Rezension über:

Peter Johanek (Hg.): Sondergemeinden und Sonderbezirke in der Stadt der Vormoderne (= Städteforschung. Veröffentlichungen des Instituts für vergleichende Städtegeschichte in Münster. Reihe A: Darstellungen; Bd. 59), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2004, X + 201 S., ISBN 978-3-412-18202-1, EUR 34,90
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Rezension von:
Tobias Wulf
Institut für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande, Universität Bonn
Redaktionelle Betreuung:
Stephan Laux
Empfohlene Zitierweise:
Tobias Wulf: Rezension von: Peter Johanek (Hg.): Sondergemeinden und Sonderbezirke in der Stadt der Vormoderne, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 4 [15.04.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/04/7509.html


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Peter Johanek (Hg.): Sondergemeinden und Sonderbezirke in der Stadt der Vormoderne

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Eine Frage verbindet die Autoren dieses aus einer Tagung des Instituts für vergleichende Städtegeschichte von 1996 hervorgegangenen Sammelbandes: "Haben wir es mit 'Sondergemeinden' zu tun?" Sie alle tun sich überaus schwer, ihren jeweiligen Forschungsgegenstand im Rahmen einer Definition zu platzieren, die bislang einseitig von den Kölner Verhältnissen bestimmt wird, also einer topografisch auf der kirchlichen Gemeindestruktur gründenden, mit besonderen Rechten ausgestatteten und die Verfassungsentwicklung der Stadt maßgeblich beeinflussenden kommunalen Gliederungsebene.

Veranschaulicht wird die Einzigartigkeit der Kölner Sondergemeinden von Manfred Groten, der vor allem die Komplexität ihres Verhältnisses zu den Pfarrsprengeln und der Gesamtstadt auseinandersetzt. So entsprachen sie zwar mehrheitlich, aber eben nicht überall den Grenzen der kirchlichen Parochien. Und umstritten ist auch, ob sie als Unterbezirke begriffen werden müssen oder eher die eigentliche Keimzelle bürgerlichen Engagements darstellten. Groten geht von einer parallelen Entwicklung aus: Eine selbstbewusste Bürgerschaft habe nach Mitbestimmung gestrebt; Nachbarschaft als Kommunikationsraum, die Pfarreinteilung als räumliche Struktur und ein genossenschaftliches Prinzip als Organisationsform bildeten den Rahmen für ihren Zusammenschluss. Durch die von Wolfgang Herborn vorgestellte Edition der Amtleutelisten, auf denen die Mitglieder der Sondergemeinden verzeichnet sind, wird eine vertiefte Erforschung insbesondere der personellen Verbindungen möglich werden. Sein Beitrag verdeutlicht darüber hinaus vor allem die Marginalisierung der Kölner Sondergemeinden im Spätmittelalter. Durch die Konsolidierung bürgerlichen Einflusses auf der Ebene der Gesamtstadt waren sie als politisches Betätigungsfeld überflüssig geworden.

Besonders Grote vermeidet gleichwohl den Terminus 'Sondergemeinde', der von der Forschung nur zur Unterscheidung von den Pfarrsprengeln konstruiert wurde, da beide in den örtlichen Quellen 'Kirchspiel' / 'parochia' genannt werden. Wenn aber nicht einmal die definitionsstiftenden Kölner Sondergemeinden vorbehaltlos auch so bezeichnet werden können - was dann? Gemäß dem für den Begriff so prägenden Dreiklang von (kommunaler) Verfassungsentwicklung, (kirchlicher) Gemeindeorganisation und (jurisdiktioneller) Sonderstellung fällt der Blick zunächst auf die Rolle der städtischen Geistlichkeit, vorgestellt von Felicitas Schmieder für Frankfurt am Main und Helmut Flachenecker, der anhand ausgewählter Beispiele überblicksartig die zum Teil sehr unterschiedliche Situation kirchlicher Immunitätsbezirke im süddeutschen Raum beschreibt. In den Vordergrund stellt er Bamberg. Dort gab es eine sehr deutliche (räumliche) Abgrenzung zum restlichen Stadtgebiet. Doch auch hier könne von 'Sondergemeinden' nicht die Rede sein. Zwar zeichneten sich die Immunitäten auch durch klare rechtliche, wirtschaftliche und fiskalische Besonderheiten aus und die Bevölkerung besaß eine andere Sozialstruktur. Mithin könne also von 'Sonderbezirken' gesprochen werden. Doch fehle ihr Beitrag zur Bildung der (Stadt-)Gemeinde mit selbstständigen Vertretern. Dieses Begriffsverständnis offenbart freilich eine sehr enge Orientierung an den Prämissen des Kölner Modells. Schmieder hingegen versäumt es leider völlig, ihre überaus detaillierte Untersuchung über geistliche Bürger, Ausbürger und Beisassen in den vorgegebenen Zusammenhang einzubetten. Stärker als Flachenecker arbeitet sie zwar die "symbiotische Verflechtung" (125) der Stadt mit ihren geistlichen Bewohnern beziehungsweise Einrichtungen heraus und erkennt die Bedeutung ihrer wechselseitigen Beziehung für die Verfassungsentwicklung: "Über eine lange Zeit [...] bildeten sich die Rechte beider Seiten aneinander aus" (128). Die eingangs erwähnte Frage stellt sich ihr aber scheinbar nicht, was auch am Fehlen einer geschlossenen räumlichen Struktur als wichtigster Voraussetzung zumindest eines 'Bezirks' liegen mag. Vielleicht hätte sich für sie der - im Titel des Beitrags schon anklingende, aber leider nicht in diese Richtung vertiefte - Begriff "Sondergruppe" angeboten, wie er von Bärbel Brodt ins Spiel gebracht wird (106).

Hier liegt der eigentliche Erkenntniswert des Sammelbandes: den Blick auf das Thema zu erweitern durch die vergleichende Perspektive, wie sie den vielen Publikationen des Instituts zueigen ist. Dadurch wird über die in der (deutschen) Forschung vorherrschende, stark verfassungsgeschichtlich geprägte Vorstellung hinaus eine Sichtweise des Begriffs deutlich, die die Untersuchung religiöser oder ethnischer Minderheiten stärker in den Vordergrund rückt. Schon die kurze Einführung Brodts in die englische Forschung zum Verhältnis zwischen Bezirk ('Borough') und Stadt macht den Blick frei auf einen mehr sozialgeschichtlichen Ansatz, wie er insbesondere im angelsächsischen Raum schon seit Längerem betrieben wird. Brodt beschränkt sich allerdings im Folgenden auf eine Darstellung der Geschichte Norwichs, das sich in der Tat als Musterbeispiel einer besonders heterogen zusammengesetzten Stadt erweist. Dänen, Normannen, Juden und seit der Mitte des 16. Jahrhunderts religiöse Flüchtlinge verschiedenster Herkunft lebten hier zum Teil scharf voneinander abgegrenzt in mehreren 'Boroughs' mit- beziehungsweise nebeneinander; zudem gab es mehrere geistliche und weltliche Herrschaftsbereiche in der Stadt. Die jeweils kurze Einschätzung am Ende jedes Abschnitts, inwieweit von 'Sondergemeinde' gesprochen werden könne, fällt jedoch leider nicht sehr differenziert aus. Man kann nur erahnen, dass dem Urteil offenbar vor allem demografische und topografische Aspekte zu Grunde liegen. Etwas dezidierter weist Leszek Belzyt darauf hin, dass räumliche und soziale Abgeschlossenheit - neben dem rechtlichen Status - der entscheidende Faktor dafür sei, ob ein Stadtgebiet beziehungsweise die in ihm lebende Personengruppe als 'Sondergemeinde' verstanden werden könne. Wenngleich dies auch für einige ethnische Minderheiten in den von ihm beschriebenen Städten Ostmitteleuropas zutrifft, kommt er in der Gesamtschau zu dem Ergebnis, dass in erster Linie die religiöse Zugehörigkeit den Ausschlag gebe. Damit wendet er sich stärker als Brodt wieder dem Begriff der 'Gemeinde' zu.

In diesem Zusammenhang vermisst man für den deutschsprachigen Raum einen eigenen Beitrag zum Thema 'Konfessionalisierung' (dazu nur Flachenecker). Überhaupt scheint die Beschäftigung mit religiösen und ethnischen Minderheiten unter dem Oberbegriff 'Sondergemeinde' hier zu Lande nicht sonderlich ausgeprägt, was auch an der oben genannten Fokussierung auf kirchliche Strukturen und verfassungsgeschichtliche Aspekte liegen mag sowie an der demografisch vergleichsweise homogeneren Zusammensetzung vieler deutscher Städte. So bleibt es auch in diesem Band bei der Betrachtung zweier 'klassischer' Sondergruppen, Hugenotten und Juden. Für die einen macht Rudolf Endres deutlich, wie sehr die aus den Beiträgen Brodts und insbesondere Belzyts hervorgehende Definition auf sie zutrifft. Es handelte sich im wahrsten Sinne beider Wortteile um eine 'Sonder-Gemeinde': eine sowohl durch Herkunft wie auch religiöse Zugehörigkeit bestimmte, abgeschlossene Gruppe, die in einem gesonderten Bezirk - hier Neu-Erlang beziehungsweise Christian-Erlang - angesiedelt und mit bestimmten Privilegien ausgestattet wurde, bis hin zur teilweisen Selbstverwaltung vor allem in kirchlichen Fragen. Christoph Cluse stellt dagegen in seinem Beitrag über jüdische Gemeinden gerade nicht die Ghettobildung in den Vordergrund, sondern setzt sich kritisch mit dem Begriff der 'Integration' auseinander: Es reiche nicht, für eine bestimmte Personengruppe anhand von Kriterien wie Religion, ethnischer Zugehörigkeit, sozialer oder rechtlicher Stellung und räumlicher Abgrenzung einen Sonderstatus zu konstatieren. Denn auch in anderen Gesellschaftsbereichen existierten sehr unterschiedlich berechtigte Bürger und es gab "autonome Regelungskompetenzen und Auseinandersetzungen um deren Bewahrungen" auch in Pfarrgemeinden "sowie in dem weiten Spektrum der Gilden, Zünfte und Bruderschaften, von der Stadtkommune des späten Mittelalters einmal ganz abgesehen" (35 f.). Damit eröffnen sich dem gesamten Thema neue Perspektiven. Denn auch die (christlichen) Parochien könnten Anlass zu ähnlichen Überlegungen geben: "Wie im Fall der jüdischen Kultgemeinde ergaben sich hier durch einen Faktor von starker Zentralwirkung und raumbildender Kraft unmittelbare Anknüpfungspunkte für andere Gruppenbildungen, die im Ergebnis durchaus quer zu den kirchlichen Pfarrgrenzen liegen konnten" (49).

Als Einziger abstrahiert Cluse so das enge Korsett der Kölner Verhältnisse und entwickelt Ansatzpunkte für eine umfassende, aber undogmatische Sichtweise, die soziale, rechtliche, topografische und religiöse Aspekte verbindet sowie Bezugslinien aufzeigt zwischen den Begriffen Sondergemeinde, -bezirk und -gruppe. Dass diese das Spannungsfeld bilden, in dem noch viel an weiterer Forschung zu leisten sein wird, ist die zentrale Erkenntnis des Sammelbandes - es abgesteckt zu haben, sein eigentliches Verdienst. Wirklich ausfüllen kann er es indes noch nicht. Zu lückenhaft bleibt die Auswahl an Themen, zu wenig bilden die einzelnen Beiträge einen schlüssigen Zusammenhang, und zu lose sind sie zum Teil mit der zentralen Fragestellung verbunden. Angesichts der so dünnen und heterogenen Forschungslage konnte es sich aber auch nur um einen ersten Versuch handeln. Es bleibt zu hoffen, dass davon der erwünschte Anstoß ausgehen wird.

Tobias Wulf