Rezension über:

Hariolf Grupp / Icíar Dominguez-Lacasa / Monika Friedrich-Nishio: Das deutsche Innovationssystem seit der Reichsgründung. Indikatoren einer nationalen Wissenschafts- und Technikgeschichte in unterschiedlichen Regierungs- und Gebietsstrukturen (= Technik, Wirtschaft und Politik. Schriftenreihe des Fraunhofer-Instituts für Systemtechnik und Innovationsforschung ISI; 48), Heidelberg: Physica-Verlag 2002, XVII + 180 S., 72 Abb., 11 Tab., ISBN 978-3-7908-1479-8, EUR 39,95
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Rezension von:
Reinhold Hofer
Wirtschaftsuniversität, Wien
Redaktionelle Betreuung:
Martina Heßler
Empfohlene Zitierweise:
Reinhold Hofer: Rezension von: Hariolf Grupp / Icíar Dominguez-Lacasa / Monika Friedrich-Nishio: Das deutsche Innovationssystem seit der Reichsgründung. Indikatoren einer nationalen Wissenschafts- und Technikgeschichte in unterschiedlichen Regierungs- und Gebietsstrukturen, Heidelberg: Physica-Verlag 2002, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 2 [15.02.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/02/6596.html


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Hariolf Grupp / Icíar Dominguez-Lacasa / Monika Friedrich-Nishio: Das deutsche Innovationssystem seit der Reichsgründung

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In der Analyse von Innovationsvorgängen aus ökonomischer Perspektive nimmt bereits seit geraumer Zeit die Konzeption eines Nationalen Innovationssystems einen prominenten Platz ein. Darin werden die sichtbaren Ergebnisse des Innovationsgeschehens einer Nation als Folge eines sich spezifisch ausbildenden, pfadabhängigen Interaktionsmuster der darin betrachteten Akteure erklärt. Allerdings wurde diese Konzeption empirisch bislang auf Basis kurzer Zeitreihen und Fallstudien untersucht, da die entsprechenden historische Zeitreihen für übliche Innovationsindikatoren zwar teilweise vorhanden waren, wie etwa für Forschungsausgaben oder Patente, aber für diesen Kontext nicht aufbereitet waren.

An diesem Punkt setzt das vorliegende Werk an und versucht durch Generierung und Verarbeitung historischer Zeitreihen von Innovationsindikatoren sowohl bestehende empirische Lücken zu schließen als auch eine Antwort auf die Frage zu finden, inwieweit im Falle Deutschlands von einem spezifischen Nationalen Innovationssystem zu sprechen ist (VI). Die vorliegende Arbeit ist dazu als "Machbarkeitsstudie" im Rahmen des Forschungsverbundes "Historische Innovationsforschung" entstanden, welcher durch Ulrich Wengenroth initiiert und durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wurde (VII).

Das Werk gliedert sich in drei Teile, wobei zunächst eine umfassende Darlegung der Methodik erfolgt, bevor in den folgenden Teilen das Nationale Innovationssystem und anschließend die Sektoralen Innovationssysteme im Bereich Elektrotechnik und Chemie historisch vermessen werden.

Die methodische Annäherung zur Quantifizierung des Innovationssystems folgt einem heuristischen Abbildungsschema, welches von Hariolf Grupp bereits 1997 vorgelegt wurde (12). Damit wird eine funktionale Zuordnung von Indikatoren auf Aspekte des Innovationsgeschehens vorgenommen und mit der heutigen Begriffswelt eine historische Abbildung der Funktionen im Innovationssystem erreicht, wobei sich die Autoren durchaus der Probleme um die Tauglichkeit der Begriffe und Vermessung mittels Indikatoren über einen längeren Zeitraum hinweg bewusst sind (2 f.). In der Darlegung der Quellenlage und Konstruktion der zugehörigen Zeitreihen erfolgt neben der eher knappen Behandlung typischer Ressourcenindikatoren (Humankapital, Wissenschaftsausgaben) eine detaillierte Darlegung der Publikations- und Patentstatistiken. Deren Verwendung für die Abbildung der Erträge aus wissenschaftlicher und technischer Erfindungstätigkeit impliziert allerdings auch, obwohl üblich, einen engeren Ertragsbegriff.

Mit diesem funktionellen Verständnis wird im zweiten Kapitel das Nationale Innovationssystem Deutschlands seit der Reichsgründung zu erfassen versucht, wozu die einzelnen Indikatorenreihen, wie Wissenschafts- und Forschungs-/Entwicklungsaufwendungen, die Publikationstätigkeit, das Patentgeschehen und die Normungs- und Lizenztätigkeit dargestellt und diskutiert werden. Hervorzuheben ist hierbei die Einbeziehung der DDR, soweit möglich, für die Periode 1949 bis 1990.

Aus der Fülle der Detailergebnisse seien hier nur wenige herausgegriffen. So zeigen die Autoren etwa, dass die staatliche Finanzierung von Forschung und Entwicklung (F&E) erst für das Nachkriegsdeutschland typisch wird, dass die Wissenschaftstätigkeit (Publikationstätigkeit) im Betrachtungszeitraum mit konstanter Rate gewachsen ist, während sich die Erfindungstätigkeit (Patentierungen) nach einer exponentiellen Wachstumsphase vor dem Ersten Weltkrieg seither mit Schwankungen auf etwa demselben Niveau hält. Darüber hinaus sollte wohl die auftauchende Strukturähnlichkeit der BRD mit der DDR im Innovationssystem hervorgehoben werden. In einem kurzen interessanten Exkurs (69 ff.) wird durch den Vergleich von Ost- und Westdeutschland anhand der Auswertung der Publikationsprofile und der Zitationsraten eine hohe Strukturähnlichkeit bezüglich der wissenschaftlichen Spezialisierung in beiden Ländern festgestellt. Im weiteren Verlauf wird dieser Befund struktureller Ähnlichkeit noch durch die hohe Übereinstimmung in der technologischen Spezialisierung, gemessen an den Patentprofilen (91 ff.), wie auch für die Wissenschaftsabhängigkeit, gemessen an den Wissenschaftsverweisen in den Patentschriften, festgestellt.

Schließlich wird eine gesamtwirtschaftliche Produktionsfunktion für den Zeitraum von 1960 bis 1996 geschätzt und in einer Modellsimulation für Fünfjahresperioden in diesem Zeitraum der jeweilige Wachstumsbeitrag von Patenten, Lizenzen und Normen errechnet. Neben der nicht so sehr überraschenden Tatsache eines hohen Einflusses des Innovationsgeschehens auf das Wachstum zeigt die Zerlegung in Erklärungsanteile die bisher wohl unterschätzte Bedeutung der Normen auf.

Die erstaunlich hohe Persistenz in den Strukturen auf nationaler Ebene führt die Autoren im dritten Kapitel zur Betrachtung ausgewählter sektoraler Innovationssysteme. Elektrotechnik und Chemie als so genannte "Science-based Industries" erschienen in diesem Kontext von besonderem Interesse (105). Diese Sektoranalysen unterscheiden sich insofern, als hierbei exemplarischer vorgegangen wird. Während die wissenschaftliche Publikationstätigkeit für den Zeitraum vor 1975 durch manuelle Auswertungen von Monografien erarbeitet wird, werden etwa im Bereich Humankapital Daten der Technischen Hochschule Karlsruhe und Innovationsdaten aus einigen wenigen, großen deutschen Unternehmen (Siemens, AEG, BASF) repräsentativ verwendet. Die Feststellung sektoral unterschiedlich stark ausgeprägter Pfadabhängigkeiten basiert wiederum maßgeblich auf der Auswertung der Patentstrukturen.

Die Summe dieser Detailergebnisse zusammenfassend, kommen die Autoren zu einer zustimmenden Antwort auf die Frage nach einem deutschen Innovationssystem. Insbesondere die Strukturähnlichkeiten in Publikations- und Patentgeschehen erscheinen als Hinweis auf eine spezifische Ausprägung, welche durch unterschiedliche Regierungs- und Gebietstrukturen unbeeinflusst scheint (161).

Ein großes Verdienst der Autoren liegt sicherlich in der Erstellung und Zusammenfassung eines umfangreichen, gut diskutierten und analysierten historischen Indikatorensatzes für Deutschland, womit sie sicherlich auch bestehende empirische Lücken schließen. Die daraus erstellten strukturentdeckenden Befunde quantitativer Spuren politischer, sozio-ökonomischer und technologischer Vorgänge dürften, neben dem historisch interessanten Befund quantitativ erfassbarer funktionaler Zusammenhänge, welche für ein spezifisch deutsches Innovationssystem sprechen, wohl auch einen fruchtbaren Beitrag für eine Weiterentwicklung evolutorischer Innovationsforschung bringen. Wenn man sich dabei manchmal wünscht, etwas genauer auch über die statistischen Auswertungsmethoden informiert zu werden, welche in separaten Arbeiten beschrieben und daher nur grob skizziert werden, so muss man zugleich auch feststellen, dass die vorgelegten Ergebnisse hohe Anreize setzen, vergleichbare Studien für andere Länder zu unternehmen und sich insbesondere auch verstärkt den Zusammenhängen und der historischen Ausbildung persistenter Strukturen in Innovationssystemen zu widmen.

Reinhold Hofer