Rezension über:

Andrea Bendlage: Henkers Hetzbruder. Das Strafverfolgungspersonal der Reichsstadt Nürnberg im 15. und 16. Jahrhundert (= Konflikte und Kultur - Historische Perspektiven; Bd. 8), Konstanz: UVK 2003, ISBN 978-3-89669-729-5, EUR 34,00
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Rezension von:
Joachim Eibach
National University of Ireland, Galway
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Joachim Eibach: Rezension von: Andrea Bendlage: Henkers Hetzbruder. Das Strafverfolgungspersonal der Reichsstadt Nürnberg im 15. und 16. Jahrhundert, Konstanz: UVK 2003, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 3 [15.03.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/03/4400.html


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Andrea Bendlage: Henkers Hetzbruder

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Die obrigkeitlichen Büttel in den Städten waren ungehobelt und brutal, unzuverlässig und korrupt. Ihr notorischer Ruf rückte sie in die Nähe der unehrlichen Berufe. Sie waren Außenseiter, die am Rande der stadtbürgerlichen Lebenswelt ein kärgliches Dasein fristeten. Mit solchen Dienern konnte der Rat unmöglich seine obrigkeitlichen Verordnungen in die Praxis umzusetzen. Der Beitrag des niederen 'Polizeipersonals' zu den einschlägig diskutierten Transformationsprozessen wie Staatsbildung und Sozialdisziplinierung ist damit äußerst fragwürdig.

Die Bielefelder Dissertation von Andrea Bendlage hat es sich zum Anliegen gemacht, diese gängigen Urteile der älteren und jüngeren Forschung über das Sicherheits- und Strafverfolgungspersonal in den Städten zu überprüfen. Als Beispiel dient die Reichsstadt Nürnberg im 15. und 16. Jahrhundert. Das patrizisch beherrschte Nürnberg, das in dieser Zeit seinen Höhepunkt an Macht und Ansehen erlebt, genießt unter Kriminalitätshistorikern einen durchaus prominenten Ruf. [1] Die Nürnberger Archive zeichnen sich durch eine sehr gute Quellenlage aus. Und angesichts einer Vielzahl überlieferter Ratsverordnungen aus dem Spätmittelalter überrascht es nicht, wenn der Schlüsselbegriff 'Policey', wie Bendlage anmerkt, im deutschen Sprachraum erstmals in Nürnberger Quellen aus dem Jahr 1464 zu finden ist (26). Die Autorin geht prosopografisch vor und wendet damit eine im Hinblick auf obrigkeitliches Personal - manche würden hier bereits von 'Staatsdienern' sprechen - im Spätmittelalter bewährte Methode an. Ihre wichtigsten Quellen sind Ordnungs- und Eidbücher sowie die so genannten Ratsverlässe des inneren Rats der Stadt. Die Arbeit gliedert sich in drei Teile. In Teil 1 werden Leitlinien der Sicherheits- und Personalpolitik des Rats im Allgemeinen beschrieben. Teil 2 untersucht die Praxis der Strafverfolgung im Nürnberg des 16. Jahrhunderts. Teil 3 ist der Herkunft, sozialen Lage und beruflichen 'Karriere' der Bediensteten gewidmet.

Von Inhalt und Ansatz her ist die Untersuchung im Kontext der Historischen Kriminalitätsforschung zu verorten. Gegen die Bevorzugung normativer Quellen und die affirmativ-etatistische Perspektive der älteren Rechtsgeschichte werden die Praxis und zeitgenössische Wahrnehmungen der Akteure fokussiert. Kriminalität und Strafjustiz der Städte Alteuropas sind in der internationalen Forschung ein bevorzugtes Thema. In der kulturhistorisch ausgerichteten deutschen Kriminalitätshistoriografie fehlt bislang jedoch eine Monografie zum städtischen Sicherheitspersonal. [2] Hier liegt das Desiderat für die Arbeit von Andrea Bendlage. Über die mikrohistorische Arbeit vergisst die Autorin nicht die makrohistorischen Fragen, die die Forschung in den letzten Jahren immer wieder beschäftigt haben: Gewaltsamkeit im Alltag und das Elias'sche Theorem des 'Zivilisationsprozesses', 'Sozialregulierung' und 'Stabsdisziplinierung' (Oestreich) sowie Aspekte der 'Staatsbildung', um nur die Schlagworte zu nennen. Besonders im Hinblick auf die Entstehung und Akzeptanz obrigkeitlicher Mechanismen der Konfliktregelung ist dieser Ansatz relevant. So beschließt die Autorin auch ihre Einleitung mit dem Satz: "Die Untersuchung des Exekutivpersonals könnte daher Erkenntnisse über den Grad entstehender Staatlichkeit und somit eines staatlichen Strafmonopols zeigen, ehe dieses zu einem nicht mehr hinterfragten Instrument obrigkeitlicher Ordnungspolitik wurde" (24).

Präzise moderne Begriffe wie 'Funktionsträger' oder 'Sicherheitspersonal' sind dem Zwang zu einheitlicher Kategorisierung geschuldet, verdecken aber den Umstand, dass die Bediensteten der Ratsobrigkeiten in Sachen Ordnung und Sicherheit äußerst vielfältig - um nicht zu sagen in alteuropäischer Weise geradezu 'buntscheckig' - waren. So finden sich in Nürnberg unter anderem Viertelmeister, Gassenhauptleute, Nachtwächter, Scharwächter, Turmwächter, Hoernleinswächter, der Löwe, Lochhüter, Schuldturmhüter, Büttel, Schützen, Kundschafter. Welche dieser Diener im Einzelnen ihr Amt haupt- oder nebenberuflich ausübten und was sie in ihrer Dienstzeit genau machten, ist nicht immer so einfach festzustellen. Manche der interessanten Befunde Bendlages sind überraschend. So waren die Gassenhauptleute, die einzelne Straßenzüge beaufsichtigten, keineswegs niederer Herkunft, sondern angesehene Kaufleute und Handwerker. Ob sie tatsächlich Kontrollorgane des Rats waren, wie Bendlage vermutet, oder nicht vielmehr Mittler zwischen Obrigkeit und Nachbarschaften, ist weiterhin eine offene Frage. Bei den Turmwächtern handelte es sich zumeist um ärmere Handwerker, die während ihrer Dienstzeit auf den Türmen ihrem Handwerk nachgingen und unter Umständen sogar die Türme verlassen konnten. Quantitative Berechnungen und Vergleiche des Sicherheitspersonals mit anderen Städten sind angesichts dieser Vielfalt ein schwieriges Geschäft, weil von definitorischen Vorentscheidungen abhängig. Bendlage errechnet für das 16. Jahrhundert ein Zahlenverhältnis von "mindestens einem Stadtdiener auf 417 Einwohner", während von Gerd Schwerhoff für Köln ein Verhältnis von einem Diener auf 4.000 Einwohner kalkuliert wurde (53). Eine befriedigende Erklärung für derartige Diskrepanzen zeichnet sich bislang nicht ab.

Andrea Bendlage präsentiert erstmals einleuchtende Erklärungsansätze im Hinblick auf die unter den Zeitgenossen berüchtigte 'Willkür' und Gewalt der Stadtknechte. Die Autorin weist zurecht darauf hin, dass die Diener des Rats ohnehin meist erst dann zu Hilfe gerufen wurden, wenn alle anderen Ausgleichsbemühungen gescheitert waren. Sie mussten also in brenzlige Konfliktsituationen eingreifen und viele taten dies, ohne dass je eine besondere Gewalttätigkeit in den Akten vermerkt wurde. Vor allem aber reflektieren die vielen Klagen über die Gewalt der Diener "den Anspruch städtischer Obrigkeiten, den Stadtfrieden zu sichern und zu wahren" (150). Dies gilt zum einen schon für die Präsenz bewaffneter Diener, während man den Bürgern untersagte, Waffen zu tragen; zum anderen lassen sich die wiederholten Bemühungen des Rats um ein maßvolles, deeskalierendes Vorgehen seiner Diener auch als eine Art von Stabspezifizierung lesen. Gewaltsame Auftritte der Stadtknechte waren also kein gewünschtes, inszeniertes Spektakel. Um den 'Frieden' in der Stadt zu gewährleisten und ein obrigkeitliches Gewaltmonopol zu etablieren, mussten die Diener zwar präsent sein und im Konfliktfall intervenieren. Zugleich sollten sie aber selbst das Friedegebot der Ratsobrigkeit beherzigen. Dass sich hier in der Praxis häufig Probleme ergaben, liegt auf der Hand.

Ein zweites wesentliches Ergebnis der Arbeit betrifft die Verwurzelung der Stadtknechte in der städtischen Gesellschaft. Die Analyse von Herkunft und Werdegang der Diener zeigt, dass sie keine geächteten Außenseiter waren, sondern vielmehr aus dem Handwerk der Stadt oder ihrem Umland stammten. Zugehörigkeit zur Stadtgesellschaft war sogar ein wesentliches Kriterium für die Aufnahme in die Dienste des Rats. Nicht der Kontakt mit Straftätern machte die Stadtknechte in den Augen des Handwerks anrüchig, sondern ihre Indienstnahme durch die Obrigkeit und damit ihre Distanzierung von der Sphäre der Bürgerschaft vor dem Hintergrund des obrigkeitlichen Anspruchs auf das Gewaltmonopol. Die Beharrungskraft von Konfliktlösungsmodellen, die sich an "Konsens und Ausgleich innerhalb der Stadtgesellschaft" orientierten (297), ist allerdings nicht spezifisch für das Spätmittelalter oder das 16. Jahrhundert. Ein 'restitutiver' Umgang mit Gewaltvergehen durch die städtische Strafjustiz und die Teilnahme der Bürger daran durch Anzeigen und Suppliken lassen sich ohne weiteres auch noch im 18. Jahrhundert nachweisen. Damit ist die Frage gestellt, inwieweit die von Bendlage für die Schwellenzeit um 1600 gemachten Beobachtungen zur Praxis der Strafverfolgung im Hinblick auf die gesamte Frühe Neuzeit Gültigkeit beanspruchen können. Mit anderen Worten: Die Möglichkeiten der Historischen Kriminalitätsforschung sind noch längst nicht ausgeschöpft. Vielmehr gilt: 'The story goes on!'

Anmerkungen:

[1] Vergleiche zuletzt Ulrich Henselmeyer: Ratsherren und andere Delinquenten. Die Rechtsprechungspraxis bei geringfügigen Delikten im spätmittelalterlichen Nürnberg, Konstanz 2002.

[2] Vergleiche zum ländlichen Bereich Peter Nitschke: Verbrechensbekämpfung und Verwaltung. Die Entstehung der Polizei in der Grafschaft Lippe, 1700-1814, Münster 1990; zur Entstehung der Gendarmerie Bernd Wirsing: Die Geschichte der Gendarmeriekorps und deren Vorläuferorganisationen in Baden, Württemberg und Bayern 1750-1850, (Mikrofilm) Konstanz 1991; zuletzt der Sammelband Andre Holenstein u.a. (Hg.): Policey in lokalen Räumen. Ordnungskräfte und Sicherheitspersonal in Gemeinden und Territorien vom Spätmittelalter bis zum frühen 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2002.

Joachim Eibach