Rezension über:

Jan Tomasz Gross: Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne, München: C.H.Beck 2001, 196 S., 29 Abb., 2 Karten, ISBN 978-3-406-48233-5, EUR 18,50
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Rezension von:
Stephanie Kowitz
Hamburg
Redaktionelle Betreuung:
Marcus Pyka
Empfohlene Zitierweise:
Stephanie Kowitz: Rezension von: Jan Tomasz Gross: Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne, München: C.H.Beck 2001, in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 6 [15.06.2003], URL: https://www.sehepunkte.de
/2003/06/1934.html


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Jan Tomasz Gross: Nachbarn

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Im Mai 2000 erscheint ein historischer Essay des amerikanischen Soziologen Jan Tomasz Gross auf dem polnischen Buchmarkt, der den Titel "Sąsiedzi. Historia zagłady żydowskiego miasteczka" - "Nachbarn. Die Geschichte der Vernichtung eines jüdischen Ortes" trägt. Der Autor stellt darin die These auf, dass die jüdische Bevölkerung von Jedwabne im Sommer 1941 durch ihre katholischen Nachbarn ohne deutsche Anstiftung ermordet worden sei. Mit diesem Buch wird eine Debatte ausgelöst, wie sie Polen bislang nicht erlebt hat. Es werden Fragen nach dem bisherigen Umgang mit der eigenen Vergangenheit laut und das Verhalten gegenüber den ethnischen Minderheiten im Land diskutiert. Das bisherige Selbstverständnis Polens und die historische Opferrolle des polnischen Volkes werden mit dieser Diskussion infrage gestellt.

Dieses Buch liegt im April 2001 in englischer Sprache beim amerikanischen Princeton Verlag vor und wird als "Neighbours. The Destruction of the Jewish Community in Jedwabne, Poland" herausgegeben. Im September erscheint es beim Münchner Beck Verlag, der es unter dem Titel "Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne" mit einem Vorwort des polnischen Publizisten als Übersetzung aus dem Englischen veröffentlicht. Die Aufmerksamkeit, die diesem Buch in Polen, aber auch in den Vereinigten Staaten und in Deutschland geschenkt wird, ist auf die provokanten Thesen des Autors sowie seine methodische Vorgehensweise zurückzuführen.

Der Soziologe Jan Tomasz Gross wendet sich in seiner Arbeit von der historisch-kritischen Methode des Historikers ab und fordert zu einem neuen Umgang mit den Quellen auf: "Als erstes schlage ich vor, unsere Haltung zu den Quellen über diese Zeit zu ändern. Wenn es um die Aussagen von Überlebenden geht, wären wir gut beraten, bei der Bewertung ihres Beitrags zur Tatsachenfeststellung nicht von vornherein eine kritische, sondern eine grundsätzlich positive Haltung einzunehmen. Wenn wir das, was wir in einer bestimmten Darstellung lesen, solange als Tatsache akzeptieren, bis wir überzeugende Gegenargumente finden, werden wir mehr Fehler vermeiden, als wir sie wahrscheinlich begehen werden, wenn wir die entgegengesetzte Haltung einnehmen, nämlich jeder Aussage mit vorsichtiger Skepsis zu begegnen, bis eine unabhängige Bestätigung ihres Inhalts gefunden wurde" (101).

Das Ziel von Gross ist es, einen neuen Zugang zu den Quellen zu gewinnen, das heißt den Inhalt historischer Aussagen ohne historisch-kritische Untersuchungen anzuerkennen und auszuwerten. So stützt er sich bei seiner Schilderung der Ereignisse vor allem auf den Bericht des Augenzeugen und überlebenden Juden Szmul Wasersztajn aus dem Jahr 1945 und die Akten der Prozesse in Łomża aus den Jahren 1949 und 1953, das 1980 veröffentliche Memorbuch der Juden aus Jedwabne sowie den 1998 von Agnieszka Arnold gedrehten Dokumentarfilm, der aus Interviews mit Einwohnern aus Jedwabne zusammengesetzt ist.

Auf der Grundlage dieses Quellenmaterials berichtet der Autor über die Ermordung der jüdischen Bevölkerung des ostpolnischen Ortes Jedwabne am 10. Juli 1941. Diese Tat ereignet sich in den Tagen des Machtvakuums zwischen dem Ende der sowjetischen Besatzung und dem Einmarsch deutscher Truppen im Sommer 1941. Nach einigen Vorfällen an den vorangegangenen Tagen werden die jüdischen Bewohner des Ortes am Morgen jenes Julitages zunächst auf dem Marktplatz zusammengetrieben. Hier werden einige von ihnen gezwungen, eine Leninbüste zu zerstören und Teile der Büste über den Platz zu tragen. Anschließend treibt man sie in einer Scheune zusammen und verbrennt sie darin bei lebendigem Leib. Dieses Ereignis ordnet der Autor in den Kontext der polnisch-jüdischen Beziehungen ein, insbesondere in die Zeit zwischen dem Einmarsch der russischen Truppen in Ostpolen im Herbst 1939 bis zu deren Abzug im Sommer 1941 und dem folgenden Einmarsch der deutschen Wehrmacht.

Jan Tomasz Gross ruft mit zwei provokanten Thesen den Widerstand seiner Kritiker hervor. Zum einen behauptet er, dass die gesamte Bevölkerung des Ortes direkt oder indirekt an der Ermordung der jüdischen Bevölkerung beteiligt gewesen sei. "Unerträglich war also nicht nur der Anblick dessen, was den Juden angetan wurde. Entsetzlich waren auch die Schreie der gequälten Menschen und der Geruch ihrer brennenden Leiber. [...] Somit waren alle, die damals im Städtchen waren und über einen Gesichts-, Geruchs- oder Gehörsinn verfügten, entweder Tatbeteiligte oder Zeugen des qualvollen Sterbens der Jedwabner Juden" (69). Nach Ansicht von Gross geht es nicht um vereinzelte Täter oder eine radikale Randgruppe der Gesellschaft, deren Verhalten von den anderen Einwohnern missbilligt oder schweigend geduldet worden sei, sondern um die gesamte Bevölkerung von Jedwabne. Da es sich bei den Ereignissen vom 10. Juli 1941 nicht um einen Einzelfall handelt, bezichtigt der Autor die gesamte Gesellschaft Polens einer antijüdischen Grundhaltung. Doch nicht nur die polnische Gesellschaft, auch nachfolgende Generationen von Historikern sitzen in diesem Buch auf der Anklagebank. Sie werden beschuldigt, die Ereignisse in Jedwabne bewusst zu verstecken oder zu verschweigen.

In dieser Art der Darstellung der Ereignisse vom Sommer 1941 ruft der in Warschau geborene Soziologe dazu auf, zu einer neuen Sichtweise der polnisch-jüdischen Beziehungen und der Vernichtung des europäischen Judentums zu gelangen. "Der Massenmord an den Jedwabner Juden rückt die Geschichte der polnisch-jüdischen Beziehungen während des Zweiten Weltkrieges in ein neues Licht. Die Beruhigungsmittel, die uns im Zusammenhang mit diesem Thema über fünfzig Jahre lang von Historikern und Journalisten verabreicht wurden, müssen beiseite gelegt werden. Es stimmt einfach nicht, dass allein die Deutschen während des Krieges in Polen Juden umbrachten [...] Nach Jedwabne ist es nicht mehr möglich, das Problem der polnisch-jüdischen Beziehungen während des Krieges mit solchen gängigen Formeln zu erledigen. Wir müssen die Geschichte Polens nicht nur in der Kriegs-, sondern auch in der Nachkriegszeit neu überdenken und bestimmte Interpretationen, die als Erklärung für Ereignisse, Einstellungen und Institutionen jener Jahre weithin akzeptiert sind, einer neuen Bewertung unterziehen" (100).

Mit dieser Forderung stößt Jan Tomasz Gross in Teilen der polnischen Gesellschaft auf heftige Kritik und löst einen allgemeinen wie wissenschaftlichen Diskurs aus, der auf breiter Ebene in der polnischen Presse ausgetragen wird. Hauptkritikpunkte von Historikern sind seine mangelnde historische Methodik, die eingeschränkte Berücksichtigung von Quellenmaterial sowie die zu hoch angesetzte Zahl der Opfer. Trotz eingehender Untersuchungen durch das Institut zum Nationalen Gedenken - Instytut Pamięci Narodowe - kann jedoch eine Beteiligung deutscher Soldaten an der Tat nicht nachgewiesen werden.

Auch wenn eine Reihe von Kritikpunkten sicherlich berechtigt ist, stellt dieses Buch einen wichtigen Beitrag zur jüngsten Forschung über die Shoah dar. Es bricht das klassische Schema von Opfern und Tätern in der Zeit des Zweiten Weltkrieges auf und kann zu einer Neubewertung der polnisch-jüdischen Beziehungen beitragen. Eine der wichtigsten Arbeiten, die in den letzten Jahren zur Vernichtung des europäischen Judentums in Polen erschienen ist.

Stephanie Kowitz