Rezension über:

Götz Aly: Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2005, 445 S., ISBN 978-3-10-000420-8, EUR 22,90
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Rezension von:
Armin Nolzen
Warburg
Empfohlene Zitierweise:
Armin Nolzen: Rezension von: Götz Aly: Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2005, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 7/8 [15.07.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/07/8193.html


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Götz Aly: Hitlers Volksstaat

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Mit seinem neuen Buch "Hitlers Volksstaat" will Götz Aly erklären "wie ein im Nachhinein so offenkundig betrügerisches, größenwahnsinniges und verbrecherisches Unternehmen wie der Nationalsozialismus ein derart hohes, den Heutigen kaum erklärbares Maß an innenpolitischer Integration erreichen" konnte (36). Die Antwort auf diese Frage hält er gleich im nächsten Satz parat: Demnach sei der NS-Staat eine "Gefälligkeitsdiktatur" gewesen, die durch verschiedene sozialpolitische und fiskalische Vergünstigungen dafür gesorgt habe, die Mehrheit der deutschen Bevölkerung ins "Dritte Reich" zu integrieren. Die meisten dieser Maßnahmen, so Aly, seien auf Kosten der Juden, der im "Großdeutschen Reich" beschäftigten Zwangsarbeiter und der Bevölkerung in den besetzten Gebieten gegangen, deren Vermögen über Umwege in die Brieftaschen der "Durchschnittsarier" geflossen sei. Auf der Basis eines "umfassenden Raub- und Vernichtungskrieges" habe das NS-Regime "für ein in Deutschland bis dahin nicht gekanntes Maß an Gleichheit und sozialer Aufwärtsmobilisierung" gesorgt (38). Letztlich hätten 95 Prozent der Deutschen von dieser Umverteilungspolitik profitiert (28 f.).

Dies sind einige große Thesen, die nicht nur sorgfältiger empirischer Belege, sondern auch einer methodisch einwandfreien Analyse bedürfen. Wie ist es darum bestellt? Im ersten Teil seiner Studie, der den Titel "Stimmungspolitiker in Aktion" trägt (9-90), will Aly zeigen, wie das NS-Regime innenpolitisch die Lasten zum Vorteil der sozial Schwächeren verteilte. Im Mittelpunkt seiner Analyse steht eine in der Forschung bisher wenig beachtete Institution: das Reichsfinanzministerium unter dem Deutschnationalen Lutz Graf Schwerin von Krosigk und dessen kongenialem Staatssekretär Fritz Reinhardt, einem alten Günstling Hitlers. Auf der Basis der Aktenüberlieferung dieses Ministeriums zeichnet Aly die Grundzüge der NS-Steuerpolitik zwischen 1935/36 und 1943/44 nach. Eine der Quellen der deutschen Staatsfinanzen waren die Besitztümer der Juden, deren Enteignung und Vertreibung, so Aly, in erster Linie der Staatskasse zu Gute kam, weniger hingegen privaten Profiteuren, Banken oder Großunternehmen. Er schätzt, dass "mindestens neun Prozent der laufenden Reichseinnahmen im letzten Vorkriegshaushalt aus Arisierungserlösen" stammten (62). Diese Einnahmen, so Alys Argumentation, wurden dringend zur Refinanzierung der Kriegskosten gebraucht, weil der Reichshaushalt kurz vor dem Zusammenbruch gestanden habe. Nicht zuletzt aufgrund der staatlichen Profite aus den "Arisierungen" habe es sich das NS-Regime leisten können, "die deutschen Arbeiter wie große Teile der Angestellten und Beamten bis zum 8. Mai 1945 nicht einen Pfennig direkter Kriegssteuern" bezahlen und ihnen weitere soziale Vergünstigungen zukommen zu lassen (68).

In Teil II seines Buches "Unterwerfen und Ausnutzen" (91-206) wechselt Aly die Perspektive und zeigt, auf welche Art und Weise sich ein Teil der deutschen Bevölkerung direkt bereicherte. Dabei nimmt er die private Ausplünderung der besetzten Länder durch deutsche Soldaten, die Übergabe des Hausrates deportierter Juden an "Bombengeschädigte" und die vergleichsweise gute Nahrungsmittelversorgung an der "Heimatfront" in den Blick, die nur deshalb aufrecht erhalten werden konnte, weil man Millionen sowjetischer Kriegsgefangener und Zivilisten verhungern ließ. Anhand der Soldatenbriefe Heinrich Bölls, des späteren Literaturnobelpreisträgers und Aktivisten der Friedensbewegung, verdeutlicht er, wie deutsche Soldaten die besetzten Gebiete regelrecht leer kauften und ihren Angehörigen in der Heimat massenhaft Lebensmittel und Güter des täglichen Gebrauchs zukommen ließen. Eine besondere Rolle spielten dabei die Wehrmachtintendanten, die den Haushalten der besetzten Länder die Kosten der "bald habituelle[n] Raffsucht deutscher Soldaten" (124) aufbürdeten. Diese Ausplünderungspolitik verstieß, wie Aly zeigt, gegen Artikel 52 der Haager Landkriegsordnung und den darin niedergelegten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die oft vertretene Ansicht, die Wehrmacht habe in West- und Nordeuropa eine völkerrechtskonforme Besatzungspolitik betrieben, kann damit als widerlegt gelten.

In eine ähnliche Richtung argumentiert Aly in Teil III "Die Enteignung der Juden" (207-308), dem wohl innovativsten Kapitel seines Buches. Darin rekonstruiert er den Raub jüdischen Eigentums in Serbien, Ungarn, Norwegen, Belgien, den Niederlanden, Frankreich, der Slowakei, Bulgarien und Griechenland und wagt sich auf ein Terrain vor, das vor ihm kaum ein Historiker betreten hat. In diesen Ländern vollzog sich das "Prinzip Staatsraub" stets auf dieselbe Weise. Die NS-Besatzungsorgane, in der Regel die Wehrmacht, übten Druck auf die dortigen Regierungen aus, antijüdische Maßnahmen zu ergreifen. Das daraufhin enteignete Vermögen der einheimischen Juden gelangte dann in den Staatshaushalt der besetzten und befreundeten Länder, von wo aus es wieder auf die deutschen Besatzungskonten zurückfloss. Mit diesen Einnahmen ließ sich, so jedenfalls Aly, eine signifikante Erhöhung der Lohnsteuer im Deutschen Reich vermeiden, was der deutschen Bevölkerung nutzte. Die Deportation der Juden aus Saloniki führt Aly auf eine galoppierende Inflation zurück, welche die Kaufkraft der in Griechenland stationierten deutschen Soldaten schwinden ließ. Aus diesem Grunde entschied sich das NS-Regime dafür, die griechische Landeswährung zu stützen, indem man 25.000 Goldpfund von den Juden Salonikis erpresste und diese anschließend deportierte. Eine selbst geschaffene finanzielle (Zwangs-)Lage wird hier zum unmittelbaren Auslöser eines speziellen antijüdischen Verfolgungsprozesses stilisiert.

Teil IV von "Hitlers Volksstaat" heißt "Verbrechen zum Wohle des Volkes" (309-362) und besteht teils aus einer ausführlichen Berechnung der Kriegseinnahmen des Deutschen Reiches, teils aus einer Zusammenfassung der Ergebnisse. Aly konzediert der deutschen Bevölkerung eine "passive Loyalität" (339), die ausgereicht habe, um die Handlungsfähigkeit des NS-Systems bis zum Sommer 1944 zu gewährleisten. Diese "passive Loyalität" habe sich einem Mix aus fiskalischer Umverteilung, Sozialpolitik und ökonomischer Expropriation der besetzten Gebiete verdankt und damit eben jener "Mischung aus milder Steuerpolitik, guter Versorgung und punktuellem Terror an den Rändern der Gesellschaft", die die "Deutschen mehrheitlich weder in Fanatiker noch in überzeugte Herrenmenschen" verwandelte, sondern sie "zu Nutznießern und Nutznießerchen" machte (360 f.). Diese Aussage kommt vollkommen überraschend, hat sich Aly zuvor doch fast ausschließlich auf der Makroebene bewegt und die Empfänger von Steuervergünstigungen und Sozialleistungen gar nicht in den Blick genommen. Er gibt also nur vor, das Verhältnis zwischen NS-Regime und Bevölkerung zu untersuchen, und stellt stattdessen die Strategien staatlicher Akteure und Institutionen in den Mittelpunkt seiner Analyse.

Aus diesem methodischen Sündenfall ergibt sich eine Reihe von weiteren Problemen. Alys Annahme, dass die Gewährung von sozialen Vergünstigungen auf der Seite der Rezipienten politische Loyalität hervorgerufen habe, ließe sich empirisch genauso gut bestreiten, denkt man etwa an die Militärs, also die durch das NS-Regime wohl am intensivsten privilegierte Kaste. Es waren eben die von Moltkes, von Stauffenbergs, von Tresckows und andere, welche durch Dotationen und Vergünstigungen gerade nicht davon abgehalten wurden, gegen das NS-Regime zu opponieren. In diesem Zusammenhang rächt sich, dass Aly die deutsche Bevölkerung kaum nach sozialem Status, Geschlecht, Alter oder institutioneller Zugehörigkeit differenziert und verschiedene Grade individueller Nutznießerschaft herausarbeitet. Darüber hinaus nimmt er eine undifferenzierte und methodisch fragwürdige Gleichsetzung von materiellen Vorteilen mit sozialer Aufwärtsmobilität vor. Angeblich beschleunigte der Zweite Weltkrieg den "Rückbau der Klassenschranken in Deutschland" (358), weil die NS-Steuerpolitik den "kleinen Mann" geschont und die besser Verdienenden belastet habe. Soziale Mobilität kann jedoch nicht nur anhand von ökonomischen Kriterien, sondern muss auch durch Bildungstitel, immaterielle Auszeichnungen, Ämter und persönliche Beziehungen gemessen werden. Dazu bedarf es einer Gesamtanalyse des sozialen Raumes und der Inklusion und Exklusion innerhalb der "Volksgemeinschaft". Längst nicht alle "arischen" Deutschen hatten dieselbe Chance, ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital zu akkumulieren, sodass soziale Ungleichheit vielfach perpetuiert wurde.

Für eine Untersuchung, die den NS-Staat als "Gefälligkeitsdiktatur" interpretiert, bleibt Alys Darstellung der NS-Sozialpolitik überraschend eklektizistisch. Die reichhaltige Forschung zu diesem Thema wird kaum zur Kenntnis genommen. Zudem blendet Aly zentrale Politikfelder aus, die für die Integration der Bevölkerung in den NS-Staat von Belang waren. Das Konzept des "charismatischen Diktators", das Ian Kershaw und Hans-Ulrich Wehler in ihren Synthesen zur Geschichte des "Dritten Reiches" benutzen, wird in "Hitlers Volksstaat" nicht diskutiert. Worin die Integrationsleistung der NS-Ideologie bestand und inwiefern ein übersteigerter Nationalismus als Bindeglied zwischen Regime und Bevölkerung wirkte, interessiert Aly wenig. Im Vergleich dazu werden Steuerpolitik und Kriegsfinanzierung in "Hitlers Volksstaat" über Gebühr in den Vordergrund gestellt. Aly argumentiert über weite Strecken tautologisch, denn die angeblich so integrativen Rückwirkungen materieller Bereicherung werden aus den vom NS-Regime geschaffenen fiskalischen Anreizen deduziert. Somit fallen der zu erklärende Sachverhalt und die herangezogene Erklärung zusammen.

Die abschließende Bewertung von "Hitlers Volksstaat" fällt insofern kritisch aus: Das Buch ist eine klassische Politikgeschichte von oben und hat seine Stärken im zweiten und dritten Teil, wo es Aly gelingt, den Zusammenhang zwischen der staatlichen Kriegsfinanzierung und der Enteignung der europäischen Juden aufzuzeigen. Für die Frage nach dem Verhältnis zwischen NS-Regime und Bevölkerung sind seine Ausführungen unergiebig. Mit "Hitlers Volksstaat" wird Aly zwar seinem Ruf als maßgeblicher Holocaust-Forscher gerecht. Als Interpret des Verhältnisses zwischen NS-Regime und Bevölkerung ist er jedoch gescheitert.

Armin Nolzen