Rezension über:

Markus Klein / Jürgen W. Falter: Der lange Weg der Grünen. Eine Partei zwischen Protest und Regierung (= Beck'sche Reihe), München: C.H.Beck 2003, 228 S., 1 Tabelle, 39 Abb., ISBN 978-3-406-49417-8, EUR 12,90
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Rezension von:
Anna-Katharina Wöbse
Universität Bielefeld
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Anna-Katharina Wöbse: Rezension von: Markus Klein / Jürgen W. Falter: Der lange Weg der Grünen. Eine Partei zwischen Protest und Regierung, München: C.H.Beck 2003, in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 10 [15.10.2003], URL: https://www.sehepunkte.de
/2003/10/3316.html


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Markus Klein / Jürgen W. Falter: Der lange Weg der Grünen

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Auf der giftgrünen Titelseite zeichnet sich im Gegenlicht die Silhouette eines Mannes ab, der, in einer Hand ein Mikrofon, mit seinem Arm leicht nach rechts oben weist: Joschka Fischer im Rampenlicht - Symbol des äußeren und inneren Wandels sowie der steilen Karriere der grünen Partei. Ihm verdankt das Buch der Sozial- beziehungsweise Politikwissenschaftler Markus Klein und Jürgen W. Falter auch den Titel, der Historikerinnen und Historiker zunächst stutzen lässt: "Der lange Weg der Grünen". Angesichts der nur 23-jährigen Geschichte der Partei von einem "langen Weg" zu sprechen, scheint gewagt. Allerdings wollen die Autoren weniger auf die Zeitspanne als vielmehr auf Qualität und Dynamik der Veränderung hinweisen, die ihres Erachtens Fischer verkörpert, und zitieren quasi aus dem Titel der Fischer-Biografie "Der lange Lauf zu mir selbst" (1999).

Falter und Klein wollen die Geschichte der grünen Partei von ihren Ursprüngen bis zu ihrem Erfolg bei der Bundestagswahl 2002 skizzieren und dabei die Frage klären, ob sie - wie Joschka Fischer - 'zu sich selbst' gefunden hat oder "ob sie sich mittlerweile nur noch in der Farbe des Parteilogos von ihren politischen Konkurrenten" (9) unterscheidet. Wie haben sich das politische Profil und die Wählerklientel durch die Jahrzehnte verändert? Die Quellenlage ihres "empirischen Essays" profitiert von der Tatsache, dass die Gründung der Grünen mit dem Beginn der "Dauerbeobachtung der bundesrepublikanischen Gesellschaft durch repräsentative Meinungsumfragen" (10) zusammenfiel.

Allerdings spielt die Demoskopie in den ersten fünf der insgesamt elf Kapitel zunächst eine untergeordnete Rolle. Vielmehr wird hier (leider nur sporadisch mit Literatur belegt) die grüne Partei im zeithistorischen Rahmen der 1960er bis 1980er-Jahre verortet. Gerade diese Rückblende gerät zum Teil etwas grobkörnig. Eine Analyse der Partei als Phänomen der bundesrepublikanischen Gesellschaft tritt hinter die Suche nach einer genuin grünen Wählerschaft zurück. Man erhält gleichsam im Zeitraffer einen Überblick über die vielfältigen Wurzeln und Impulse, aus denen sich die Partei seit Beginn der 1980er-Jahre formierte. Schon allein die Besetzung der Spitzenplätze eines grünen Listenbündnisses zu den Europawahlen 1979 erinnert an die Heterogenität und Offenheit, welche die "Alternativen" zu Beginn ihrer politischen Formierung auszeichneten: der konservative Herbert Gruhl war dort ebenso zu finden wie Petra Kelly und der Künstler Joseph Beuys. Unter der Rubrik "Umwelt" fanden sich hier nationalkonservative, bürgerlich-ökologische und linke Gruppierungen zusammen.

1980 wurde schließlich in Karlsruhe die Bundespartei gegründet - 1998 stimmte der Parteitag dem Eintritt in die Bundesregierung zu. Aus der politischen Peripherie kommend, geprägt durch die Erfahrungen des Wertewandels der späten 1960er-Jahre und sozialisiert in den neuen sozialen Bewegungen, war die Partei mit 18 Jahren augenscheinlich erwachsen geworden und "damit erfolgreich im Zentrum der Macht angekommen" (51). In dem Kapitel "Grabenkämpfe" schildern Falter und Klein sehr anschaulich, wie die unterschiedlichsten linken Gruppen und Strömungen die Identitätsfindung der Partei prägten und wie sich Realos zu Fundis verhielten: Die 1980er-Jahre waren noch ein Jahrzehnt der "Häutungen" gewesen. Spätestens mit dem Zusammenbruch des "real-existierenden Ostblock-Sozialismus" (61) waren die radikaleren Strömungen der Partei diskreditiert und die "Bandbreite der vernünftiger- und realistischerweise zu diskutierenden politischen Optionen deutlich eingeengt". 1990 schaffte die Partei nicht den Sprung in den Bundestag - eine bittere Wahlniederlage, die eine Professionalisierung der Parteiarbeit und eine "klare reformpolitische Orientierung" (62) zur Folge hatte.

Zu den spannenden Ansätzen von Falter und Klein gehört der Versuch, die Geschichte der Grünen als Generationengeschichte zu lesen. Die inneren Auseinandersetzungen und der stetig neu auszuhandelnde Balanceakt zwischen alten Idealen und politischem Alltag beziehungweise Machtinteresse werden hier ebenso transparent wie die diversen Erneuerungsprozesse. Den Autoren gelingt es, mit einer Mischung aus Binnensicht und distanzierter Überschau eine klare Struktur für die Entwicklungsphasen der Grünen zu entwerfen. Die Analyse der verschiedenen Grundsatzprogramme untermauert ihr Strukturmodell. Diktion und Duktus haben sich durch zwei Jahrzehnte grundlegend gewandelt. War das Programm des Jahres 1980 ein eher detailverliebtes, provokatives und ideologisch geprägtes Papier, so ist das Programm des Jahres 2002 ein "in sich geschlossenes Gesamtkonzept grüner Politik" geworden, das "die durch die Regierungsbeteiligung erforderlich gewordenen Kompromisse und Kurskorrekturen" (85) widerspiegelt.

Diese Erkenntnisse mögen noch wie wissenschaftlich fundierte Allgemeinplätze wirken. Relevanz gewinnt das Buch durch seinen Versuch, die Wählerschaft und ihr Wahlverhalten genauer zu analysieren, um daraus zukünftige Entwicklungslinien abzuleiten. Von zentraler Bedeutung ist die These von der "Ergrauung" der Grünen. Die Entwicklung der Partei "weg von radikal-systemoppositionellen Politikentwürfen hin zu eher pragmatischen-reformerischen Konzepten" (161) entspräche demnach den individuellen Etablierungsprozessen der Wählerschaft: Kurzum - so wie sich die ehemals jungen, teils radikalen Linken allmählich beruflich und wirtschaftlich etablierten, etablierte sich auch "ihre" Partei.

Keiner scheint diesen Aufstieg und Wandel so zu verkörpern wie Joschka Fischer, der nach Falter und Klein "mittlerweile offensichtlich die Kernidentität der Grünen ausmacht" (177). Seinem Lebenslauf widmen die Autoren denn auch ein eigenes Kapitel, das sehr plastisch die Bedeutung lebensbiografischer Verhältnisse für die politische Entwicklung vermittelt. "Womöglich war es die zeitliche Parallelität der privaten und politischen Metamorphose, die Fischer in den Augen der Bevölkerung so glaubwürdig erscheinen ließ" (190), lautet eine Erklärung für die erstaunliche Popularität des heutigen Außenministers. Die Autoren machen eine durch diese Popularität bedingte Erpressbarkeit der Partei aus. Da sie aber andere Größen wie Renate Künast, Christian Ströbele oder den sich formierenden Nachwuchs außer Acht lassen, fehlt der These die Einordnung in größere Kontexte. Das Gleiche gilt für die Überlegung, die Grünen seien ein temporär begrenztes Projekt, da die Partei von den Interessenlagen (alternder) Akademikerinnen und Akademiker geprägt und folglich für jüngere Generationen wenig attraktiv sei, sodass der Anteil der Jungwählerinnen und Jungwähler entsprechend abnehmen werde. Hier fehlt der Vergleich mit dem Jungwählerverhalten anderer Parteien sowie der allgemeine Umbruch in der Politikwahrnehmung jüngerer Generationen. Das Charakteristikum der Krise, die den Grünen attestiert wird, ist zum Teil etwas verkürzt aus den (üblichen) Wandlungsprozessen und Diskursen im Parteileben abgeleitet.

Obwohl man sich gelegentlich die Einordnung in einen größeren politischen Raum wünschen mag, bietet das Buch einen spannenden und vor allem gut lesbaren Überblick über 20 Jahre grüner Geschichte. Die Deutungsangebote sind vielfältig und dank der Synthese von empirischer Interpretation und zeithistorischen Verweisen sehr zugänglich.

Anna-Katharina Wöbse