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Christian Witschel: Neue Beiträge zur Stadtkultur in der Spätantike. Einführung, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 11 [15.11.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
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Neue Beiträge zur Stadtkultur in der Spätantike

Einführung

Von Christian Witschel

Seit einigen Jahren wird in der altertumswissenschaftlichen Forschung wieder intensiv über die Bewertung der spätantiken Kulturgeschichte gestritten. War die Periode zwischen dem späten 3. und dem späten 6. Jahrhundert lange Zeit hauptsächlich an der vorangegangenen Blütephase des römischen Reiches in der hohen Kaiserzeit gemessen und daher unter dem Blickwinkel einer für eine solche Spätzeit angeblich typischen 'Dekadenz' und eines materiellen Verfalles interpretiert worden, so brachten die 70er und 80er Jahre eine gründliche Neuorientierung auf diesem Feld: Viel deutlicher als zuvor wurde nun die Spätantike als eigenständige historische Epoche wahrgenommen und die in diesen drei Jahrhunderten ablaufenden Transformationsprozesse nicht mehr grundsätzlich negativ bewertet, sondern als eine durchaus kreative Phase gesehen. In jüngster Zeit mehren sich jedoch diejenigen Stimmen, die diesen Ansatz als zu wertneutral oder relativistisch empfinden und meinen, man müsse die allmähliche Abwendung von den Traditionen der klassischen Antike durchaus als einen Vorgang des kulturellen Abstieges benennen dürfen - das Interpretationsmodell eines "decline and fall" oder gar eines "end of civilization" hat somit erneut Konjunktur. Eine kürzlich erschienene Rezension geht soweit, die Polarisierungen der amerikanischen Innenpolitik auf diese Debatte zu übertragen: Die etwa von Peter Brown vorangetriebene "Reformation" bei der Beschreibung der Spätantike werde zunehmend von einer Gruppe von "Neocons" attackiert, die zu den alten Bewertungsmustern zurückkehren wolle - "The Counter-Reformation in late antique studies is well under way" [1].

Nicht von ungefähr hat sich diese Diskussion insbesondere an den unterschiedlich gelagerten Interpretationen des spätantiken Städtewesens entzündet, war doch die Stadtkultur ein, wenn nicht sogar das prägende Merkmal der antiken Zivilisation - und gleichzeitig in der Spätantike zahlreichen Veränderungen unterworfen, die oft nicht einfach auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen sind. Es verwundert darum nicht, wenn bei der Analyse des spätantiken Städtewesens sehr unterschiedliche Standpunkte eingenommen werden, wie gerade die Titel einiger in den letzten Jahren erschienener Sammelbände zu diesem Thema zeigen können: "La fin de la cité antique"; "Towns in Transition"; "Towns in Decline" [2]. Letzterer Ansatz hat vor kurzem in Form von Wolf Liebeschuetz' opus magnum "The Decline and Fall of the Roman City" einen besonders wirkungsmächtigen Fürsprecher gefunden [3]. Nichtsdestotrotz wird weiterhin intensiv darüber gestritten [4], ob das eher neutrale Modell eines durchaus nicht alle Lebensbereiche gleichermaßen und in gleicher Geschwindigkeit erfassenden "Wandels" oder das stärker wertende, jedoch der Gefahr einer endlosen Relativierung entgehende Modell eines "Niederganges" besser geeignet ist, die komplexe Situation der spätantiken Städtelandschaft zu erfassen [5]. Einige in jüngster Zeit (d.h. zwischen 2003 und 2005) publizierte Monographien und Sammelwerke, die sich mit dem generellen Bild oder mit Einzelaspekten der spätantiken Stadtkultur befassen und die in der einen oder anderen Form einen Beitrag zu der eben skizzierten Debatte leisten können, werden darum in diesem Forum besprochen.

Zwei dieser Bücher widmen sich übergreifenden Themen: Einerseits der Begründung einer spezifischen "Late Antique Archaeology" (Lavan - Bowden), die wiederum vor allem an der Erforschung des spätrömischen Städtewesens festgemacht wird und insbesondere Formen von Wandel und Kontinuität in den spätantiken Stadtbildern sowie den damit in Verbindung stehenden sozioökonomischen Veränderungen nachgeht; und andererseits der "Christianisierung der spätrömischen Welt" (Brenk), die hier als ein allumfassendes Phänomen verstanden wird, das seine besondere architektonische Ausprägung aber zuvörderst in den Städten des römischen Reiches erfahren hat, deren Aussehen dadurch neu definiert wurde [6].

Es folgt eine Reihe von Arbeiten zu bestimmten Regionen oder einzelnen Städten. Besonders intensive stadtarchäologische Forschungen sind in den letzten Jahren in Norditalien betrieben worden [7], und daran hat sich eine teils heftig geführte Debatte über die Kontinuität bzw. Diskontinuität der Stadt- und Wohnkultur in diesem Gebiet zwischen den beiden Blütephasen der römischen Kaiserzeit und der Kommunen des hohen Mittelalters entzündet, die in dem hier besprochenen Band (Ortalli - Heinzelmann) resümmiert wird. Spanien galt hingegen lange Zeit als klassisches Beispiel für einen städtischen Niedergang in der Spätantike. Dieses Bild muss aber - ebenfalls vor allem aufgrund der Flut neuer archäologischer Erkenntnisse - in weiten Teilen modifiziert werden, wie Michael Kulikowski in seiner grundlegenden Studie zum Schicksal der iberischen Halbinsel zwischen dem 3. und 6. Jahrhundert aufzeigt.

Ein wichtiges Phänomen der Spätantike war eine stärkere Hierarchisierung des Städtenetzes: Diejenigen Orte, die in dem neuen, deutlich zentralistischeren Verwaltungssystem einen wichtigen Platz einnahmen, profitierten häufig von dieser Situation, während abgelegenere Siedlungen nicht selten einen frühzeitigen Niedergang erlebten und damit zu 'gescheiterten' Städten wurden, die im Laufe der Zeit untergingen. Besonders bevorzugt waren naturgemäß die neuen Kaiserresidenzen, die an die Stelle von Rom traten und einen entsprechenden Ausbau erlebten. Drei von ihnen (Konstantinopel, Ravenna, Trier) werden in einem Ausstellungskatalog (König) ausführlicher analysiert. Arles kann als weiteres Beispiel für eine Stadt gelten, die trotz zahlreicher Veränderungen in der Spätantike prosperierte, obwohl eine Funktion als Kaiserresidenz nicht sicher erwiesen werden kann (Heijmans). Xanten hingegen scheint auf den ersten Blick eine jener gallischen "capitales éphémères" [8] gewesen zu sein, die das Ende der Antike am Niederrhein nicht überlebten und erst später neu begründet wurden. Die systematische Auswertung der komplizierten Grabungen unter dem Xantener Dom scheint nun aber doch eine Kontinuität des dortigen Bestattungsplatzes und somit wohl auch der zugehörigen Siedlung über die schwierige Zeit des 5. Jahrhunderts hinweg anzudeuten (Runde und Otten). Zwei weitere Bücher führen zurück in den Mittelmeerraum: Eines widmet sich den in den letzten Jahren verstärkt in das Blickfeld geratenen Beziehungen zwischen städtischem Mittelpunkt und Umland [9] am Beispiel des dicht besiedelten und wirtschaftlich intensiv genutzten suburbium von Rom (Pergola - Santangeli Valenzani - Volpe); das andere gibt einen Einblick in die spätantike Entwicklungsphase einer der interessantesten Städte im Ostteil des Imperium Romanum, Berytus (Beirut), wo zahlreiche ethnische, kulturelle und religiöse Traditionen aufeinadertrafen (Jones Hall).

Auch die materielle Kultur der Spätantike, die lange ebenfalls unter dem Odium des Dekadenzurteiles gelitten hat, ist inzwischen verstärkt in den Fokus der altertumswissenschaftlichen Forschung geraten. Zwei neue Studien widmen sich der Frage, welche Rolle Statuen, zumal solche aus älteren Epochen, im kulturellen Umfeld der Spätantike gespielt haben [10]: Zum einen in Konstantinopel, das angefüllt war mit 'Sammlungen' von Standbildern der klassischen und hellenistischen Zeit, die in der Neugründung Konstantins offenbar eine bestimmte Funktion erfüllen sollten (Bassett); und andererseits in den prächtigen Luxusvillen der spätantiken Elite in Südgallien, in denen zahlreiche, zumeist kleinformatige Skulpturen gefunden wurden, die dort den klassisch geprägten Bildungshorizont der Villenbesitzer evozierten (Stirling). Eine weitere Monographie beschäftigt sich mit der Repräsentation von Frauen in der Spätantike anhand von Statuen und sonstigen Bildwerken (Schade).

Eine letzte Gruppe von Arbeiten schließlich ist dem Umgang mit dem Tod, den Bestattungsbräuchen, aber auch den sich wandelnden Formen der Kommemoration und gesellschaftlichen Zurschaustellung am Grab in der Spätantike gewidmet. Untersucht wird dabei zunächst, inwieweit sich tatsächlich schon frühzeitig eine spezifisch christliche Form der Bestattung und des Friedhofes herausgebildet hat (Rebillard). Eine besonders aufwändige Form des Begräbnisses war die Beisetzung in einem Sarkophag, insbesondere wenn dieser aus einem wertvolleren Material bestand und Verzierungen etwa in Form von Reliefs aufwies. Es bleibt aber die Frage, ob damit wie früher in erster Linie eine Außenrepräsentation beabsichtigt war oder sich unter christlichem Einfluß auch die Kommunikationsformen am Grab verändert hatten (Dresken-Weiland). Ähnliche Fragen lassen sich auch an die spätantik-frühchristlichen Grabinschriften richten, wie dies in einer neuen Studie zu den Epitaphen in Gallien und Hispanien geschehen ist (Handley).

Anmerkungen:

[1] J.J. O'Donnell, BMCR 2005.07.69 in seiner Besprechung zu: P. Heather, The Fall of the Roman Empire: a New History (London 2005) und B. Ward-Perkins, The Fall of Rome and the End of Civilization (Oxford 2005).

[2] C. Lepelley (Hrsg.), La fin de la cité antique et le début de la cité médiévale. De la fin du IIIe siècle à l'avènement de Charlemagne (Bari 1996); N. Christie - S.T. Loseby (Hrsg.), Towns in Transition. Urban Evolution in Late Antiquity and the Early Middle Ages (Aldershot 1996); T.R. Slater (Hrsg.), Towns in Decline, AD 100-1600 (Aldershot 2000).

[3] J.H.W.G. Liebeschuetz, The Decline and Fall of the Roman City (Oxford 2001); vgl. auch dens., Late Antiquity and the Concept of Decline, Nottingham Medieval Studies 45, 2001, 1-11.

[4] Das Buch von Liebeschuetz hat bereits heftige Kontroversen hervorgerufen. Vgl. die Debatten in: L. Lavan (Hrsg.), Recent Research in Late-Antique Urbanism (Portsmouth 2001) und in dem hier besprochenen Band Lavan - Bowden 2003 sowie folgende Rezensionen: L. Lavan, Christianity, the City, and the End of Antiquity, JRA 16, 2003, 705-710 und F. Kolb, Gnomon 76, 2004, 142-147.

[5] Dazu demnächst: J.U.Krause - C. Witschel (Hrsg.), Die Stadt in der Spätantike - Niedergang oder Wandel? (Stuttgart 2006).

[6] Vgl. hierzu auch G. Brands - H.G. Severin (Hrsg.), Die spätantike Stadt und ihre Christianisierung (Wiesbaden 2003); besprochen in sehepunkte 4 (2004), Nr. 10 (http://www.sehepunkte.de/2004/10/6631.html).

[7] Vgl. G.P. Brogiolo - S. Gelichi, La città nell'alto medioevo italiano. Archeologia e storia (Rom - Bari 1998); A. Haug, Die Stadt als Lebensraum. Eine kulturhistorische Analyse zum spätantiken Stadtleben in Norditalien (Rahden 2003).

[8] Zu diesem Thema gibt es nun ein instruktives Sammelwerk: A. Ferdière (Hrsg.), Capitales éphémères. Des capitales de cités perdent leur statut dans l'antiquité tardive (Tours 2004).

[9] Vgl. ferner G.P. Brogiolo et al. (Hrsg.), Towns and their Territories between Late Antiquity and the Early Middle Ages (Leiden 2000); T.S. Burns - J.W. Eadie (Hrsg.), Urban Centers and Rural Contexts in Late Antiquity (East Lansing 2001).

[10] Vgl. dazu demnächst F.A. Bauer - C. Witschel (Hrsg.), Statuen und Statuensammlungen in der Spätantike - Funktion und Kontext (Wiesbaden 2006).

Rezensionen