Rezension über:

Karin Pütt: Zelte, Kuppeln und Hallenhäuser. Wohnen und Bauen im ländlichen Syrien, Petersberg: Michael Imhof Verlag 2005, 280 S., 198 Farb-, 177 s/w-Abb., ISBN 978-3-937251-75-2, EUR 69,00
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Rezension von:
Matthias Donath
Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Matthias Donath: Rezension von: Karin Pütt: Zelte, Kuppeln und Hallenhäuser. Wohnen und Bauen im ländlichen Syrien, Petersberg: Michael Imhof Verlag 2005, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 6 [15.06.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/06/8370.html


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Karin Pütt: Zelte, Kuppeln und Hallenhäuser

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Syrien mag uns sehr weit entfernt vorkommen. Besonders gilt das für die Region, die Karin Pütt seit 1983 systematisch erforscht: Nordostsyrien, eine ländliche Gegend zwischen Euphrat und Tigris, die als besonders rückständig gilt. Feste Behausungen gibt es hier erst seit etwa einhundertzwanzig Jahren, denn die nomadisch lebendenden Stämme begannen erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, sesshaft zu werden. Wenn man aber Karin Pütts reich bebildertes Buch liest, das auf einer Dissertation an der RWTH Aachen beruht, bemerkt man, dass viele Fragestellungen denen der mitteleuropäischen Hausforschung gleichen: Es geht darum, "warum Gebäude wie aussehen, oder anders ausgedrückt: wie Formen entstehen."

Die Autorin beschreibt das ländliche Bauen als "vernakuläre Architektur". Hinter dem traditionellen Bauen - wobei "traditionell" angesichts der kurzen Zeitraums seit der Sesshaftwerdung zu relativieren ist - steckt ein unausgesprochener Kanon, der auf einem komplexen System an Konventionen beruht. Im Hausbau müssen gewisse Regeln eingehalten werden, die sich aber auch verändern können. Um diese Konventionen zu ermitteln, hat die Autorin in Surveys den Hausbestand der gesamten Region systematisch erfasst und umfassend dokumentiert, wobei sie die typologische Methode der mitteleuropäischen Hausforschung nutzte. Was man daraus lernen kann, ist die zielgerichtete Abstufung des Genauigkeitsgrades: Wird in der Hausforschung hier zu Lande eine außerordentlich hohe Genauigkeit gefordert, die man an Einzelbauten durchexerziert, während der überregionale Zusammenhang mitunter vergessen wird, bediente sich Karin Pütt einer grobmaschigen Arbeitsweise und sehr einfacher Aufmaßverfahren. Auf diese Weise gelang es ihr, eine flächendeckende Untersuchung vorzulegen. Den großräumigen Überblick, den das vorliegende Buch vermittelt, wünschte man sich auch für das ländliche Bauen vieler deutscher Kulturlandschaften.

Im Hausbau Nordostsyriens äußert sich eine überraschende Formenvielfalt. Aus den westlich angrenzenden bäuerlichen Gebieten übernahm man das Kuppelhaus, bei dem mehrere Kuppelbauten aneinander gereiht sind. Die Bewohner modifizierten das osmanische Mittelhallenhaus und entwickelten in wenigen Generationen neue Haustypen, darunter das Zeilen- und Winkelhaus, das Mittelbalkenhaus, das T-Haus, das Vorhallenhaus und das Iwan-Haus. Obwohl eine ethnisch und religiös gemischte Bevölkerung (Araber, Kurden, Aramäer, Kaukasier, Turkmenen, Yeziden, Armenier) die Gegend besiedelt, haben sich die materiellen Kulturen sehr stark aneinander angeglichen. Ethnisch oder konfessionell bedingte Bauformen lassen sich nicht nachweisen - die Architektur verrät auf den ersten Blick nicht die Herkunft der Bewohner. Erfahrungen aus dem nomadischen Leben haben nicht nur die Grundrisseinteilung beeinflusst, sie wirken bis heute in der Wohnnutzung und in Architekturelementen nach. Ein Hinweis auf die alten Stammensstrukturen sind beispielsweise die Gästehäuser, die in den 1950er-Jahren, als die Landwirtschaft aufblühte, von den Stammesführern als Orte halböffentlicher Repräsentation errichtet wurden.

Die Autorin beschränkt sich nicht auf die Beschreibung der Bauformen, sondern widmet sich, ausgiebig den Wohnverhältnissen und dem alltäglichen Leben in den Häusern. Wer benutzt wie welche Raumteile? Wer sitzt wo? - diese Fragen sagen sehr viel über die sozialen Grundlagen der Gesellschaft und ihre Auswirkungen auf das Bauen. Dass es hier zu Lande im 19. Jahrhundert, als die traditionellen Wohnformen noch lebendig waren, eine Hausforschung dieser Art - im Spannungsfeld von Architekturgeschichte und Volkskunde - noch nicht gab, wird uns erst heute schmerzlich bewusst, denn wir wissen nur wenig über Raumnutzungen und Wohnformen vergangener Jahrhunderte. Umso mehr ist es zu begrüßen, dass die Autorin hier die engen Grenzen der sachbezogenen Bauforschung überschreitet und die Menschen in den Mittelpunkt stellt. Fotos und Zeichnungen gewähren einen Einblick in das alltägliche Leben und die sozialen Bedingungen, das dem Buch beigefügte Glossar hält die Begriffe für Bauteile, Einrichtungsgegenstände und Räume in arabischer und kurdischer Sprache fest. Wir sehen aber auch, dass Bauen und Wohnen einer ständigen Entwicklung unterworfen sind. Karin Pütt beschreibt, wie sich die Lebensverhältnisse unter dem Einfluss der Moderne wandeln: Die traditionellen Haustypen werden zu Gunsten von "Betonvillen" mit offener Vorhalle aufgegeben, die Kuppelbauten verfallen, der Fernseher verändert die Nutzung des Empfangs- und Gästeraumes, während der Wohn- und Schlafraums inzwischen als Aufbewahrungsort des Besitzstandes dient. Das unwiederbringliche Verschwinden der traditionellen ländlichen Architektur scheint nur eine Frage der Zeit zu sein. Dass sich die Methoden der Denkmalpflege, wie wir sie kennen, auch auf das Bauen in Nordostsyrien übertragen lassen, ist eher anzuzweifeln. Welchen Wert besitzen die alten Wohnbauten für die Gesellschaft, wenn die Sesshaftwerdung erst vor wenigen Generationen begann? Welcher Zustand der sich stets verändernden Bauten soll eigentlich konserviert werden? Ist es nicht eher das schwarze Ziegenhaarzelt, das die Identität der früher nomadisch lebenden Bevölkerung verkörpert?

Gerade daran, dass die bisher üblichen Bauformen mehr und mehr verschwinden, lässt sich der Wert des sehr anschaulichen Buches festmachen: Es dokumentiert eine untergehende Welt. Auch für den, der sich nicht in Syrien auskennt, eröffnet das Buch ein großartiges Panorama orientalischen Lebens.

Matthias Donath