Rezension über:

Sylvia Kesper-Biermann: Staat und Schule in Kurhessen 1813-1866 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 144), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001, 404 S., ISBN 978-3-525-35950-1, EUR 42,00
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Rezension von:
Reiner Prass
Universität Erfurt
Redaktionelle Betreuung:
Joachim Eibach
Empfohlene Zitierweise:
Reiner Prass: Rezension von: Sylvia Kesper-Biermann: Staat und Schule in Kurhessen 1813-1866, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001, in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 9 [15.09.2003], URL: https://www.sehepunkte.de
/2003/09/3127.html


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Sylvia Kesper-Biermann: Staat und Schule in Kurhessen 1813-1866

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In den letzten Jahrzehnten hat die Historische Bildungsforschung dank ihrer sozialhistorischen Erweiterung einen großen Aufschwung erlebt. Neben Lebens- und Unterrichtsbedingungen des Lehrpersonals widmet sie nun auch den äußeren Rahmenbedingungen des Schulwesens große Aufmerksamkeit. In diese fruchtbare Forschungstradition reiht sich Sylvia Kesper-Biermanns Giessener Dissertation zur Geschichte des Schulwesens in Kurhessen ein. Ihr besonderes Augenmerk gilt dem Einfluss des Staates auf die Schulen - für den gewählten Zeitraum, die Jahre von 1813 bis 1866, eine berechtigte Perspektive, denn in dieser Zeit begann der Übergang von der kirchlichen Kontrolle, die noch bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts dominierte, zur vollständigen Eingliederung des Schulwesens in den Staatsapparat in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Sylvia Kesper-Biermann formuliert insgesamt vier Themenkomplexe, in denen sie die Entwicklung des Schulwesens untersuchen will: Erstens fragt sie nach den staatlichen Aktivitäten; zweitens betrachtet sie die Schule als Bestandteil der Gesellschaft und fragt nach Gruppen, die mit dem staatlichen Regelungsanspruch konkurrierten. Ferner beabsichtigt sie das Schulwesen in die allgemeine soziale, politische und wirtschaftliche Entwicklung einzubetten und ordnet viertens durch Vergleiche mit anderen deutschen Staaten das kurhessische Schulwesen in die allgemeine Schulentwicklung ein. Um es gleich vorweg zu nehmen: die Punkte 1 und 4 löst sie ein, bei Punkt 2 gelingt ihr dies nur zum Teil und Punkt 3 wird - von politischen und verwaltungshistorischen Entwicklungen abgesehen - nur kurz abgehandelt. Ihre Ausführungen konzentrieren sich auf Elementarschulen und Gymnasien; Realschulen und berufsspezifische Ausbildungsanstalten berücksichtigt sie leider nicht. Für beide Schultypen behandelt Kesper-Biermann über die bereits dargelegten Fragen hinaus die innere und äußere Entwicklung der Schulen sowie Ausbildung, Entlohnung und Selbstbewusstsein der Lehrer.

Der Zugriff des kurhessischen Staats auf die Volksschulen und die Gymnasien erfolgte in drei unterschiedlichen Phasen. Zu Beginn standen Versuche, mit mehreren Einzelmaßnahmen das Schulwesen umzugestalten, doch diese waren nicht von einem übergreifenden Konzept geleitet. Die eigentliche Periode staatlicher Umgestaltung des Schulwesens lag in der Zeit zwischen 1830 und 1848. Auch wenn es nicht gelang, eine allgemeine Schulordnung zu erlassen, vermochten die Staatsbehörden dennoch, durch eine Reihe von Verordnungen das Schulwesen umfassend neu zu regeln. Nach 1848 wurde schließlich die "zuvor geschaffene Organisation des Bildungswesens" (350) überprüft, modifiziert und differenziert. Bei der Integration von Gymnasien und Elementarschulen in den staatlichen Verwaltungsapparat sind große Unterschiede zu erkennen. Die sechs kurhessischen Gymnasien wurden zu staatlichen Anstalten, und der Staat übernahm vollständig ihre Finanzierung, weil die Gymnasien die gesellschaftliche Elite und die staatlichen Führungsgruppen ausbildeten. Ganz anders sah es hingegen bei den Elementarschulen aus. Zwar beanspruchte der Staat auch für sie einen weitgehenden Regelungsanspruch, aber er war nicht bereit, ihre Finanzierung vollständig zu übernehmen. Die Gemeinden sollten einen Großteil der Lehrerbezahlung tragen, ohne dass ihnen ein, der finanziellen Belastung entsprechendes, Mitspracherecht zugestanden wurde. Da das Kasseler Oberappellationsgericht die Kommunen in ihrem Widerstand gegen diese Politik unterstützte, zahlte der kurhessische Staat ab den 1830er-Jahren einen Teil der Elementarschullehrerbesoldung. Seine vollständige Finanzierung übernahm er aber bis 1866 ebenso wenig wie er den Elementarschullehrern auch keinen Beamtenstatus gewährleistete.

Insgesamt vermag Kesper-Biermann deutlich zu zeigen, welche generellen Veränderungen im frühen 19. Jahrhundert zur Verbesserung des Unterrichts führten. Damit leistet sie einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der modernen Gesellschaft, die ohne eine grundlegende Umgestaltung des Schulwesens nicht hätte entstehen können. Wenn sie jedoch aus dem allgemeinen staatlichen Regelungsanspruch und seiner vergleichsweise hohen Beteiligung an der Finanzierung des Schulwesens ableitet, dass Kirchen wie Gemeinden ihren zuvor dominierenden Einfluss verloren haben, ist dieses Urteil einer zu sehr zentralstaatlichen Perspektive geschuldet. Ihrer Darstellung der allgemeinen Entwicklung stellt sie leider keine Fallstudien der Schulwirklichkeit in einzelnen Gemeinden an die Seite, in denen sie die realen Einflussnahmen von Staat, Kirche, Gemeinden und Eltern auf den Schulalltag hätte darstellen können. Positiv hervorzuheben ist ihr Vergleich mit anderen deutschen Staaten, der jeden Schritt ihrer Darstellung gleichsam automatisch begleitet. Hierdurch kann der Leser die Geschichte des kurhessischen Schulwesens besser einordnen, er kann ihren Anteil an den allgemeinen Entwicklungen wie auch ihre Besonderheiten erkennen. Die abschließend formulierte These eines eigenständigen "mittelstaatlichen Modells des Bildungswesens" (358) überzeugt allerdings nicht. Die im Vergleich zu Preußen früher einsetzende Vollfinanzierung der Gymnasien und der vergleichsweise hohe Anteil an der Besoldung der Elementarschullehrer genügt nicht, um ein eigenes Modell zu rechtfertigen, wie auch der von ihr angeführte Einfluss des Landtags auf die Schulentwicklung hierfür zu gering war. Richtig und wichtig ist jedoch der Hinweis, dass die gegenüber Preußen um 20 Jahre später einsetzende Reform des Schulwesens der Normalfall in den deutschen Staaten war. Es wäre zu wünschen, dass dieser Studie noch weitere Arbeiten folgen, die unsere Kenntnisse über die Ausgestaltung des modernen Schulwesens im 19. Jahrhundert vertiefen.

Reiner Prass