Rezension über:

Sylvia Schraut / Gabriele Pieri: Katholische Schulbildung in der Frühen Neuzeit. Vom "guten Christenmenschen" zu "tüchtigen Jungen" und "braven Mädchen". Darstellung und Quellen, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2004, 465 S., ISBN 978-3-506-78133-8, EUR 44,90
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Rezension von:
Andreas Rutz
Institut für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande, Universität Bonn
Redaktionelle Betreuung:
Michael Kaiser
Empfohlene Zitierweise:
Andreas Rutz: Rezension von: Sylvia Schraut / Gabriele Pieri: Katholische Schulbildung in der Frühen Neuzeit. Vom "guten Christenmenschen" zu "tüchtigen Jungen" und "braven Mädchen". Darstellung und Quellen, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 11 [15.11.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/11/8635.html


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Sylvia Schraut / Gabriele Pieri: Katholische Schulbildung in der Frühen Neuzeit

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Endlich mal ein Buch zur frühneuzeitlichen Schulgeschichte, das auch Mädchen behandelt? Nein: Endlich mal ein Buch, das vor allem Mädchen behandelt! In der schulgeschichtlichen Forschung ist in der Regel das Gegenteil der Fall: Thematisiert werden traditionellerweise die Bildungsmöglichkeiten von Jungen und jungen Männern. Man denke nur an den ersten Band des monumentalen 'Handbuchs der deutschen Bildungsgeschichte', in dem Frauen und Mädchen bis auf wenige Randbemerkungen nicht vorkommen. Sylvia Schraut und Gabriele Pieri verfahren genau andersherum: Unter einem Titel, der keine geschlechtsspezifische Einschränkung erkennen lässt, legen sie eine breit angelegte Dokumentation zur katholischen Mädchenbildung in der Frühen Neuzeit vor. Im Mittelpunkt steht dabei das Fürstbistum Würzburg. Einleitend geht der Quellensammlung ein ca. 100 Seiten umfassender Darstellungsteil zum Thema voraus.

Da Quellensammlungen zu diesem wichtigen Aspekt der frühneuzeitlichen Bildungsgeschichte fast völlig fehlen, wäre dem Buch auch bei einem eindeutigeren Titel gewiss die nötige Aufmerksamkeit zuteil geworden. Da sich die Debatte über Mädchenbildung zudem fast ausschließlich entlang pädagogischer Diskurse bewegt, ist der hier gewählte landesgeschichtliche Zugriff vorbildlich. Die Bildungsmöglichkeiten von Mädchen in der Frühen Neuzeit lassen sich nämlich nicht aus den immer wieder bemühten Schriften Rousseaus, Fénélons und Campes rekonstruieren, sondern hatten vor allem einen lokalen und regionalen Bedingungshorizont. Der Einfluss pädagogischer Theorien kann dabei nicht von vornherein als gegeben angenommen werden, sondern wäre im Einzelfall nachzuweisen.

Bildungsgeschichtlich ist das Hochstift Würzburg vor allem für das 18. Jahrhundert von Bedeutung. Die hier unter Fürstbischof Friedrich Karl von Schönborn und seinen Nachfolgern durchgeführten Schulreformen hatten Vorbildcharakter für entsprechende Projekte in anderen aufgeklärt-katholischen Territorien des Reiches. Zudem entwickelte sich Würzburg in dieser Zeit zu einem Zentrum der katholischen Schulbuchproduktion und exportierte auch auf diese Weise seine pädagogischen Ideen. Die vorangehende Schulentwicklung war dagegen weniger exzeptionell und verlief im Gleichklang mit derjenigen in anderen geistlichen Territorien. Wichtigste Impulsgeber für die obrigkeitliche Schulpolitik waren seit dem späten 16. Jahrhundert katholische Reform und Konfessionalisierung. Im 17. Jahrhundert wurden diese durch das Auftreten katholischer Lehrorden unterstützt. Die erwähnten Schulreformen des 18. Jahrhunderts schließlich betrafen zunächst das höhere und erst in einem zweiten Schritt das niedere Schulwesen.

In diesen Rahmen lässt sich auch die Entwicklung des Würzburger Mädchenschulwesens einordnen. Auffällig bei Schrauts diesbezüglichen Ausführungen (13-70) ist die Dominanz zweier Aspekte: der obrigkeitlichen Schulpolitik einerseits und der Ursulinengründungen in Kitzingen (1660) und Würzburg (1712) andererseits. So zentral diese gewesen sein mögen, fragt sich doch, ob nicht noch andere Facetten des Themas in den Akten aufzustöbern gewesen wären, zumal die Autorin eingangs konstatiert, dass die Schulen der Lehrorden, "wenig mit der grundsätzlichen Ausgestaltung der öffentlichen Bildungsbemühungen und -institutionen im katholischen Raum zu tun haben" (15). Wer, wenn nicht die weiblichen Lehrorden, hat in der Frühen Neuzeit separate katholische Mädchenschulen betrieben? Gab es darüber hinaus öffentliche oder private Schulen für Mädchen, und welchen prozentualen Anteil hatten sie an der Gesamtheit der Elementarschulen? Wie und was wurde dort unterrichtet? Hierüber erfahren wir bei Schraut kaum etwas. Nur am Rande verweist sie für das 17. Jahrhundert auf verschiedene Mädchenschulen in Würzburg (30, 38). Im späten 18. Jahrhundert scheint es zunehmend auch außerhalb der Residenz solche Einrichtungen gegeben zu haben (42 f.). Aufschlussreicher ist diesbezüglich die Quellendokumentation.

Die geringe Zahl separater Mädchenschulen stützt die Kernthese Schrauts, die plakativ im Untertitel des Bandes wiedergegeben ist: Die schulische Ausbildung von Jungen und Mädchen habe bis ins 18. Jahrhundert noch nicht auf die Vermittlung geschlechtsspezifischer Rollenmuster gezielt. Im Vordergrund stand laut Schraut vielmehr die Erziehung zu 'guten Christenmenschen'. Erst um die Wende zum 19. Jahrhundert sei dieses allgemeine Erziehungsziel von einer nach Geschlechtern differenzierenden Pädagogik abgelöst worden, die die Kinder im Sinne der Lehre von den Geschlechtscharakteren zu 'tüchtigen Jungen' bzw. 'braven Mädchen' bilden wollte. Diesem sich wandelnden Erziehungsdiskurs entspreche die zunehmende geschlechtsspezifische Differenzierung des Bildungswesens. Dieses Interpretationsmodell verbindet den regionalen schulgeschichtlichen Befund mit der bekannten These Karin Hausens über die Entstehung der Geschlechtscharaktere um 1800. Den verschiedenen im 17. und 18. Jahrhundert nachweisbaren Mädchenschulen und der gelegentlich doch auf Geschlechtertrennung hinwirkenden Schulpolitik der Fürstbischöfe wird man so kaum gerecht. Vor allem aber waren die von Hausen diskutierten Zuschreibungen von Geschlechtsmerkmalen und geschlechtsspezifischen Rollenmustern bereits in der Vormoderne weit verbreitet. Von geschlechtsspezifischer Neutralität im frühneuzeitlichen Schulwesen auszugehen, weil der Gipfel der Debatte um die Geschlechtscharaktere erst um 1800 erreicht war, ist daher ein Fehlschluss.

Interessanterweise wird die Grundannahme Schrauts, die sie anhand des 'Siegeszugs des weltlichen Schulbuchs' (109-119) zu untermauern sucht, ausgerechnet von ihrer Mitautorin desavouiert. Pieri analysiert im zweiten Teil der Einführung den geschlechtsspezifischen Gehalt der Würzburger Katechismen des 17. bis frühen 19. Jahrhunderts (71-107). Dabei weist sie zwar nach, dass sich das zu Grunde liegende Weiblichkeitsideal in dieser Zeit entscheidend veränderte. Von einer geschlechtsneutralen Vermittlung der Glaubenssätze und der biblischen Geschichte kann allerdings auch in den frühen Lehrbüchern keine Rede sein. Im Gegensatz zu den Katechismen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, die sich zunehmend auf das bürgerliche Ideal der sich dem Familienvater unterordnenden Hausfrau und Mutter konzentrieren und dementsprechend die Rolle der Ehefrau als einzig mögliche darstellen, propagieren die Katechismen der Gegenreformation das katholische Ideal der Keuschheit - sowohl für verheiratete als auch für unverheiratete Frauen. Auch wenn die schulische Geschlechtertrennung im Hochstift Würzburg nur sehr langsam voran kam und der gemeinsame Unterricht von Jungen und Mädchen zumindest außerhalb der größeren Städte Würzburg und Kitzingen die Regel war, zeigen die von Pieri ausgewerteten Katechismen, dass auch die koedukativen Elementarschulen zu einer geschlechtsspezifischen Sozialisation der Mädchen (und natürlich auch der leider von der Autorin nicht behandelten Jungen) beitrugen. Dass sich die Fluchtpunkte dieser Sozialisation im Laufe der Zeit veränderten, ist selbstverständlich.

Abschließend seien noch einige Worte zur Anlage der Quellensammlung gesagt, die trotz der geübten Kritik an einzelnen Thesen des Darstellungsteils als Pionierleistung gewürdigt werden kann. Auf über 300 Seiten wird hier das Quellenmaterial zur Mädchenbildung im frühneuzeitlichen Hochstift Würzburg ausgebreitet, aus dem Schraut und Pieri auch in ihrer Einführung schöpfen. Der zeitliche Schwerpunkt der Sammlung liegt im 18. Jahrhundert. Der erste Teil versammelt Quellen zur niederen Mädchenbildung in der Region, beginnend mit einflussreichen pädagogischen Schriften über die verschiedenen obrigkeitlichen Schulordnungen bis hin zu Visitationsberichten und Reformplänen. Der zweite Abschnitt behandelt das 'Leben und Lernen bei den Ursulinen' und präsentiert neben historiografischen und normativen Quellen auch solche, die den schulischen Alltag dokumentieren. Im dritten Teil finden sich signifikante Ausschnitte aus den von Pieri behandelten Katechismen, im vierten schließlich entsprechende Passagen aus weltlichen Schulbüchern des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Wünschenswert wäre gewesen, die Provenienz der Quellen jeweils im Kopf und nicht (nur) in einem gesonderten Verzeichnis zu vermerken, um dem Benutzer ständiges Blättern zu ersparen. Insbesondere bei den Archivalien vermisst man zudem genauere Angaben zum Entstehungskontext, von einem textkritischen Apparat ganz zu schweigen. Die Beigabe eines Registers und eines Literaturverzeichnisses (!) hätte die Benutzbarkeit des Bandes darüber hinaus erheblich gesteigert. Nichtsdestotrotz eröffnet die Bereitstellung zahlreicher, bislang unbekannter Quellen die Möglichkeit einer eingehenderen Diskussion des Themas und dessen Einbindung in die akademische Lehre.

Andreas Rutz