Rezension über:

Steffen Bruendel: Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die "Ideen von 1914" und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg, Berlin: Akademie Verlag 2003, 403 S., ISBN 978-3-05-003745-5, EUR 49,80
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Rezension von:
Peter Hoeres
Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität, Münster
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Peter Hoeres: Rezension von: Steffen Bruendel: Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die "Ideen von 1914" und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg, Berlin: Akademie Verlag 2003, in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 11 [15.11.2003], URL: https://www.sehepunkte.de
/2003/11/3011.html


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Steffen Bruendel: Volksgemeinschaft oder Volksstaat

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Zahlreiche geschichtswissenschaftliche Studien haben sich mit den "Ideen von 1914" beschäftigt, und so musste Steffen Bruendel beim Korreferenten seiner Bielefelder Dissertation, Hans-Ulrich Wehler, erst einmal Überzeugungsarbeit leisten, um sein Projekt einer Ideengeschichte der deutschen Gelehrten im Ersten Weltkrieg in Angriff nehmen zu können. Das hat sich bezahlt gemacht, denn viele Arbeiten zu diesem Komplex fallen hinter einmal gewonnene Erkenntnisse zurück, bilden sich etwas auf ihre angebliche höhere moralische Einsicht ein oder erschöpfen sich in den immergleichen Zitatenkompilationen. Bruendel hat dagegen geholfen, dass er in seinem Ansatz auf den Bielefelder Fakultätsheiligen Max Weber zurückgegriffen hat. Das versachlicht und distanziert die eigenen Bemühungen, geeignete Voraussetzungen, um den Wissenstand zu erweitern.

Eines der Probleme, das sich jedem Erforscher des an sich unzulässig verkürzt "Ideen von 1914" genannten Ideenkomplexes stellt, ist die Ordnung und Selektion der Textmassen. Bruendel wählt hier 150 Gelehrte der geisteswissenschaftlichen Fächer und der Jurisprudenz und Nationalökonomie aus, die Kriterien der Auswahl sind freilich nicht hinreichend transparent. Immerhin haben 3000 Hochschullehrer die apologetische "Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches" vom 16. Oktober 1914 unterzeichnet, und ein Großteil dieser Gelehrten wurde auch publizistisch aktiv. Hier stellen sich ungeklärte Fragen der Repräsentativität von Bruendels Gelehrten.

Bruendel beginnt, und das ist unabdingbar, mit der Eröffnung des "polemischen Gesprächs" (Jürgen von Ungern-Sternberg) durch die alliierten Intellektuellen, allen voran Henri Bergson. In der Folge geht der Gesprächscharakter des Krieges der Geister etwas verloren - das ist der Preis für Bruendels Fokussierung auf die deutsche Publizistik. Diese war zunächst Reaktion auf die alliierten Schuldvorwürfe des Militarismus, des Hunnen- und Barbarentums. Die deutschen Gelehrten antworteten mit einer positiven Umdeutung des Militarismusbegriffs und dem Vorschlag einer Aufhebung, im hegelschen Sinn des Wortes, der Ideen von 1789. Nicht Chauvinismus, Maßlosigkeit und unversöhnliche Feindschaft gegen die Entwicklung des Westens standen im Vordergrund, wie oft fälschlich kolportiert, sondern das Ringen um zukunftsträchtige Ordnungsideen. Hier bildeten sich zwei Gruppen heraus: während die Erste, kleinere das Modell eines konstitutionellen Volksstaates favorisierte, plädierte die Zweite für eine korporative Volksgemeinschaft. Im Sommer 1916, von Bruendel wohl etwas zu genau datiert, polarisierten sich diese Lager und fanden in der 1917 gegründeten Vaterlandspartei und im Volksbund für Freiheit und Vaterland ihre institutionellen Verankerungen.

Was die innenpolitischen Zukunftsmodelle betrifft, differenziert Bruendel für die zweite Kriegshälfte drei Lager: Die stetig Zulauf vom akademischen Establishment bekommende Gruppe der Volksstaat-Befürworter setzten nun klar auf Demokratisierung und Parlamentarisierung. Die schwindende Zahl der Anhänger der "Ideen von 1914" hielt an der Idee einer inklusiven Volksgemeinschaft fest und die sich radikalisierende dritte Gruppe nahm die innenpolitische Feindschaft gegen die Minderheiten auf, sie vertrat die exklusive Volksgemeinschaftsidee. Allen drei Gruppen war ihre Modernität gemeinsam, keine wollte zum Status quo ante zurück. Bruendel argumentiert von daher sehr überzeugend, dass das "lange" 19. Jahrhundert bereits 1914 zu Ende ging. Ab diesem Jahr stand die alte Ordnung zur Debatte, wurde sie zunehmend, auch von rechts, delegitimiert.

Bruendels zweites Ergebnis ist die Herausarbeitung der Polyvalenz der "Ideen von 1914". Sie boten rechts wie links Anschlussmöglichkeiten. Dass letztlich die Rechte erfolgreicher auf sie Bezug zu nehmen verstand, obgleich ihr Erfinder, der Nationalökonom Johann Plenge, im Dritten Reich zur Persona non grata wurde, darf nicht den Blick des Historikers auf diese Polyvalenz verstellen. Deshalb wendet sich Bruendel entschieden gegen vorschnelle Kontinuitätsbehauptungen zum Nationalsozialismus.

Ein weiterer Aspekt in Bruendels Arbeit ist bedenkenswert. Die nicht enden wollenden Bemühungen in der Forschung, das so genannte "Augusterlebnis" zu destruieren, sollten durch ein Moratorium aufgehalten werden. Denn Bruendel führt zu Recht aus: "Es führt [...] nicht weiter, wenn die Ausnahmesituation des August 1914 unter Hinweis auf die unterschiedlichen zeitgenössischen Erfahrungen dekonstruiert und als 'Legende vom Augusterlebnis' rückwirkend gewissermaßen annulliert wird. Ohne die reale Erfahrung kollektiver Erregung, ohne die wechselnden Gefühlslagen, ohne Ängste und Hoffnungen hätte der Mythos allgemeiner Begeisterung nicht konstruiert werden können, wäre die Konstruktion des August-Erlebnisses nicht möglich gewesen" (70). Gerade im Zeichen der neuen Kulturgeschichte sollte die Wahrnehmung des Augusterlebnisses beachtet werden und weniger die Kundgebungsteilnehmer in sämtlichen Städten und Dörfern des Reiches ausgezählt werden.

Trotz des herausgestrichenen Ertrags von Bruendels Studie sind einige Punkte zu kritisieren. Nicht ganz folgen kann man Bruendel in der auch anderenorts aufgestellten These, ein eindeutiger Hauptfeind sei von den Deutschen nicht zu identifizieren gewesen. In der Regel war es doch die "Brudernation" England, die als gefährlichster und schärfster Feind galt. In der Analyse der Kant- und Fichterezeption geht Bruendel, wie viele vor ihm, fehl. Fichtes Universalismus wurde eben gerade nicht ausgeblendet, sondern erfreute sich einer Integration in deutsche Sendungsmodelle. Auch Kant wurde, wie Bruendel im Anschluss an Flasch meint, weniger als "Utopist des ewigen Friedens"[1] kritisiert, sondern vielmehr als Stifter einer von Deutschland herbeizuführenden Friedensordnung adaptiert. Nicht nur Schücking konnte sich so positiv auf Kants Friedensschrift berufen (180).[2] Hier wird die schon von denn deutschen Zeitgenossen heftig kritisierte Sombart-Schrift "Händler und Helden" pars pro toto genommen. Bruendel entgeht dieser Falle ansonsten dadurch, dass er für die einzelnen Topoi immer mehrere Belege anführt. Ein aufwändiges Verfahren, das manchmal zulasten der tiefer gehenden Auslotung der Gedankenführung einzelner Gelehrter geht. Tönnies und Natorp sind im Übrigen kaum zum "nationalliberalen Spektrum" (70) zu zählen.

Trotz dieser Kritik bleibt festzuhalten: der Auftakt zur Historisierung des "Krieges der Geister" zwischen 1914 und 1918 ist gemacht. Im Vergleich zur Forschungslage zu den Wissenschaften im Zweiten Weltkrieg bleibt noch viel aufzuholen.

Anmerkungen:

[1] Kurt Flasch: Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg. Ein Versuch, Berlin 2000, 71.

[2] Vgl. Peter Hoeres, "Kants Friedensidee in der deutschen Kriegsphilosophie des Ersten Weltkrieges" in: Kant-Studien 93 (2002), 84-112.

Peter Hoeres