Rezension über:

Peter Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870-1900. Von der Reichsgründung bis zur Jahrhundertwende (= Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart; Bd. 9, 1), München: C.H.Beck 1998, XIX + 825 S., ISBN 978-3-406-44104-2, EUR 39,90
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Peter Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900-1918. Von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Weltkriegs (= Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart; Bd. IX, 2), München: C.H.Beck 2004, XIII + 924 S., ISBN 978-3-406-52178-2, EUR 49,90
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Rezension von:
Nils Freytag
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Nils Freytag: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870-1918 (Rezension), in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 6 [15.06.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/06/7648.html


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Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870-1918

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Die beiden voluminösen Bände zur deutschsprachigen Literatur in der Epoche des Deutschen Kaiserreichs sind Teil der von Helmut de Boor und Richard Newald begründeten Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart (Bde. IX, 1 und IX, 2). Die Anfänge jenes immer noch unvollendeten Langzeitprojekts reichen bis in die Gründungsphase der Bonner Republik zurück - die beiden ersten Bände zum Früh- und Hochmittelalter aus der Feder de Boors erschienen 1949 beziehungsweise 1953 und liegen mittlerweile in überarbeiteter neunter beziehungsweise elfter Auflage vor. Ursprünglich einmal entstanden aus einer "unmittelbaren Notlage" der Nachkriegsjahre, richteten sie sich vor allem an Lehrende und Studierende und sollten jenseits aktueller Forschungstrends gesicherte Grundkenntnisse übersichtlich vermitteln. Diesem Ausgangskonzept weiß sich auch Peter Sprengel noch verpflichtet, denn er bietet keine Sozialgeschichte der Literatur und ist auch um Distanz zu kurzlebigen und mitunter modischen literaturwissenschaftlichen Methoden- und Terminologiediskursen bemüht. Vielmehr stellt er "die Texte selbst und ihre Eigenart in den Vordergrund" seiner Literaturgeschichte (Bd. IX, 1, XIII).

Vor allem angesichts eines Pluralismus der konkurrierenden und zugleich miteinander verbundenen Stile, Richtungen und Begriffe jener nahezu fünf Jahrzehnte - von Realismus und Gründerzeit über Naturalismus und Fin de siècle bis hin zu Futurismus und Dadaismus - entscheidet sich Sprengel für eine lediglich auf den ersten Blick recht konventionell anmutende Gliederung entlang des klassischen Gattungsdreigestirns Erzählprosa, Dramatik sowie Lyrik. Eingerahmt werden die drei Kernkapitel jeweils von einem Porträt der Epoche und einem größeren Abschnitt zur nichtfiktionalen Prosa. Lediglich im zweiten Band findet sich mit guten Argumenten noch ein ergänzendes und zugleich abschließendes Kapitel, in dem die Literatur unter den Sonderbedingungen des Ersten Weltkriegs behandelt wird (Bd. IX, 2, 763-829). Die drei Gattungskapitel beginnen jeweils mit einigen grundsätzlichen Ausführungen zu Medien, Formen und Theorien und fahren mit einer Unterteilung nach den drei deutschsprachigen Ländern Schweiz, Österreich und Deutschland fort, sodass der an einzelnen Ländern oder Autoren interessierte Leser sich rasch zurechtfinden kann. Der Vorteil dieses schematischen Vorgehens offenbart sich bei der Lektüre sehr schnell, denn auf diese Weise gelingt es Sprengel vorzüglich, die vielfältigen Grenzüberschreitungen, Mischformen und Zusammenhänge beispielhaft an den Autoren vorzuführen, deren Werk sich auf mehrere Gattungen verteilt. Da er biografische Details zu Autoren im Unterschied zu vielen anderen Literaturgeschichten zurückstellt und nur dort einwebt, wo die behandelten Werke es zwingend erfordern, vermeidet er zugleich überflüssige Wiederholungen.

Gesichertes Grundwissen zu vermitteln heißt auch, sich weitgehend am bestehenden Kanon zu orientieren. Dessen ist der Berliner Literaturwissenschaftler sich ausdrücklich bewusst, und das setzt er konsequent um. Darüber hinaus gelingt es ihm aber durchaus immer wieder, auch weniger kanonisierte Autorinnen und Autoren zu ihrem Recht kommen zu lassen. Bereits der Auftakt des ersten Bandes legt davon eindrucksvoll Zeugnis ab, denn um dem Leser in seinem Epochenporträt die psychischen Langzeitfolgen der gewaltsamen Reichsgründung mit Blut und Eisen gerade für (junge) Frauen vor Augen zu führen, greift Sprengel auf den Roman "Aus guter Familie" (1896) der heute zumeist vergessenen Kriegskritikerin und in der bürgerlichen Frauenbewegung aktiven Schriftstellerin und Sachbuchautorin Gabriele Reuter zurück. Dieser gelang mit der "Leidensgeschichte eines Mädchens" - so der Untertitel - der literarische Durchbruch, erreichte das Buch bis 1908 doch immerhin 18 Auflagen. Und auch die heute populären, aber nicht unbedingt zur hohen Literatur gezählten Autoren Karl May und Wilhelm Busch werden ebenso berücksichtigt wie der erst in den vergangenen Jahrzehnten wiederentdeckte Oskar Panizza. Der von Krankheit geplagte antikatholische Einzelgänger geriet wiederholt mit der bayerischen Zensur in Konflikt und wurde für seine kunstvoll-groteske Tragödie "Das Liebeskonzil" (1894) zu einem Jahr Haft verurteilt (Bd. IX, 1, 527-529).

Die Grundzüge der Epoche und ihre wichtigsten Werke werden jeweils kenntnisreich und umsichtig vorgestellt und charakterisiert, viele Zitate lassen die Lektüre anschaulich und kurzweilig werden (vergleiche hier nur die trefflichen Ausführungen zu Thomas Manns "Buddenbrooks", Bd. IX, 2, 343-348). Sprengel verknüpft zudem wiederholt und gleichsam nebenbei bisher von der geschichtswissenschaftlichen Forschung nur wenig beachtete Ereignisse und grundlegende zeittypische Tendenzen mit den Spuren, die sie in der zeitgenössischen Literatur hinterlassen haben. Einige Beispiele sollen dies verdeutlichen: So hebt er etwa die enge Beziehung der verheerenden Ostsee-Sturmflut des Jahres 1872 zu der kurz darauf um sich greifenden Gründerkrise hervor, die bereits viele Zeitgenossen herstellten. Beides hat sich nicht nur im literarischen Kollektivsymbol der Flut niedergeschlagen, sondern auch in Friedrich Spielhagens vielbändigem Gründerzeitroman Sturmflut (1877), in welchem der linksliberale Bismarckkritiker Reichsgründung, Gründerkrise und Naturkatastrophe untrennbar miteinander verbindet (Bd. IX, 1, 305-307). Auch die so wichtige, weil nationalistisch und konservativ aufgeladene, burschenschaftliche Grundierung des frühen Berliner Naturalismus wird quasi nebenbei erwähnt, aber nicht ohne auf weiteres Erkenntnispotenzial hinzuweisen (Bd. IX, 1, 127). Und schließlich wird auch der heute durch das Fernsehen allgegenwärtige Kinderbuchklassiker Waldemar Bonsels nicht ausgelassen: "Die Biene Maja und ihre Abenteuer" (1912). Sprengel bindet das Tiermärchen in die vielfach greifbaren monistischen Strömungen der Wilhelminischen Ära ein und führt Bonsels humorvoll-aufklärende Absicht plastisch vor Augen, indem er eine Passage zitiert, in der sich Maja mit der Spinne Hannibal über deren "abbes Bein" unterhält, das jener ein Mensch ausgerissen hat (Bd. IX, 2, 182f., 204 f.).

Die Zusammenschau beider Bände lässt Trennendes wie Verbindendes deutlicher hervortreten: In der Epoche dominierten - von wenigen Ausnahmen wie etwa Bayreuth einmal abgesehen - mit Zürich sowie den Haupt- und Residenzstädten Wien, Berlin und München vor allem vier große Zentren das literarische Leben im deutschsprachigen Raum. Namen wie Keller und Meyer (Zürich), Hofmannsthal und Schnitzler (Wien), Hauptmann und Fontane (Berlin), Wedekind und Thomas Mann (München) sind heutzutage unverrückbarer Bestandteil des literarischen Schul- und Universitätskanons. Selbst wenn die urbanen Zentren nach 1900 ihre künstlerische Sogwirkung nicht zuletzt auch wegen der ortsansässigen Verlage und Zeitschriften behaupteten, so kamen seit der Jahrhundertschwelle viele ästhetische Impulse nun von der Peripherie, hierfür stehen etwa Worpswede, Hellerau, das von Harry Graf Kessler protegierte Weimar und - denkt man etwa an Kafka und Werfel - auch Prag (Bd. IX, 1, 123-149, Bd. IX, 2, 116-138). Erinnert man sich daran, dass weltpolitische Konflikte von der Peripherie nun auch verstärkt in das Zentrum Europa durchschlugen, dann lässt sich hier wohl ein Grundzug der Epoche erkennen.

Auch wenn viele Tendenzen bereits vor 1900 erkennbar sind, offenbart auch der Blick auf die nichtfiktionale Prosa den tief greifenden Umbruch um die Jahrhundertwende: Viel stärker als zuvor und oftmals als Ausdruck individueller Krisen drängte das Tagebuch als "Zeichen der Zeit" (Robert Musil, 1901) an das Licht der selbst oft krisengeschüttelten Öffentlichkeit, davon zeugen nicht zuletzt auch die Tagebücher des weltreisenden Kunstmäzens Harry Graf Kessler. Einen vergleichbaren Aufschwung erlebte auch die nun offensichtlich vergleichsweise viel gelesene und gut bezahlte Reiseliteratur, mit der sich das wilhelminische Lesepublikum ein Stück (koloniale) Fremdheit in die eigenen vier Wände oder die Lesehallen holte.

Ausführlich, sachlich, wohltuend zurückhaltend und immer wieder sorgfältig abwägend führt Peter Sprengel dem Leser die Literatur jener Epoche vor Augen, die im Krieg entstand und in ihm unterging. Und die Bände stecken für den neugierigen Entdecker ebenso wie für Literaturwissenschaftler und Historiker voller Anregungen und machen Lust zum Weiter- und Wiederlesen. Zwei umfangreiche und übersichtlich untergliederte Bibliografien sowie Register beschließen die beiden in jeder Hinsicht beeindruckenden Bände. Die zuverlässigen Register sind jeweils alphabetisch nach Autoren geordnet, die behandelten Werke sind ihnen direkt zugeordnet, sodass diese zweibändige Geschichte der deutschsprachigen Literatur zwischen 1871 und 1918 auch als Handbuch und Nachschlagewerk für die Lehre auf lange Sicht unentbehrlich sein wird.

Nils Freytag