Rezension über:

Mary Jo Nye (ed.): The Modern Physical and Mathematical Sciences (= The Cambridge History of Science; Vol. 5), Cambridge: Cambridge University Press 2003, XXIX + 678 S., ISBN 978-0-521-57199-9, GBP 65,00
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Rezension von:
Arne Schirrmacher
Münchner Zentrum für Wissenschafts- und Technikgeschichte
Redaktionelle Betreuung:
Martina Heßler
Empfohlene Zitierweise:
Arne Schirrmacher: Rezension von: Mary Jo Nye (ed.): The Modern Physical and Mathematical Sciences, Cambridge: Cambridge University Press 2003, in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 7/8 [15.07.2003], URL: https://www.sehepunkte.de
/2003/07/2806.html


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Mary Jo Nye (ed.): The Modern Physical and Mathematical Sciences

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In den Geschichtswissenschaften gehören die großen Synthesen von jeher zum Repertoire ihrer führenden Repräsentanten. Für die Wissenschaftsgeschichte scheint dies anders zu sein. Hier könnte man die Frage stellen, ob die Zeit für solch große Synthesen schon vorbei oder noch gar nicht gekommen ist. Nun sind die ersten beiden der auf acht Bände angelegten "The Cambridge History of Science" erschienen, die sich den modernen Wissenschaften widmen: "The Modern Physical and Mathematical Sciences" und der Schwesterband "The Modern Social Sciences", auf den hier nicht eingegangen werden kann.

Das Vorwort der Serienherausgeber scheut sich nicht, mit Verweis auf die hundert Jahre zurückliegende "Cambridge Modern History" einen hohen Anspruch zu formulieren: Ziel sei "an authoritative, up-to-date account of science [...] that even nonspecialist readers find engaging". Wert legt man auch auf die Feststellung, der Band sei "[w]ritten by leading experts from every inhabited continent". Dieser Auftritt legt gleich eine ganze Reihe von Fragen nahe: Kann die neue "Cambridge History of Science" diesem Anspruch als Standard setzendes Werk gerecht werden? Welche Lücke schließt sie? Garantieren die Autoren aus allen besiedelten Kontinenten eine global gültige Synthese, oder zerfällt das Unternehmen in eine Sammlung unterschiedlichster Perspektiven? Und für ein deutsches Publikum ist auch die Frage von Belang, welche Relevanz dem Werk für die hiesige Wissenschaftsgeschichte in Forschung und Lehre zukommt.

Dass der Band keine Geschichte der physikalischen und mathematischen Wissenschaften ist - weder im Singular einer durchgängigen Darstellung aller relevanten Entwicklungen noch als große Erzählung -, wird schnell aus dem Inhaltsverzeichnis klar. Die 33 lose auf sechs Teile aufgeteilten Kapitel haben weder eine stringente chronologische oder disziplinäre Ordnung, noch schließen sie in einem anderen Sinn nahtlos aneinander an. Die Wissenschaftshistoriographie der letzten Dekade, so die Herausgeberin des Bandes, habe sich zurecht quer zu den traditionellen Genres von Ideen- und Institutionsgeschichten (oder gar Biografien) neu ausgerichtet: Praktiken der Wissenschaft und dichte lokale Kontexte sind Beispiele für neue Blickrichtungen. Ein neuer Standard der Wissenschaftshistoriographie hat sich daraus offenkundig nicht herausgebildet. So begnügt sich der vorliegende Band damit, eine Tugend zu machen aus seiner "variety of investigative and interpretative strategies, which together demonstrate the fertile complementarity in history of science and science studies of insights and explanations from intellectual history, social history, and cultural studies" (2).

Der Weg durch diese Vielfalt, der dem Leser durch die inhaltliche Aufteilung empfohlen wird, ist jedoch recht beschwerlich: Mit den in den Kapiteln des ersten Teils dargelegten Theorien der wissenschaftlichen Methodik, der Beziehungen von physikalischen Wissenschaften zu westlicher Religion, der Rolle von Frauen in der Physik oder der Rezeption dieser Wissenschaft in der Literatur wird kaum ein attraktiver Einstieg in die Wissenschaftsgeschichte ermöglicht. Einzig das Kapitel über Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert wäre geeignet, als geschickter Türöffner zu dienen, würde sich der Text nicht ausschließlich auf England beschränken.

Die wirklichen Qualitäten der Beiträge erschließen sich dem Leser am Besten, wenn er den Band als Handbuch betrachtet, das zu den aufgenommenen Themen Überblicke gibt und auf weiterführende Literatur verweist. Aus dieser Perspektive kann jeder einzelne der 33 Beiträge als Musterbeispiel guter Wissenschaftsgeschichte dienen, wofür nicht zuletzt die Auswahl führender Autoren gesorgt hat, die häufig auf einschlägige eigene Monografien zurückgreifen konnten. Aber ist dabei wirklich mehr als ein guter Sammelband herausgekommen?

Die fünf Kapitel des zweiten Teils über Disziplinentstehung werden Erwartungen an eine Geschichte der Wissenschaften eher gerecht: Die Entwicklung der Mathematik wird durch die Bildung mathematischer Schulen und Netzwerke sowie nationaler Traditionen sozialhistorisch beleuchtet. Die moderne Astronomie erweist sich als gekoppelt an eigenständige Entwicklungstendenzen ihrer Instrumentierung. Chemie als Disziplin lässt sich durch die Einigung auf eine gemeinsame Beschreibungssprache charakterisieren. Weniger um das Ingenieurwesen als Disziplin als vielmehr um sein Rolle innerhalb - so die aktuelle Bezeichnung - nationaler Innovationssysteme geht es bei dem Vergleich der Grundlagen für die Industrieleistungen in Deutschland, England, Frankreich und den USA. Daneben wirkt das abschließende Kapitel zur Rolle der visuellen Vorstellungen innerhalb der modernen Atomphysik eher als Anhängsel.

Der eigentliche Einstieg in die Geschichte wissenschaftlicher Inhalte beginnt im dritten Teil über Chemie und Physik bis in die frühen 1900er-Jahre. Die Physikalisierung der Biowissenschaften und die Entzauberung des Vitalismus durch die neuen kognitiven Ressourcen aus der Physik und Chemie werden erklärt. Atomismus, Klassifikation und chemische Struktur stehen im Mittelpunkt der folgenden zwei Kapitel. Eine konzise Übersicht über die Lichttheorien des 19. Jahrhunderts, die Entwicklung der Spektroskopie bis zur Entdeckung neuer Strahlungen schließt sich an.

Wie wenig die Integration der Beiträge häufig durchgeführt wurde, zeigen die folgenden beiden Beiträge von Crosbie Smiths ("Force, Energy, and Thermodynamics") und Bruce C. Hunt ("Electrical Theory and Practice in the Nineteenth Century"). Beide erzählen die Geschichte von James Clark Maxwell zwischen 1856 und 1862. Während Smith den ersten Artikel Maxwells von 1856 in die "Cambridge 'kinematical' research tradition" (305) einreiht, da er die elektrischen Erscheinungen mit hydrodynamischen Modellen zu erklären versuchte, fehlt dieser Kontext zwölf Seiten später bei Hunt vollständig, und das Reflexionsniveau fällt auf die Darstellung des ingeniösen Wissenschaftlers Maxwell zurück. Es bleibt also dem Leser überlassen, Smiths Maxwell als Mitglied einer Bewegung von "North British physicists and engineers" (301) mit dem Wirken der Einzelperson bei Hunt in Einklang zu bringen, die als "one of the towering figures of nineteenth century physics" (317) einen eigenen Weg zur elektromagnetischen Theorie gefunden hatte. In Maxwells wichtigster Erkenntnis, dass Licht mit elektrischen und magnetischen Erscheinungen in Zusammenhang steht, sind sich beide Autoren einig; so sehr, dass sie dasselbe Zitat bemühen. Der Umstand wiederum, dass der eine aus dem Original, der andere aus dem Wiederabdruck in den "Scientific Papers" zitiert, zeigt erneut die mangelnde Koordination zwischen den Artikeln und das Fehlen einheitlicher Regeln für den Nachweis aus Quellen.

Welche Lücke die "Cambridge History" schließen kann, wird am ehesten deutlich, wenn man den 1990 in London erschienen "Companion to the History of Modern Science" zum Vergleich heranzieht. Er erweist sich als offensichtliches Vorbild, das der Cambridger Nachbar in der Strukturierung seines Inhaltes aber nicht erreicht (Der etwa doppelte Umfang erfasst in 67 Kapiteln auch die Biowissenschaften und die gesamte Neuzeit.). Bereits im "Companion" finden sich zudem vergleichbare Beiträge, im Fall des Themas Energie sogar vom selben Autor. Daher kann die "Cambridge History" über weite Strecken als Neuauflage des "Companion" gelesen werden. Aber es ist eine sehr lohnende Neuauflage, die das Ausmaß der in der letzten Dekade durchgeführten Forschung schlaglichtartig beleuchtet. Ihr Verdienst ist es daher vor allem, die umfangreiche neuere Forschung in verdaulicher Form zugänglich zu machen. Damit eignet sich der Band (wie sein Vorbild) aber wohl erst für fortgeschrittene Studenten der Wissenschaftsgeschichte. Als Alternative bietet sich lediglich die auch auf Deutsch erhältliche und von Michel Serres herausgegebene Studie "Elemente einer Geschichte der Wissenschaften" an (französisches Original 1989). Im Vergleich spiegelt der neue Band eine gewisse Verschiebung der Perspektive der Wissenschaftshistoriographie wider: Waren die Vorgänger auf der Suche nach "Verzweigungen" (Serres) oder "turning points" ("Companion"), entdeckt die "Cambridge History" vermehrt die zum Teil versteckten Kontinuitäten, die sich in der institutionellen, aber auch materiellen Kultur der Wissenschaften finden.

Solche Kontinuitäten finden sich auch in den Themen der übrigen Teile IV bis VI, die als kontextualisierte Fach- und Problemgeschichten präsentiert werden. Das Spektrum deckt dabei Fachgebiete von der Quantentheorie bis zur Chemie der Makromoleküle oder von der mathematischen Funktionentheorie bis zur Kosmologie oder Informatik ab. Abgerundet wird die Vielfalt durch Beiträge, die die Zusammenhänge zwischen Wissenschaft und Krieg, totalitären Ideologien oder auch der Umweltproblematik herstellen.

Das in der Wissenschaftsgeschichte wiederholt gescheiterte Projekt einer mehrbändigen integrativen Geschichtsschreibung (George Sarton, René Taton) ist auch für die "Cambridge History of Science" nur durch eine Metamorphose in eine Vielzahl von patchwork-Geschichten gelungen. So ist das größte Manko des besprochenen Bandes wohl sein Anspruch und Titel. Als "Companion" oder Review-Band sollte er aber in keinem Bücherregal fehlen, das die moderne und in schneller Wandlung befindliche Wissenschaftsgeschichte griffbereit halten will. Für die zahlreichen behandelten Themen bietet das Buch ausgezeichnete Dokumente des derzeitigen Forschungsstandes, die aktueller sind, als es der ehrwürdige Einband glauben macht.

Arne Schirrmacher