Rezension über:

Oliver Lamprecht: Das Streben nach Demokratie, Volkssouveränität und Menschenrechten in Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts. Zum Staats- und Verfassungsverständnis der Deutschen Jakobiner (= Schriften zur Verfassungsgeschichte; Bd. 63), Berlin: Duncker & Humblot 2001, 174 S., ISBN 978-3-428-10008-8, EUR 46,00
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Rezension von:
Heike Wüller
Köln
Redaktionelle Betreuung:
Michael Kaiser
Empfohlene Zitierweise:
Heike Wüller: Rezension von: Oliver Lamprecht: Das Streben nach Demokratie, Volkssouveränität und Menschenrechten in Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts. Zum Staats- und Verfassungsverständnis der Deutschen Jakobiner, Berlin: Duncker & Humblot 2001, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 4 [15.04.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/04/4397.html


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Oliver Lamprecht: Das Streben nach Demokratie, Volkssouveränität und Menschenrechten in Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts

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Mit den deutschen Jakobinern ist es ein schwieriges Unterfangen. Die politischen und gesellschaftlichen Vorstellungen, die in dieser ebenso hoch politisierten wie zahlenmäßig kleinen Bewegung zusammentrafen, deckten ein weites Spektrum ab. Es reichte vom Bestreben, mithilfe revolutionärer Erhebungen radikale Veränderungen des politischen Systems zu erzielen, Rechts- und Verfassungsstaaten zu gründen und eine nationale deutsche Einheit voranzutreiben bis hin zu moderat-liberalen Forderungen nach allmählicher, reformorientierter Modifikation der bestehenden Verhältnisse. Die Jakobinismus-Forschung, vor allem von Walter Grab und Heinrich Scheel betrieben und vorangebracht, hat in den Mittelpunkt ihres Interesses die radikalen Ausprägungen im politischen Denken und Handeln in Deutschland gestellt. Dabei hat sie aber im Ergebnis auch die Neigung zur Überbewertung entwickelt - sowohl was die Einschätzung des Jakobinismus im Gesamtkontext deutscher Revolutionsrezeption betrifft als auch in der immer wieder vorgetragenen Kontinuitätsthese von der durch den Jakobinismus in Deutschland begründeten freiheitlich-demokratischen Tradition. Die Verfassungsgeschichtsschreibung hat die deutschen Jakobiner als mögliche Ideengeber bisher weitgehend ignoriert.

Oliver Lamprecht hat mit seiner von der Friedrich-Naumann-Stiftung aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung geförderten juristischen Dissertation den Versuch unternommen, diese Lücke zu schließen. Er möchte mit seiner Studie nachweisen, dass "modernes deutsches Verfassungsrechtsdenken und Staatsverständnis nicht erst im Jahr 1806 beziehungsweise im Vormärz seinen Anfang nimmt" (14), sondern eben schon in der Zeit der revolutionären Umbrüche im ausgehenden 18. Jahrhundert. Zum Beweis seiner Argumentation dienen ihm schriftliche Hinterlassenschaften deutscher Jakobiner: Verfassungsentwürfe, Reden und Vorträge, die in Klubs und Zirkeln gehalten wurden, sowie von Jakobinern produzierte Publizistik. Fünf Texte betrachtet Lamprecht genauer: die "Konstitution für die Stadt Köln" (1797), die "Allgemeinen Grundsätze einer zu entwerfenden Konstitution für die Reichsstadt Ulm" (1798), den in Süddeutschland verteilten "Entwurf einer republikanischen Verfassungsurkunde" (1799), die "Erklär- und Erläuterung der Rechte und Pflichten des Menschen" (1792/94) und die "Grundlinien zu einer allgemeinen deutschen Republik" (wahrscheinlich 1797).

Den zeitlichen Rahmen seiner Thematik entfaltet der Autor im ersten Drittel seiner Arbeit. Er skizziert beinahe enzyklopädisch die politisch-ideologischen Strömungen im verfassungsrechtlichen Denken des ausgehenden 18. Jahrhunderts und lässt darauf Ausführungen zum französischen Jakobinismus und seinen staatstheoretischen Überlegungen folgen. Anschließend versucht Lamprecht, sich der Herkunft und den Organisationsformen der deutschen Jakobiner anzunähern. Er erläutert die Schwierigkeiten, den Begriff Jakobinismus aus der zeitgenössischen Terminologie abzuleiten, und betont seine ebenso inflationäre wie denunziatorische Verwendung. Er selbst bestimmt den deutschen Jakobinismus als radikale Oppositionsbewegung zum herrschenden Absolutismus, deren Anhänger als Aufklärer und (potenzielle) Revolutionäre Vertreter demokratischer, eine neue gesellschaftliche Ordnung antizipierender Ansichten gewesen seien.

Das zentrale Kapitel seiner Arbeit dient der Systematisierung des bis dahin Vorgestellten. Lamprecht verdeutlicht, dass nach jakobinischem Verständnis Herrschaftsbefugnis und Herrschaftsausübung aus Sicht und im Interesse des Volkes beantwortet, die Gewaltenteilung als vernünftige Ordnung des Staates begriffen wurde. Überzeugend kann der Autor darlegen, dass die Jakobiner unter Demokratie die "Abtrennung der Souveränitätsrechte vom absoluten Herrscher" und deren "natürliche Verankerung beim Volk" verstanden (122). Als Bedingung für die demokratische Mitwirkung macht Lamprecht vor allem moralische Kategorien aus - er nennt die Bereitschaft zur Achtung von Recht und Gesetz -, erst nachgeordnet sieht er materielle Kriterien wie das Vorhandensein von privatem Eigentum wirksam. Als präferierte Organisationsform des Staates findet Lamprecht in den jakobinischen Entwürfen vorherrschend die repräsentative Demokratie. Bürgerliche und politische Freiheit seien von den deutschen Jakobinern als gleichberechtigt nebeneinander stehend und sich gegenseitig ergänzend verstanden, Gleichheit sei ausdrücklich als Rechtsgleichheit interpretiert worden. Besonders betont Lamprecht, dass das Recht auf Eigentum im Sinne eines Abwehrrechts gegen die Obrigkeit wie auch des Schutzes gegen Dritte als zentrale Forderung der Jakobiner wahrgenommen werden müsse - eine Tatsache, die er bisher in der Forschung zu wenig gewürdigt findet. Meinungs- und Religionsfreiheit hätten im jakobinischen Denken eine wichtige Rolle gespielt. Dem Staat sei die Aufgabe zugewiesen worden, umfangreiche Sicherheits- und Schutzmaßnahmen für die Bürger zu treffen.

In einem letzten, den zeitlichen Untersuchungsrahmen sprengenden Kapitel versucht Lamprecht sich an einem Überblick über "Fortwirkungen des jakobinischen Gedankenguts" (147). Er wirft allerdings die Forschungsaufgaben, wie etwa die Frage nach dem Nachwirken der jakobinischen Ideen bei politischen Gruppierungen des Vormärz oder im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, nur auf.

Ein Grundproblem der Arbeit liegt im reduktiven Vorgehen des Autors: Lamprecht erklärt zu seinem Bestreben, den "kleinsten gemeinsamen Nenner" des jakobinischen Staats- und Verfassungsverständnisses, den "Kern des deutschen Jakobinismus" (18), seine "Ureigenschaft" (47), herausarbeiten zu wollen und verstellt sich damit (vor)schnell jede Möglichkeit der Ausdifferenzierung der historischen Positionen. Für die Jakobinismusforschung konstatiert er "Unübersichtlichkeit" und Abhängigkeit von ideologischen und wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen. "Eine Zusammenschau der unterschiedlichen Definitionsmerkmale des Jakobinismus führt daher nicht weiter" (46), so der Autor - und enthält diese dem Leser kurzerhand vor.

Über weite Strecken ist Lamprecht allerdings angewiesen auf die geschichtswissenschaftlichen Vorarbeiten, im Umgang mit diesen zeigt er immer wieder Schwächen, er argumentiert in Zirkelschlüssen und bleibt unklar in der Begriffsbestimmung vor allem, wenn es um die Darstellung politischer Ideologien geht. So tut sich Lamprecht etwa schwer mit dem Begriff "Liberalismus", den er zunächst als "sich herausbildende Geistesströmung" (147) und als "die Aufklärung als Prozeß geistiger Kritik" fortsetzende Strömung (21) charakterisiert, um später - fast verschämt in einer Fußnote - darauf zu verweisen, dass es in der Forschung mittlerweile ein "neues und umfassenderes Verständnis" (147) gebe, das den Liberalismus als eine geistige Bewegung des frühen 18. Jahrhunderts sieht.

Zu den Grundprinzipien der Arbeit gehört, heutiges Staatsrechtsverständnis auf die rechtshistorischen Sachverhalte anzuwenden. Dies führt allerdings dann zu begrifflichen Verwerfungen, wenn der Autor schließlich sogar vom "jakobinischen Föderalismusbegriff" spricht, den er dann mit "Pluralität der Ansichten" übersetzt (128).

Lamprecht kann zeigen, dass die Mehrzahl der jakobinischen Autoren eine kritische und misstrauische Haltung gegenüber der Zuverlässigkeit des Volks im Hinblick auf die Beherrschung demokratischer Verfahren hatte. Dies gilt auch für die beiden Autoren der Verfassungsentwürfe für die Reichsstädte Köln und Ulm, wo doch - mit aller Vorsicht gesagt - demokratische Traditionen aus dem Mittelalter angelegt waren. Es stellt sich die Frage, ob nicht gerade da auch spezifisch "deutsche" Momente jakobinischen Denkens zum Tragen gekommen sind. Lamprecht bemerkt die unterschiedlichen Bezugspunkte von Verfassungskonzeptionen (Reichsstadt hier, das - eher unspezifisch auftretende - Reich da) zunächst überhaupt nicht, sondern verweist am Schluss der Arbeit nur kurz darauf, dass stadtrepublikanische Traditionen von den Jakobinern weiter entwickelt worden seien. Die Auslassung dieser Differenzierung ist auch insofern bedauerlich, als sich hier ein zweiter, für die Verfassungsgeschichte bedeutender Forschungsansatz aufgetan hätte: Wann setzten Bestrebungen zur Schaffung einer Verfassung für das Heilige Römische Reich ein, und wie hielten es die Jakobiner mit dieser Frage?

Selbst bei einigem Verständnis für die Eingrenzung des Forschungsgegenstandes auf rechtsdogmatische Problemstellungen sind Lamprechts mitunter in fast ärgerlicher Krudität vorgetragene Verweigerung historisch differenzierender Sichtweisen, die Abneigung, den Leser Erkenntnisprozesse nachvollziehen zu lassen, der andauernde Verweis auf die Möglichkeit des Selbststudiums für alle, die - ja nicht einmal Genaueres, sondern manchmal überhaupt - etwas wissen wollen, nicht akzeptabel. Ärgerlich sind auch handwerkliche Schwächen: Über die Biografien der von ihm zitierten Protagonisten ebenso wie über die zitierten Zeitschriften lässt Lamprecht die Leser meist im Unklaren, und die Nennung von Namen beziehungsweise Titeln ist vollkommen unsystematisch. Dass in dieser Arbeit manches als "jakobinisch" bezeichnet wird, was doch gleichermaßen "liberal" zu nennen ist, macht vor allem deutlich, dass die am Anfang skizzierte Überbewertung des deutschen Jakobinismus auch von Lamprecht bedient wird. Das "Zuviel" in dieser Hinsicht hat bei ihm seine Ursache eindeutig im "Zuwenig" an wissenschaftlicher Tiefenschärfe.

Heike Wüller