Rezension über:

Martin Kemp: Bilderwissen. Die Anschaulichkeit naturwissenschaftlicher Phänomene. Übersetzungen und Ergänzungen für die deutsche Ausgabe von Jürgen Blasius, Köln: DuMont 2003, 280 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-8321-7139-1, EUR 39,90
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Rezension von:
Barbara Orland
Institut für Geschichte, Eidgenössische Technische Hochschule Zürich
Redaktionelle Betreuung:
Martina Heßler
Empfohlene Zitierweise:
Barbara Orland: Rezension von: Martin Kemp: Bilderwissen. Die Anschaulichkeit naturwissenschaftlicher Phänomene. Übersetzungen und Ergänzungen für die deutsche Ausgabe von Jürgen Blasius, Köln: DuMont 2003, in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 9 [15.09.2003], URL: https://www.sehepunkte.de
/2003/09/2706.html


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Martin Kemp: Bilderwissen

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In den frühen 1840er-Jahren konstruierte der britische Physiker Charles Wheatstone diverse Maschinen, die alle einem Ziel folgten: Als "philosophisches Spielzeug" sollten sie Aha-Erlebnisse auslösen über physikalische Phänomene, von denen man sich bis dahin kein Bild machen konnte. Mit didaktischer Raffinesse ging Wheatstone daran, optische, akustische und elektrotechnische Bewegungen zu visualisieren, nicht nur um die Tauglichkeit einer Theorie zu überprüfen, sondern auch um - wie er schrieb - bei jungen Menschen Freude an den verborgenen Wundern der Natur zu wecken.

Auch Martin Kemps kleine Stücke über die visuelle Welt der Naturwissenschaften sind philosophische Maschinen. Sie regen zur Reflexion über die enorme Vielseitigkeit an, mit der zahllose Visualisierungstechniken ihre Aufgaben der Gewinnung und Vermittlung von Einsichten über die Natur erfüllen. Als Kunsthistoriker musste Kemp nicht erst von der Auffassung überzeugt werden, dass visuelle Darstellungsformen in der modernen Wissenschaft eine überragende Rolle spielen. Unter Zuhilfenahme seiner methodischen Mittel ging er stattdessen unbefangen daran, die wissenschaftliche Bildsprache zu betrachten - mit überraschenden Ergebnissen.

Die mitgeteilten Einsichten sind so zufällig wie die studierten Bildobjekte, dennoch fehlt dem Buch jede Form eines unangenehmen Eklektizismus. Verblüffenderweise, wie Kemp selbst zugibt, zeigt die nachträgliche Zusammenstellung der aus Kolumnen für das Wissenschaftsmagazin "Nature" zusammengewachsenen Sammlung von zwei bis drei Seiten umfassenden Essays einige grundlegende Ähnlichkeiten in den Darstellungsweisen der modernen Wissenschaften und den Visualisierungsstrategien der Kunst seit der Renaissance bis heute. So verweigert sich Kemp jeder Form der Polarisierung zwischen Wissenschaft und Kunst, die den Wissenschaftlern ein systematisches und nach den Regeln logischer Analyse vorgehendes Visualisieren von Naturphänomenen nachsagt, während Künstler dagegen ihren Intuitionen und Imaginationen folgen. "Auch in den strengsten Wissenschaften sind in jedem Stadium der Forschung und der Veröffentlichung ihrer Ergebnisse Tiefenstrukturen der Intuition am Werk, deren Funktionsweise oft als ästhetischen Kriterien gehorchend beschrieben werden kann" (14). Im "eleganten Experiment", im "schönen Beweis" würden qualitative Ansprüche an das Erscheinungsbild der Ergebnisse formuliert, die einen Vergleich mit der Kunst nicht zu scheuen bräuchten.

Umgekehrt ist Kemp zufolge das aus Leidenschaft und Instinkt getriebene Schöpfertum der Kunst ebenfalls mehr Mythos denn Realität. Mag viele Künstler der exakte Beweis auch nicht interessieren, so ist bei ihnen dennoch "jeder Akt des Sehens ein potenzieller Akt der Analyse." Die größten Künstler seien immer bestrebt gewesen, die Natur auf der Grundlage rationalen Verstehens nachzubilden. Das in der Renaissance entwickelte Projektionssystem der Linearperspektive, die korrekte Wiedergabe von Lichteffekten durch Schatten und Farbmodulation sowie das Wissen um die den Naturformen zu Grunde liegenden Strukturen (beispielsweise der Anatomie) sind handlungsleitend gewesen. Es ist daher nicht überraschend, dass von Leonardo da Vinci bis zu den Künstlern des Naturalismus der direkte Dialog mit den zeitgenössischen Wissenschaften eine große Rolle spielte. Viele Künstler, so gegenwärtig Jonathan Callan, verfügen über tiefe physikochemische Kenntnisse und lassen sie bei der Produktion ihrer Werke einfallsreich zum Einsatz kommen. Sie inszenieren Situationen, in denen der Wirkung eines chemischen Mediums freien Lauf gelassen wird.

Das "Vermischen der Dinge" hat Kemp denn auch als Ordnungsprinzip seinen Essays zu Grunde gelegt. Eine grobe chronologische Abfolge der gezeigten Bildobjekte soll seiner Auffassung Nachdruck verleihen, dass Künstler und Wissenschaftler in verschiedenen Epochen gleichen kulturspezifischen Einflüssen unterliegen. Jedoch ist sie nicht das dominierende Strukturprinzip. Kemp hat seine Stücke vielmehr in zehn Themenbereiche (unter anderem Mikrokosmen, Raumansichten, Mensch und Tier) aufgeteilt, die ihm selbst wichtig erschienen. Von der Naturgeschichte und Medizin über Physik, Mathematik, Astronomie und Chemie reicht das Spektrum der wissenschaftlichen Bildobjekte bis zu Geowissenschaften, Zoologie oder Botanik. Die Liste der berücksichtigten Kunstwerke ist nicht minder beeindruckend und berücksichtigt Werke von Leonardo da Vinci, Jan Vermeer, Salvador Dali oder Max Ernst und Gustav Metzger.

Zu Stande gekommen ist durch die persönliche Auswahl ein Gang durch die Geschichte der modernen Rhetorik wissenschaftlicher Bildsprache, ohne den Anspruch von Vollständigkeit erheben zu wollen. Doch mindert das nicht den Wert des überdies vorzüglich editierten Buches. Nicht zuletzt durch seine gründlichen Kenntnisse der technischen Verfahren, die in den behandelten Epochen dominierten und die an einzelnen Objekten ausführlich beschrieben werden, erweist sich Kemp als Meister der kleinen Form.

Barbara Orland