicht oder zu wenig berücksichtigte Aspekte dieses Falles aufzuzeigen, denen nachzugehen auch für die allgemeine Frömmigkeitsgeschichte des aschkenasischen Judentums fruchtbar sein könnte (Stichwort Heiligenverehrung). Mit ihren Quellen aus dem 16. Jahrhundert - dem jiddischen Majsselbuch und der hebräischen "Schalschelet ha-Qabbalah" des Gedalja ibn Jachja -, die dankenswerterweise im Anhang zu ihrem Aufsatz synoptisch abgedruckt sind, repräsentiert Raspe zudem einen weiteren Pluspunkt des hier zu besprechenden Sammelbandes: dessen weiten zeitlichen Rahmen. Denn wenngleich auch hier ein deutlicher Schwerpunkt auf der Zeit der jüdischen Aufklärung (der Haskalah) und dem 19. Jahrhundert liegt, so sind zudem die allzu oft vernachlässigten Epochen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit wenigstens vertreten. Wobei Birgit Klein mit ihrer Untersuchung zu den Transformationen des Levi ben Chajim von Bonn (um 1600) vom "Hofjuden" zum Metzger in der jüdischen Literatur sowie Frauke von Rohden mit ihrer Frage nach den Geschlechterrollen im "Brantshpigl" des Moses Henochs Altschul (1596) klar zeigen, welche Möglichkeiten die Frühe Neuzeit judaistischen Arbeiten zu bieten vermag. Nicht allein wegen des oftmals noch unerschlossenen Quellenmaterials. Denn auch scheinbar altbekannte Quellen sind längst nicht ausgeschöpft, wie Inka Arroyos anregende Ausführungen zur Autobiografik in der hebräischen Literatur dieser Epoche offenbaren. Mit ihrem Plädoyer für die Aufgabe der Genre-Diskussion zu Gunsten eines offeneren Begriffs 'autobiografischer Modus' vermag sie nicht nur neues Material zu erschließen, sondern eröffnet im Anschluss an Überlegungen Yael Feldmans und Daniel Boyarins neue Perspektiven, die auch für andere Epochen und Literaturgattungen weiterführend sein könnten.

Ein weiteres Beispiel für die fruchtbare Auseinandersetzung mit Ansätzen aus den Literaturwissenschaften und Cultural Studies gibt Andrea Schatz, die sich - ausgehend von den Hybriditäts-Überlegungen etwa eines Homi K. Bhabha - mit den Konzepten von Reinheit und Vermischung der Berliner Maskilim (jüdischen Aufklärer) beschäftigt. Hierbei kommt sie zu differenzierten Ergebnissen, die sich deutlich von denjenigen der noch gar nicht so alten 'älteren' Forschung (Gilman, aber auch Michael A. Meyer) absetzen. Ähnliches gilt für Margit Schads Beitrag über Michael Sachs als Prediger, für Tina Frühaufs Analyse eines Orgel-Präludiums von Louis Lewandowski, oder auch für Thomas Kollatz' Untersuchung, wie die neo-orthodoxe Wochenzeitung "Treue Zionswächter" mit den Auswirkungen der 1848er-Revolution umging. Aus vorgefundenen Elementen sowohl jüdischer Tradition als auch der christlich-deutschen Umgebungskultur wurde jeweils etwas Neues geschaffen, das sich der eindeutigen Zuordnung und Etikettierung ("deutsch" oder "jüdisch", "orthodox" oder "assimilatorisch") entzieht. Daher ist es mehr der zeitgenössische Umgang mit diesen Phänomenen, der die heutige Forschung interessieren muss. Doch beschränken sich die Beiträge nicht auf diese - mittlerweile an und für sich nicht mehr gar so umstürzende - Erkenntnis, sondern gehen oftmals einen Schritt weiter. Gleichsam als Schibbolet für diese und andere Studien führt Luise Hirschs Beitrag als Obertitel die Parole: "Assimilation ist keine Einbahnstraße". Hirsch kann zeigen, in welchem Maße Jüdinnen als die Pionierinnen für das Frauenstudium in Deutschland wie in der Schweiz zu gelten haben - und damit eben auch auf ihre christlichen Zeitgenossinnen ausstrahlten, die sich zumindest in diesem Punkte regelrecht an die Jüdinnen assimilierten. Wenngleich dies wohl ein Extremfall darstellt, so handelt es sich nichtsdestoweniger um ein bemerkenswertes Beispiel dafür, dass das Judentum in Mitteleuropa eben doch auch nach außen gewirkt hat und nicht bloß ein rezipierendes, sich assimilierendes und reagierendes Objekt der Geschichte gewesen ist.

Ergänzt wird der Band durch ein Personenregister sowie ein Abkürzungsverzeichnis. Wenn der Gesamt-Reihe ein weiteres Publikum gewonnen werden soll, als dies die jeweilige Fachwelt darstellen kann, dann wäre es freilich wünschenswert, auch die Siglen der Traditionsliteratur in einem entsprechenden Verzeichnis aufzulösen oder wenigstens einen Hinweis auf eine der einschlägigen Aufstellungen anzufügen, da sonst wohl doch Belege wie bAZ (für Babylonischer Talmud, Traktat Avodah zarah) dem nicht judaistisch ausgebildeten Leser gar zu kryptisch erscheinen dürften. Doch abgesehen von dieser Marginalie kann der Reihe nach ihrer erfolgreichen Eröffnung nur eine entsprechende Fortsetzung gewünscht werden.


Marcus Pyka