Rezension über:

Klaus Schreiner / Marc Müntz (Hgg.): Frömmigkeit im Mittelalter. Politisch-soziale Kontexte, visuelle Praxis, körperliche Ausdrucksformen, München: Wilhelm Fink 2002, 566 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-7705-3625-2, EUR 62,00
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Rezension von:
Vanessa Künnemann
Hannover
Redaktionelle Betreuung:
Gudrun Gersmann
Empfohlene Zitierweise:
Vanessa Künnemann: Rezension von: Klaus Schreiner / Marc Müntz (Hgg.): Frömmigkeit im Mittelalter. Politisch-soziale Kontexte, visuelle Praxis, körperliche Ausdrucksformen, München: Wilhelm Fink 2002, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 7/8 [15.07.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/07/6676.html


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Klaus Schreiner / Marc Müntz (Hgg.): Frömmigkeit im Mittelalter

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Wurden im Mittelalter Städte von der Pest heimgesucht, war es keine Seltenheit, dass die Stadtoberen und Kirchenväter zu Prozessionen aufriefen, deren Mittelpunkt Marienbilder darstellten. Kündigten sich Missernten, Naturkatastrophen oder Kriege an, verlangten die Menschen auf ähnliche Weise nach dem Schutz heiliger Patrone. Die Gläubigen erwarteten Hilfe, ja, sogar Wunder von der Gottesmutter und anderen Heiligen und gaben diesem Bedürfnis oftmals körperlich Ausdruck, indem sie Kultbilder berührten oder küssten. Die Bereitschaft und das Verlangen, leben und leiden zu wollen beziehungsweise zu müssen wie Jesus Christus, um ihren Städten das erhoffte Gemeinwohl zu bringen, ist ein Charakteristikum, das sich durch das Leben vieler hoch- und spätmittelalterlicher Stadtbürger zog.

Dies ist die Ausgangsthese des von Klaus Schreiner in Zusammenarbeit mit Marc Müntz herausgegebenen Bandes "Frömmigkeit im Mittelalter. Politisch-soziale Kontexte, visuelle Praxis, körperliche Ausdrucksformen". Der Sammelband enthält die im Rahmen einer Tagung (1996) im Zentrum für Interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld geführten Referate und Diskussionen. "Zur Debatte standen politisch-soziale Verflechtungen mittelalterlichen Frommseins, die Macht der Bilder und ihres Kultes, sowie somatische Erfahrungen, die Menschen machten, wenn sie sich in ihrer leib-seelischen Ganzheit auf Gott einließen" (10). Auch der vorliegende Sammelband ist in diese drei thematischen Schwerpunkte unterteilt.

Im Anschluss an die vom Herausgeber verfasste Einleitung werden in einem ersten Hauptkapitel zunächst von Hartmann Tyrell die theoretischen Grundlagen für die folgenden Kapitel gelegt. Tyrell verdeutlicht in seinem Beitrag mit dem Titel "Religiöse Kommunikation. Auge, Ohr und Medienvielfalt" die interdisziplinäre Ausrichtung sowohl der Tagung als auch des Sammelbandes, indem er auf die Verschränkung von Religion und Soziologie in Form der Religionssoziologie hinweist: "Dass die Religion ein 'fait social' ist, hat ihr niemand stärker eingeprägt als Emile Durkheim" (41). In diesem Sinne sei Religiosität immer auch durch ein beträchtliches Maß an Kollektivität und Sozialität gekennzeichnet: Für Durkheim ist die "soziale Vitalitätsquelle des Religiösen [...] die 'assemblée', das kollektive und in Erregung versetzte Versammeltsein der Individuen" (41), von Durkheim mit dem Begriff Efferveszenz bezeichnet. Tyrells Ausführungen fußen zwar auf Durkheims Erkenntnissen, jedoch will er das Soziale generell als Kommunikation verstanden wissen und begreift somit auch das Soziale an der Religion "konsequent als Kommunikation" (42). Indem Tyrell so die Aufmerksamkeit auf kommunikative Aspekte von Religion richtet (43) und der Frage nachgeht, unter welchen Voraussetzungen, aus welchen Gründen und auf welche Art und Weise Gesellschaft Kommunikation mit Gott zulässt, ebnet er den Weg zum Verständnis der drei Hauptteile des Sammelbandes - können politisch-soziale Kontextualisierungen, Visualität und Körpersprachen doch als pragmatische Herangehensweisen an und Zugangswege zu Gott und somit als direkte Kommunikationsstrategien von Gläubigen betrachtet werden.

Der Abschnitt "Frömmigkeit in politisch-sozialen Kontexten" enthält die Beiträge von Kerstin Beier, Klaus Graf und Martial Staub, die allesamt anhand von Fallstudien deutscher Städte (Graf und Staub) beziehungsweise der italienischen Stadt Siena (Beier) aufzeigen, dass Frömmigkeit bei vielen mittelalterlichen Stadtbürgern mit einem hohen Maß an Pragmatismus verbunden war. Beier zum Beispiel geht der Frage nach, "welche Bedeutung religiösen Vorstellungen, Bildern und Ritualen bei der Sicherung des Gemeinwesens gegen innere Zwietracht und äußere Bedrohung zukam" (97) und widerlegt mit ihrer Studie zur Relevanz der Maria Patrona in Siena die verbreitete Annahme, die spätmittelalterliche Stadtbevölkerung sei durchweg autonom und rational gewesen. Dieser Beitrag ist mit einigen sehr eindrücklichen (leider schwarz-weißen) Madonnenabbildungen versehen. Auch Graf untersucht die Relevanz Marias als Schutzpatronin und ihren Symbolcharakter; er liefert zudem im Anhang eine hilfreiche Übersicht über 62 deutsche katholische Städte und deren Patrone. Bei Staub schließlich wird der pragmatische Zugang zu Religiosität und Frömmigkeit am deutlichsten: Staub zeigt die Verbindung von Unternehmertum und Frömmigkeit am Beispiel von Nürnberger Bürgern, die in der Mitte des 15. Jahrhunderts als beharrliche, insistierende Stifter den gotischen Hallenchor ihrer St. Lorenz-Kirche vorantrieben. Ähnlich wie zuvor Beier und Graf schließt auch Staub seinen Beitrag mit zwei Schaubildern ab. Sie illustrieren das Stiftungsverhalten von Nürnberger Stadtbürgern im 15. Jahrhundert.

Die - besonders für Nicht-Mediävisten - sehr leserfreundliche und anschauliche Gesamtanlage des Bandes, seinen Inhalt mithilfe konkreter Beispiele zu kommunizieren, wird im zweiten großen Abschnitt, "Bilder: Inneres Auge, Schöner Schein, Praktischer Gebrauch" fortgesetzt. Insgesamt sieben Beiträge - einer davon in englischer Sprache (Michael Camille) - thematisieren hier die visuelle Dimension mittelalterlicher Frömmigkeit. Thomas Lentes schreibt zu diesem Zusammenhang: "Mit ihren Augen schauten die Menschen auf die Heiligen und erhofften entsprechend deren heilversprechenden Blick. Sehen und Angeschautwerden galten in dieser Logik als Vermittlungsinstanzen zwischen Himmel und Erde" (179). Diese wechselseitige Kommunikation zwischen Betrachtetem und Betrachter, das heißt zwischen Heiligem und Gläubigem, spielt in der Folge auch in den anderen Beiträgen dieses Abschnittes eine wichtige Rolle. Das Betrachten eines Heiligenbildes konnte bisweilen zu einer Angleichung oder Verähnlichung zwischen dem betrachtenden Menschen und dem Bildobjekt führen; der Mensch wurde so kraft Imagination und / oder Meditation gar zum Ebenbild Christi. Aber auch eine kritischere Rezeption der Bilderbetrachtung beziehungsweise ein breiteres Spektrum an Wahrnehmungs- und Umgangsformen mit diesen Bildern lässt sich ausmachen, worauf Norbert Schnitzler in seinem Aufsatz mit dem Titel "Illusion, Täuschung und schöner Schein" hinweist, in welchem er die Problematiken der Bildverehrung untersucht.

Besonders interessant mit Blick auf gender-Konzeptionen erweist sich der Artikel "Seductions of the Flesh. Meister Francke's Female 'Man' of Sorrows" von Michael Camille. Camille untersucht Darstellungselemente des Meister Francke und macht in diesen drei Muster ausfindig, die spätmittelalterlichen religiösen Wandel erkennen lassen: "minituarization" (Verkleinerung), "infantilization" (Infantilisierung) und "feminization" (Verweiblichung). Gesellschaftlicher Wandel, neue Überzeugungen und Sichtweisen setzten sich demzufolge auch in der Religion beziehungsweise in religiöser Darstellungskunst fort und sind zum Beispiel "an einem Christusbild ablesbar, in dem der göttliche Erlöser als 'schwach' (weak), 'weiblich' (female), 'kindlich' (childlike) und 'hilflos' (helpless) erscheint" (Schreiner, 28). Auch der Beitrag Robert Suckales widmet sich der Körperdarstellung (religiöser) mittelalterlicher Kunst, indem er Bilder der niederländischen Maler Jan van Eyck, Rogier van der Weyden und Hugo van der Goes hinsichtlich des Wandels von Körper- und Wirklichkeitsverständnis interpretiert. Die beiden letztgenannten Beiträge werden durch eine Vielzahl von Abbildungen untermauert und bereichert. Aufschlussreich ist auch der Beitrag von Peter Dinzelsbacher, der unter anderem die unterstützende Wirkung des Wortes bei heilssuchenden, meditierenden Gläubigen analysiert. So sind Fälle bekannt, in denen Betrachter eines Bildes durch Meditations-Anweisungen, aber auch durch lateinische Gedichte, regelrecht in Ekstase gerieten. Die Beiträge von Gerhard Jaritz und Peter Schmidt ergänzen diesen Fokus auf Bildlichkeit: Jaritz untersucht die Bedeutung von "Nähe und Distanz", die Betrachter gegenüber den von ihnen betrachteten Bildern einnahmen, und interpretiert die Platzierung von Bildern im Kirchenraum. Schmidt liest "Benutzernotizen als Zeugnisse frommer Bildpraxis im späten Mittelalter".

Der dritte und letzte Teil des Sammelbandes ist dem Thema "Fromme und Unfromme Körpersprachen" gewidmet und umfasst sechs Beiträge. Hubertus Lutterbach befasst sich mit der Fastenbuße im Mittelalter und verweist auf die lange Tradition dieser Praxis. Bereits im alten Testament wurde Fasten als "Ausdruck der Trauer, der Reue und der demütigen Bitte an Gott um die Vergebung der Sünden" verstanden (404). Richard C. Trexler geht der Frage nach, ob religiös motivierte Verwundungen des eigenen Körpers eine größere Nähe oder aber eine größere Distanz zu Gott begünstigten. Die Geißelung des Körpers als Mittel der Buße und Strafe beleuchtet er anhand des Beispiels des heiligen Franz von Assisi. Dieser ebenfalls in englischer Sprache verfasste Beitrag überzeugt durch seine genaue, facettenreiche Recherche. Trexler kommt zu dem Ergebnis, Franziskus sei zwar nicht der erste stigmatisierte Christ gewesen, jedoch "through the pen of Thomas of Celano, Francis was indeed made into a new type of saint, one whose body was transformed through divine, and then seraphic, intervention" (496-97).

Zum Schluss soll noch auf den Artikel von Gabriela Signori verwiesen werden, der die Topoi Krankheit, Milieu und Geschlecht aus dem Blickwinkel spätmittelalterlicher Wundergeschichten untersucht. Hier werden, nicht zuletzt mithilfe aufschlussreicher Statistiken, unter anderem Unterschiede zwischen urbanen und ruralen Lebensumgebungen, zwischen Frauen und Männern in den Fokus gerückt und Erkenntnisse gewonnen, die sich zum Teil auf heutige Verhältnisse übertragen lassen: So konstatiert Signori, dass Städter ihrem Körper mehr Beachtung schenkten als die Landbevölkerung. Und sie stellt außerdem fest, dass Bäuerinnen "häufiger als ihre Männer an Krankheiten ohne 'Ort' und ohne Namen", das heißt an Krankheiten und Beschwerden litten, die sich nicht näher benennen, lokalisieren und konkretisieren ließen. "Ihr Körper", so Signori, "verfügt[e] auch über mehr krankheitssensible Zonen als der ländliche Männerkörper" (552).

Mit seinem Sammelband legt Klaus Schreiner eine lehrreiche Studie vor, deren einzelne Beiträge sich vor allem durch die Verknüpfung von Theorie und konkreten Fallbeispielen beziehungsweise Illustrationen (in Form von Abbildungen, Statistiken und Ähnlichem) auszeichnen. Dies macht die Lektüre auch für Leserinnen und Leser, die nicht aus dem Bereich der Mediävistik stammen, zugänglich und sogar kurzweilig. Die Vielzahl der interdisziplinären Ansätze von der Religionssoziologie über Betrachtungen mittelalterlicher Kunst bis hin zu medizinisch-biologischen Hintergründen (wie bei Gabriela Signori) erweist sich als ausgesprochen produktiv bei der Frage nach Frömmigkeit im Mittelalter. Denn wo Frömmigkeit als Kommunikation erfahren beziehungsweise interpretiert wird, eröffnen sich fruchtbare Ausblicke auf den gesamten Lebenszusammenhang des Mittelalters.

Vanessa Künnemann