Rezension über:

Jeffrey Chipps Smith: The Northern Renaissance, Berlin: Phaidon Verlag 2004, 448 S., 210 Farb-, 40 s/w-Abb., ISBN 978-0-7148-3867-0, EUR 24,95
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Rezension von:
Dagmar Eichberger
Heidelberg
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Dagmar Eichberger: Rezension von: Jeffrey Chipps Smith: The Northern Renaissance, Berlin: Phaidon Verlag 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 5 [15.05.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/05/5041.html


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Jeffrey Chipps Smith: The Northern Renaissance

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Universitätsstrukturen können sich von Land zu Land fundamental unterscheiden, und so nimmt auch die Ausbildung zum Kunsthistoriker jenseits der deutschen Grenze häufig andere Formen an. Im angelsächsischen System bildet der Bachelor of Arts bereits seit langem die erste Stufe auf der Ausbildungsleiter zum graduierten Geisteswissenschaftler. Die einführende Überblicksveranstaltung und das Handbuch gehören traditionell zum festen Instrumentarium des englischsprachigen Bildungswesens. Dies mag erklären, warum ein amerikanischer Wissenschaftler vom Range Jeffrey Chipps Smiths sich nicht davor scheut, ein 450 Seiten starkes Handbuch für Studenten und gebildete Laien zu schreiben, das den Leser auf fesselnde Weise an sein eigenes Spezialgebiet heranführt. Sein neuestes Buch mit dem Titel The Northern Renaissance bedient sich einer allgemein verständlichen Sprache, die kein Studium der Kunstgeschichte voraussetzt, und verzichtet auf Fußnoten (siehe hierzu die Anmerkung des Autors auf Seite 446).

Das Handbuch für Studenten der Kunstgeschichte ist ein Genre, das auf dem deutschen Büchermarkt nur selten anzutreffen ist und in Fachkreisen oft misstrauisch beäugt wird. Dennoch sollte man sich davor hüten, Smiths Beitrag vorschnell als ein "Leichtgewicht" abzutun. Der ehemalige Humboldtstipendiat gehört mit Maryan Ainsworth und Larry Silver zu den führenden Vertretern der Northern Renaissance - Forschung in Amerika und hat durch seine wissenschaftlichen Beiträge zur niederländischen und deutschen Kunst, sowie zur Baukunst der Jesuiten Wesentliches zur Erforschung der europäischen Kulturgeschichte beigetragen. Dieses Spezialgebiet liegt genau an der Bruchstelle, die sich in Deutschland an der institutionellen Grenze zwischen alter und neuer Kunstgeschichte gebildet hat.

Smiths Buch ist selbstverständlich nicht das erste Handbuch, das versucht, einen großen, länderübergreifenden Bogen zu schlagen, um das nordeuropäische Kunstschaffen vom 14. bis zum 16. Jahrhundert in seiner ganzen Vielfalt zu erfassen. Im Gegensatz zu früheren Abhandlungen [1] ist sein Buch jedoch nicht an führenden Künstlerpersönlichkeiten orientiert und folgt keinem historisch-chronologischen Leitfaden. Vielmehr versucht Smith, in zwölf thematisch gegliederten Kapiteln charakteristische Merkmale des Zeitraums zwischen 1380 und 1580 herauszuarbeiten.

Dem Credo der Phaidon Serie "Art & Ideas" verpflichtet, wählt Smith einen kulturhistorischen Ansatz, in dem es vorrangig um die Einbettung von Kunstwerken und Künstlern in ihren zeitgenössischen Kontext geht. Altarbilder, Handschriften, Skulpturen und druckgrafische Zeugnisse werden nicht als autarke Kunstwerke behandelt, sondern zunächst nach ihrer ursprünglichen Aufgabe und Bedeutung befragt, bevor ihr Wert als eigenständiges Kunstwerk beleuchtet wird. Smith verzichtet in seinem Buch bewusst auf Vollständigkeit und richtet sein Augenmerk vielmehr auf eine begrenzte Anzahl konkreter Beispiele, mittels derer er die Charakteristika der Kunst herausarbeitet. Durch die geschickte Gegenüberstellung verwandter Kunstwerke gelingen ihm interessante, gelegentlich sogar überraschende Einsichten. Die meisten Beispiele stammen aus dem Bereich der deutschen und niederländischen Kunst, englische und französische Bildwerke werden zusätzlich mit eingeflochten. Auch wenn es sich bei der von ihm getroffenen Auswahl im engeren Sinne um Beispiele der zentraleuropäischen Kunst handelt (Osteuropa wird außer Prag so gut wie ausgeklammert), so treffen doch die meisten Beobachtungen auf einen weiteren Kulturkreis zu. Hierbei spielt unter anderem auch der in der neueren Forschung untersuchte Export von Kunstwerken eine Rolle, der zur Verbreitung nordeuropäischer Kunst in ganz Europa führte, die skandinavischen Länder mit eingeschlossen. Die Auswahl künstlerisch anspruchsvoller Werke verrät den (unausgesprochenen) ästhetischen Anspruch des Autors. Trotz seines kulturhistorischen Ansatzes wird der Kunstbegriff nicht in Richtung material culture ausgeweitet, sondern orientiert sich vornehmlich an den Spitzenwerken der Epoche.

Zu den von Smith behandelten Schwerpunkten gehören folgende Themenkomplexe: die Ausbildung und der Status des Künstlers (Handwerker, Gelehrter), technische Entwicklungen, das künstlerische Milieu und seine spezifischen Anforderungen (Hof, Stadt), Kunstmarkt und Kunsthandel, die Rolle der Frau im Kunstbetrieb, Varianten der Porträtkunst, profane und religiöse Kunst für den Hausgebrauch, die Ausstattung der Kirchen als Zeugnisse des Glaubens, die Beschäftigung mit dem Tod, die Entstehung der Druckkunst und ihre Folgen, Kunsttheorie und Humanismus, die Auseinandersetzung mit Italien, die Erforschung der Natur im 16. Jahrhundert, die Reformation und ihre Auswirkung auf die Kunst. In einem historiografischen Epilog untersucht Smith die Behandlung des Forschungsgegenstandes durch spätere Generationen, wie er dies ansatzweise bereits in seinem Beitrag zum Nürnberger Katalog Quasi Centrum Europae (2002, 16-43) getan hat.

Das solide verarbeitete Taschenbuch bietet im Anhang nützliche Hintergrundinformationen wie etwa ein knappes Glossar, eine Zeittafel, eine Karte, 53 kurze Künstlerbiografien, eine nach Ländern und Künstlern geordnete Literaturauswahl und einen Index. Trotz des geringen Verkaufspreises ist dieses handliche Buch reich bebildert, die Farbabbildungen sind durchweg von guter Qualität. Gelegentlich sind die Abbildungen etwas zu klein geraten und so ist eine eingehende Betrachtung des Gegenstandes nicht immer möglich. Für den Eingeweihten dienen die in den Text eingestreuten Abbildungen als willkommene Erinnerungsstütze, für den Neuling eher als amuse bouche.

Ein großes Plus dieser Abhandlung ist die geschickte Verknüpfung und die Zusammensicht unterschiedlicher Bildmedien. Neben den klassischen Gattungen Malerei, Skulptur und Architektur, werden auch die Leistungen der Grafik, der Buchmalerei (z. B. 45), der Teppichkunst (z. B. 187), der Glasmalerei (z. B. 114) und des Kunsthandwerks (z. B. 115 ff.) angemessen gewürdigt. Die gegenseitige Befruchtung der unterschiedlichen Gattungen ist in letzter Zeit zunehmend ins Blickfeld der Forschung geraten und wird hier ebenfalls angesprochen. [2] Ein weiterer Bonus ist die Auswahl aussagekräftiger Textzitate aus religiösen Traktaten, theoretischen Schriften, Testamenten, Tagebüchern, Zahlungsanweisungen etc., die gleichberechtigt neben den modernen Interpretationen des Kunsthistorikers zu Worte kommen (91). Trotz der Fülle des Materials und der Knappheit der Ausführungen ist es dem Autor ein Anliegen, auf komplexe Forschungsdebatten hinzuweisen, die in der Vergangenheit zu unterschiedlichen Lesarten geführt haben (58). Er benennt die Individuen, die auf dem Gebiete der Northern Renaissance Art Pionierarbeit geleistet haben wie etwa Panofsky, Pächt, Friedländer etc. Diese Vorgehensweise erlaubt es dem Studienanfänger, sich einen ersten Überblick über die Geschichte des Faches Kunstgeschichte zu verschaffen und sich mit grundsätzlichen Positionen vertraut zu machen, ohne im Dschungel der Spezialforschung verloren zu gehen. Der Autor vermittelt die ihm am Herzen liegenden Themen auf anschauliche und gut informierte Weise, ohne deren Inhalt unnötig zu verflachen. Nach der Lektüre eines Kapitels, möchte man mehr über die dort behandelten Kunstwerke erfahren, sie im Original betrachten oder ihren ursprünglichen Aufstellungsort näher kennen lernen. Selbst wenn das hier besprochene Buch in erster Linie für Studenten und für interessierte Laien konzipiert wurde, so kann man seine Lektüre auch einem Vollblutkunsthistoriker empfehlen, der sich über ein ihm fremdes Fachgebiet informieren möchte. Das Buch von Jeffrey Chipps Smith liefert denjenigen, die die Kunst des Handbuchschreibens näher studieren möchten, ein Modell, an dem man sich guten Gewissens orientieren kann.


Anmerkungen:

[1] Siehe zum Beispiel James Snyder: Northern Renaissance Art, New York 1985.

[2] Siehe zum Beispiel Kren / McKendrick (ed.): Illuminating the Renaissance, Los Angeles / London, 2003/2004.

Dagmar Eichberger