Rezension über:

Andreas W. Vetter: Gigantensturz-Darstellungen in der italienischen Kunst. Zur Instrumentalisierung eines mythologischen Bildsujets im historisch-politischen Kontext, Weimar: VDG 2002, 470 S., 174 s/w-Abb., ISBN 978-3-89739-299-1, EUR 52,40
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Rezension von:
Kirsten Lee Bierbaum
Kunsthistorisches Institut, Universität zu Köln
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Kirsten Lee Bierbaum: Rezension von: Andreas W. Vetter: Gigantensturz-Darstellungen in der italienischen Kunst. Zur Instrumentalisierung eines mythologischen Bildsujets im historisch-politischen Kontext, Weimar: VDG 2002, in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 9 [15.09.2003], URL: https://www.sehepunkte.de
/2003/09/2772.html


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Andreas W. Vetter: Gigantensturz-Darstellungen in der italienischen Kunst

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Mit seiner Dissertation über Gigantensturz-Darstellungen in der italienischen Kunst hat Andreas W. Vetter ein bislang gänzlich vernachlässigtes Thema zum Gegenstand einer umfassenden und fundierten Analyse gemacht. Vetter stellt die ikonologische Deutung des Gigantensturzes im Sinne einer Warnung vor politischem, religiösem oder moralischen Hochmut und ihre Einordnung in den historischen Kontext des Kunstwerks in den Mittelpunkt der Untersuchung. An insgesamt 44 Beispielen zeichnet Vetter die lange Tradition politisch-sozialer Instrumentalisierung des Sujets von seinen Anfängen in Literatur und Kunst der Antike bis zu seiner Auflösung mit dem Ende der Adelskultur im 18. Jahrhundert nach. Dabei finden die Werke Giulio Romanos, Perino del Vagas und Giovanni Antonio Pordenones in jeweils eigenen Kapiteln besonders ausführliche Würdigung. Die detaillierten Erörterungen der historischen Umstände, die als Grundlage für die Interpretation der einzelnen Beispiele herangezogen werden, verleihen der Untersuchung insgesamt einen enzyklopädischen Charakter. Übergreifende Fragestellungen zu künstlerischen oder historisch-politischen Diskursen, die einzelne Werkreihen verbinden könnten, werden aber weitestgehend ausgeklammert.

Im Eingangskapitel untersucht Vetter zunächst die Ursprünge des Gigantenmythos in der Antike. Schon in antiken Texten und Bildwerken stellt er auch später maßgebliche Eigenschaften in der Ausformulierung des Themas sowie eine politische Instrumentalisierung fest. Die Rezeption des Themas in Mittelalter und Renaissance ergänzte die politische Deutungsdimension um eine christlich-moralische als "Bestrafung frevelhafter, bis zur Negierung Gottes reichender Selbstüberschätzung" (25). Da aus dem Altertum keine bildkünstlerischen Werke überliefert waren, prägten vor allem die Übersetzungen der antiken Texte die neuzeitlichen Vorstellungen des Gigantenmythos. Ab circa 1520 lassen sich zwei sehr unterschiedliche Darstellungen des Gigantensturzes nachweisen (Beccafumis Deckenfresko im Palazzo Venturi in Siena und Pordenones Kuppelfries in Sta. Maria di Campagna in Piacenza), die allerdings noch innerhalb größerer Bildprogramme eine untergeordnete Bedeutung zeigen.

Um 1530 entstehen dann fast zeitgleich drei meisterhafte, monumentale Dekorationszusammenhänge, die alle den "Kampf der Giganten" in den Mittelpunkt ihrer Schilderungen rücken: Giulio Romanos "Sala dei Giganti" im Palazzo del Te in Mantua, Perino del Vagas "Salone della Caduta dei Giganti" im Palazzo Doria in Genua und Antonio Giovanni Pordenones Fassadenfresko am Palazzo Tinghi in Udine. Aus der gründlichen Untersuchung der jeweils spezifischen historischen Umstände der einzelnen Gigantensturz-Darstellungen leitet Vetter die Erklärung für die Wahl des Themas und seine differenzierte Interpretation ab. Neben seinen ergänzenden Erkenntnissen zur Ikonographie der Werke begreift Vetter vor allem den Facettenreichtum der Deutungsebenen als zentrale Dimension des Mythos: "Die Komplexität der Assoziationen, die das Gigantensturz-Fresko auf verschiedenen Ebenen mit Rang und politischem Einfluss des Hausherrn verbindet, wurde in der kunsthistorischen Literatur bislang nicht bemerkt. [...] Dem gebildeten Betrachter der Zeit erschloss sich indes die Vielschichtigkeit der hier vorgeschlagenen Deutung des Gigantensturz-Freskos als differenzierte Selbstdarstellung des Auftragebers"(143). So erstrecken sich nach Vetter die Möglichkeiten einer politischen Instrumentalisierung des Giganten-Mythos vom Problem der Machtlegitimation über eine Parallelisierung regionaler und internationaler politischer Konflikte bis zur Beschwörung kultureller Utopien. Entsprechend unterteilt er die Werke, die er im Folgekapitel "Die Verbreitung des Gigantensturz-Themas" behandelt in vier ikonographische Untergruppen mit den Überschriften "Der Gigantensturz in Bezug auf ein konkretes historisches Ereignis, [...] im Dienste der Legitimation und Repräsentation einer sozialen oder machtpolitischen Stellung, [...] in seiner ethisch-moralischen Deutung und [...] als Triumph von Zivilisation und Kultur über die ungebändigten Kräfte der Natur". Eine solche Kategorisierung verhindert allerdings aufgrund der schwer durchschaubaren Chronologie, stilgeschichtliche Entwicklungslinien auszumachen, die ohnehin in Vetters Analyse unberücksichtigt bleiben. Im Hinblick auf die von Vetter selbst betonte, den Gigantensturz-Darstellungen immanente Bedeutungsvielfalt erscheint diese Unterteilung ebenfalls nicht einsichtig. Auch die dreiseitige Schlussbetrachtung mit Verweisen auf die zeitliche Abfolge der geografischen Verbreitung des Sujets gibt in dieser Hinsicht keine konkreten Anhaltspunkte.

Der Leser vermisst nach den ausführlichen Beschreibungen des historischen Kontexts einzelner Gigantensturz-Darstellungen zusammenfassende Fragestellungen. Eine doch interessante Frage wäre, wie es sein kann, dass nach Jahrhunderten fast ohne bildkünstlerische Formulierung des Sujets plötzlich drei riesenhafte Dekorationszusammenhänge zum Gigantensturz nahezu gleichzeitig entstehen. Wie ist diese plötzliche Popularität des Themas zu erklären? Vetter weist bei jedem der drei Werke auf die Nähe zum kulturellen Umfeld Karls V. hin. Der Kaiser eignete sich später das Gigantensturz-Motiv als Imprese an und ließ sich sogar eine Medaille mit einer Gigantensturz-Darstellung auf dem Revers anfertigen. Die genauen Zusammenhänge zwischen der Verbreitung des Gigantensturz-Motivs und der politischen Geografie der Allianzen Karls V. werden aber nicht näher erörtert.

Formal ist die Untersuchung gut wie ein Handbuch zu gebrauchen: Die Auflistung der behandelten Werke im Anhang mit je einer stichpunktartigen Zusammenfassung der wichtigsten Fakten erleichtern den gezielten Zugriff auf Informationen zu den einzelnen Gigantensturz-Darstellungen. Gerade bei den weniger bekannten Werken kann der Leser so von der erstklassigen Recherchearbeit Vetters profitieren. Für die drei Meisterwerke des Themas bietet Vetters Dissertation eine ebenso verlässliche Zusammenfassung der Forschungsliteratur und Bibliografie. Die oft schönen Beschreibungen und anschaulichen Schilderungen der historischen Situation werden jedoch manchmal durch stilistische Unsicherheiten verkompliziert.

Vetter nutzt seine ausführliche und genaue Recherchearbeit leider nicht für eine Analyse, die noch stärker synthetisierend vorgeht und übergreifende Schlussfolgerungen entwickelt. Als Basisliteratur und Nachschlagewerk zum Thema des Gigantensturzes wird Vetters Dissertation aber sicher reges Interesse finden.

Kirsten Lee Bierbaum