Rezension über:

Lutz Hachmeister: Schleyer. Eine deutsche Geschichte. Unter Mitarbeit von Matthias von der Heide, Stefan Krings und Christian Wagener, München: C.H.Beck 2004, 447 S., 38 Abb., ISBN 978-3-406-51863-8, EUR 24,90
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Rezension von:
Birgit Seiderer
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München
Empfohlene Zitierweise:
Birgit Seiderer: Rezension von: Lutz Hachmeister: Schleyer. Eine deutsche Geschichte. Unter Mitarbeit von Matthias von der Heide, Stefan Krings und Christian Wagener, München: C.H.Beck 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 9 [15.09.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/09/5345.html


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Lutz Hachmeister: Schleyer

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Der Name Hanns Martin Schleyer ist auf tragische Weise untrennbar mit dem Terrorismus der Roten Armee Fraktion (RAF) und dem "deutschen Herbst" verknüpft. Am 18. Oktober 1977 wurde Schleyer, nach rund vierzigtägiger Entführung, von der RAF ermordet; ihre Erpressungsversuche gegenüber der Bundesrepublik waren gescheitert.

Einleitend hebt Hachmeister in seiner Biografie "Schleyer. Eine deutsche Geschichte" hervor, dass dessen Leben in der öffentlichen Erinnerung seither ganz vom Ende bestimmt worden sei und 1977 alle ernst zu nehmenden Recherchen über den Lebensweg des vom Staat Geopferten schlagartig aufgehört hätten (15). Mit seiner "verstehenden Biografie neueren Typs" (27) möchte Hachmeister die "fortdauernde Okkupation der Biografie Hanns Martin Schleyers durch die RAF" (23) durchbrechen.

Hachmeister, der aus Gründen der Lesbarkeit auf einen Anmerkungsapparat verzichtet, stützt seine Studie auf umfassende Archivrecherchen und Zeitzeugengespräche. Für die Zeit der Terrorismusbekämpfung kann der Autor noch nicht auf staatliche Archivalien zurückgreifen, doch hebt Hachmeister auch andere Schwierigkeiten der Quellenlage hervor: Bruchstückhafte Überlieferungen für die Zeit der 1930er-Jahre, Aktenvernichtung Anfang 1945 in Prag sowie Überlagerung der Erinnerung der Zeitzeugen durch die Geschehnisse von 1977. Hinzu kommt, dass Schleyer nicht gern zur Feder griff und "mündliche Kommunikation, klandestine Verhandlungen, Gespräche unter Männern zu später Stunde" (24) bevorzugte. In dieser Quellenproblematik mag einer der Gründe liegen, warum die Person Hanns Martin Schleyers in der Studie immer wieder in den Hintergrund rückt und eigentümlich blass bleibt.

In sechs Kapiteln verfolgt Hachmeister Schleyers Lebensweg. Nach einer einführenden Schilderung der Kindheit und Jugend Hanns Martin Schleyers, der 1915 in Offenburg geboren wurde, widmet Hachmeister sich ausführlich den Jahren 1933 bis 1945. Schleyer trat im Juli 1933 in die SS ein, begann zum Wintersemester 1933/34 sein Jura-Studium in Heidelberg und wurde Mitglied des "waffenstudentischen Corps Suevia". In diese Zeit fällt neben seinen studentenpolitischen Aktivitäten auch der Beginn seiner Karriere beim Reichsstudentenwerk - zunächst in Heidelberg 1937, dann ab 1938 in Innsbruck und ab 1941 in Prag. 1943 wechselte Schleyer zum "Zentralverband der Industrie für Böhmen und Mähren" (ZVI). Er wurde Leiter des Präsidialbüros und persönlicher Sekretär von Bernhard Adolf, dem Präsidenten des ZVI. Schleyer wurde, so Hachmeister, zu einem der engsten und wichtigsten Mitarbeiter Adolfs.

Nach dreijähriger Internierung und einer Einstufung als "Mitläufer ohne Sühnemaßnahmen" wurde Schleyer 1949 Referent für Außenwirtschaft bei der Industrie- und Handelskammer Baden-Baden. Bereits zwei Jahre später setzte seine Karriere bei Daimler-Benz ein, wobei Verbindungen aus der NS-Zeit, der "Prag-Faktor" (242), wie Hachmeister formuliert, eine Rolle gespielt haben dürften. Schleyer stieg in relativ kurzer Zeit zum Personalchef des Unternehmens auf und machte "in seiner beruflichen Positionierung [...] da weiter, wo er 1945 in Prag aufgehört hatte" (31). Nachdem er aber 1970 an seinem Ziel, Vorstandsvorsitzender zu werden, gescheitert war, schwenkte Schleyer vollständig auf die Verbandsarbeit um.

Bereits seit 1962 Vorsitzender des Verbandes der Metall-Industrie Baden-Württembergs und maßgeblich verantwortlich für die erste Generalaussperrung in der Bundesrepublik beim Metallarbeiterstreik 1963, wurde Schleyer 1973 Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände und in Personalunion Anfang 1977 Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie.

Als Repräsentant des "kapitalistisch-faschistischen Systems" wurde Schleyer schließlich am 5. September 1977 von der RAF entführt. Doch das Kalkül der Terroristen, mit Schleyer die inhaftierten RAF-Häftlinge in Stammheim freipressen zu können, ging nicht auf. Nachdem die Bundesregierung bei der Entführung von Peter Lorenz im Jahre 1975 den Forderungen der RAF nachgegeben hatte, war sie diesmal nicht bereit, sich erneut erpressen zu lassen; diese klare Linie wurde zudem durch die Morde an Siegfried Buback und Jürgen Ponto in der ersten Jahreshälfte 1977 bestärkt.

Lutz Hachmeister legt mit seiner Studie eine wichtige und lesenswerte Biografie vor. In der Darstellung irritieren aber leider weit ausholende Exkurse sowie eine Fülle eingeschobener Einzelbiografien. Zwar kann Hachmeister bis zu einem gewissen Grad belegen, wie sehr Schleyer auf Mentoren und Förderer angewiesen war, doch vermisst man oft eine konzise Verknüpfung der Exkurse und Einzelbiografien mit Leben und Wirken Schleyers. Das Vorgehen Hachmeisters, Netzwerke zu skizzieren und Sphären zu beschreiben, um dann Schleyer in seinen jeweiligen Lebensstationen darin zu verorten, gelingt nicht immer überzeugend. In der biografischen Spurensuche und den episodenhaften Ausführungen geht Schleyer als Gegenstand der Untersuchung immer wieder verloren.

Die Stärke von Hachmeisters Biografie liegt eher darin, eine exemplarische, weitgehend bruchlose Karriere über 1945 hinaus mit besonderem Augenmerk auf die "persönliche Umwelt" (27) zu beleuchten und insofern - wie der Untertitel lautet - eine "deutsche Geschichte" zu schildern.

Hachmeister hat aber mit dem Untertitel noch einen anderen Zugriff im Auge. Die RAF ist für Hachmeister eine "sehr deutsche Erscheinung" (11). Ausgehend von Jillian Beckers These zur RAF als "Hitler's Children" (1977) stellt er die Frage nach der "aufgehobenen und verspäteten, außerstaatlichen Militanz in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts" (37). Die Analyse müsse hier beim Ersten Weltkrieg ansetzen und führe über die Freikorps, die radikal-völkischen Studentenverbindungen, stalinistischen Kadergruppen, die Sturmabteilungen und den NS-Studentenbund bis hin zum späten SDS und zu den terroristischen Gruppierungen der Siebzigerjahre. Für Hachmeister lassen sich an Schleyers Lebenslauf "die Abfolgen von Militanz, die historischen Wechselwirkungen politischer Radikalität, besonders prägnant aufweisen" (ebd.). Diese in der Einleitung formulierte These wird im Folgenden von Hachmeister nicht mehr stringent verfolgt. Wechselwirkungen politischer Radikalität lassen sich wohl in dieser Form auch nicht feststellen, selbst wenn man Hachmeister zustimmen würde, dass der Mord an Schleyer "in namenlosem Gebiet" in "Gestapo- und SS-Manier" (403) ausgeführt wurde.

Birgit Seiderer