Rezension über:

Ulf Dirlmeier / Gerhard Fouquet / Bernd Fuhrmann: Europa im Spätmittelalter 1215-1378 (= Oldenbourg Grundriss der Geschichte; Bd. 8), München: Oldenbourg 2003, XI + 390 S., ISBN 978-3-486-48831-9, EUR 24,80
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Enno Bünz
Historisches Seminar, Universität Leipzig
Redaktionelle Betreuung:
Jürgen Dendorfer
Empfohlene Zitierweise:
Enno Bünz: Rezension von: Ulf Dirlmeier / Gerhard Fouquet / Bernd Fuhrmann: Europa im Spätmittelalter 1215-1378, München: Oldenbourg 2003, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 12 [15.12.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/12/5982.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Ulf Dirlmeier / Gerhard Fouquet / Bernd Fuhrmann: Europa im Spätmittelalter 1215-1378

Textgröße: A A A

In der seit gut zwei Jahrzehnten in Lehre und Studium bewährten Studienbuchreihe "Oldenbourg Grundriss der Geschichte" schließt dieser Band über Europa im Spätmittelalter die seit Langem bestehende Lücke zwischen dem von Hermann Jakobs verfassten Band über Kirchenreform und Hochmittelalter 1046 bis 1215 (mittlerweile 4. Aufl. 1999) und Erich Meuthens Darstellung des 15. Jahrhunderts (mittlerweile 3. Aufl. 1996). Der scheinbare Schönheitsfehler, dass die vorliegende Darstellung in der Titelgebung chronologisch nicht ganz nahtlos an den Folgeband anschließt (faktisch setzt Meuthens Darstellung aber 1378 ein, sofern diese Zäsur sinnvoll ist), wird von der Freude überlagert, dass nun in fünf Bänden eine zusammenhängende Darstellung des Mittelalters von der Völkerwanderungszeit bis zur Reformation vorliegt.

Die dreiteilige Grundkonzeption der Reihe (Darstellung - Grundprobleme und Tendenzen der Forschung - Quellen und Literatur) muss hier nicht diskutiert werden. Das Konzept ist so bestechend und praktikabel, dass sich die Oldenbourg-Reihe seit Langem mühelos gegen andere Studienbuchreihen behauptet, die es mittlerweile bekanntlich in großer Zahl gibt. Neben der konzeptionellen Grundstruktur hat zu dieser Führungsposition der Reihe auch die Tatsache beigetragen, dass es gelungen ist, als Bandautoren durchweg ausgewiesene Fachleute zu gewinnen, denen es eben möglich ist, im Rahmen der engen Umfangsvorgaben eine konzise Gesamtdarstellung und eine auf die wesentlichen Probleme konzentrierte Sichtung der Forschungsdiskussion zu bieten. So auch im vorliegenden Band.

Die Darstellung (Teil I) wird mit einer Erörterung des Epochenbegriffs "Spätmittelalter" eröffnet und zerfällt dann in zwei Großkapitel: Raum, Wirtschaft und Menschen (verfasst von Gerhard Fouquet) sowie Staatenwelt des 13. und 14. Jahrhunderts (verfasst von Bernd Fuhrmann). Forschungsbericht (Teil II) und Literaturverzeichnis (Teil III) korrespondieren mit der Gliederung der Darstellung bis in die Unterabschnitte. Beide Verfasser sind Schüler des Siegener Mediävisten Ulf Dirlmeier, der die Schlussredaktion besorgt hat. Der Band weist damit einen einheitlichen Gesamtduktus auf und spiegelt unverkennbar die Forschungsfelder wider, auf denen die genannten Autoren vor allem hervorgetreten sind: Wirtschaft, Gesellschaft, materielle Kultur des späten Mittelalters. Damit soll freilich nicht der Eindruck erweckt werden, die Verfasser würden in dieser Überblicksdarstellung nur ihre persönlichen Steckenpferde reiten (eine in heutigen Handbuchdarstellungen freilich unverkennbare und angesichts des immer schwerer zu überschauenden Forschungsstandes kaum zu vermeidende Tendenz, wie an manchen Bänden des neu bearbeiteten Gebhardt-Handbuchs ablesbar ist).

Hilfreich ist der Vergleich mit dem Folgeband. Auch Erich Meuthen hat seinen Darstellungsteil mit grundsätzlichen Überlegungen zum Epochencharakter des 15. Jahrhunderts eröffnet. Sein Unterkapitel "Stadt und Land" korrespondiert hier mit "Raum, Wirtschaft und Menschen", "Staat und Staatenpolitik" bei Meuthen mit "Staatenwelt" im vorliegenden Band. Während im Oldenbourg-Grundriß über das 15. Jahrhundert dem Themenfeld "Bildung und allgemeine Kultur" ein eigenständiges Unterkapitel gewidmet wurde, hat Gerhard Fouquet "Gelehrsamkeit und Universitäten" in einem kurzen Abschnitt im Unterkapitel "Lebensformen" erörtert.

Auffällig ist nur eines: Meuthens Kapitel "Kirche und Frömmigkeit" findet in dem von Fouquet übernommenen Darstellungsteil keine Entsprechung. Einen gewissen Ersatz dafür bietet allerdings das Unterkapitel "Kirche und Papsttum" in Fuhrmanns Darstellung der europäischen Staatenwelt (117-123), das die Entwicklung der Amtskirche vom IV. Laterankonzil 1215 bis zum Großen Abendländischen Schisma 1378 unter Einschluss der Bettelorden nachzeichnet. Es dürfte unstrittig sein, dass damit die Kirche als eine zentrale Komponente der mittelalterlichen Lebenswelt nicht ganz angemessen gewürdigt ist. Manche zentralen Aspekte sind freilich an anderer Stelle integriert. So findet sich im Abschnitt "Nachbarschaft, Genossenschaft und Gemeinde" ein knapper, gleichwohl substanzieller Abschnitt über die Pfarrkirche (65). Umso bedauerlicher ist, dass in dem ausgezeichneten Abschnitt über die Stadt (68-77) die Stellung der geistlichen Institutionen nicht thematisiert wird, obschon die Auseinandersetzungen zwischen "Stadt und Kirche" ein Grundproblem der Stadtgeschichte des 13. und 14. Jahrhunderts darstellen, das auch gut erforscht ist (das hier wichtige Buch von Hergemöller über "Pfaffenkriege" im Hanseraum, dem freilich andere Titel an die Seite zu stellen wären, erscheint immerhin im Literaturteil auf Seite 301 unter "städtische Widerstandsbewegungen"). Die wachsende Bedeutung gemeinschaftlicher Organisationsformen von Laien (Bruderschaften) wird nur beiläufig angesprochen. Die häretischen Bewegungen werden hingegen zumindest im Forschungsteil thematisiert (241).

Aber diese Bemerkungen zeigen nur, dass Rezensenten vor demselben Dilemma stehen wie die Verfasser von Handbuch- und Überblicksdarstellungen: Sie setzen angesichts des unaufhaltsamen Trends zur Spezialisierung unweigerlich ihre forschungsbedingt eigenen Akzente. Deshalb muss die große Syntheseleistung, die von den Autoren vollbracht worden ist, deutlich betont werden. Die Entfaltung der europäischen Staatenwelt im 13. und 14. Jahrhundert auf gut 50 Druckseiten darzustellen (Fuhrmann) ist eine Leistung, die uneingeschränkt anerkannt werden muss. Die sich verdichtende Welt der Territorien im Deutschen Reich konnte in diesem Rahmen natürlich nur angerissen werden. Hier eine Ausgewogenheit zu bieten, die dem landesgeschichtlichen Forschungsstand entspricht, ist schwerlich möglich. Während ganze Regionen ausgeblendet werden müssen, wird die Entstehung der Eidgenossenschaft aber auf immerhin vier Druckseiten dargestellt. In einer Neuauflage würde man sich zumindest eine Bemerkung zum Verhältnis Dynastie und Territorium (Problem der Landesteilungen seit dem 13. Jahrhundert) wünschen. Eine beeindruckende Syntheseleistung stellen auch die Ausführungen über die Wirtschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte (Fouquet) dar, die viele neue Akzente setzen.

Gerade in diesem Bereich hat sich der Forschungsstand in den letzten Jahrzehnten rasant verändert, man denke nur an die zahlreichen Untersuchungen zur Klima- und Umweltgeschichte, zur materiellen Kultur (Ernährung und Konsum), zur Sozialgeschichte (Adel im Wandel, Familie, Rolle der Frau, Randgruppen und Unterschichten) oder zur Wirtschaftsgeschichte (Hochfinanz, internationaler Zahlungsverkehr, technische Innovationen, Gewerbegebiete). Mit diesem Band wird nun ein hilfreicher Einstieg in die aktuelle Spätmittelalterforschung geboten. Was Ernst Schubert in seiner "Einführung in die Grundprobleme der deutschen Geschichte im Spätmittelalter" erstmals - mit gelegentlich eigenwilligen Akzentuierungen - zu einem neuen Gesamtbild des "deutschen" Spätmittelalters zusammengefügt hat, wird nun im vorliegenden Band in europäischer Perspektive weiter entfaltet. Über die Gewichtungen wird man im Einzelnen immer streiten können: so wird auf Seite 169 die Ostsiedlung, die Ostmitteleuropa verwandelt hat, knapper skizziert als die Repoblación auf der Iberischen Halbinsel. Über Viehzucht erfährt der Leser auf den Seiten 27 ff. mehr als über die Bettelorden. Gleichwohl, ein hilfreiches und lehrreiches Buch, für Fachleute wie für Studierende.

Enno Bünz