Rezension über:

Carla Casagrande / Chiara Crisciani / Silvana Vecchio (a cura di): Consilium. Teorie e pratiche del consigliare nella cultura medievale (= Micrologus Library; 10), Firenze: SISMEL. Edizioni del Galluzzo 2004, 346 S., ISBN 978-88-8450-120-2, EUR 52,00
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Rezension von:
Verena Postel
Institut für Mittelalterliche Geschichte und Geschichtliche Hilfswissenschaften, Philipps-Universität, Marburg
Redaktionelle Betreuung:
Jürgen Dendorfer
Empfohlene Zitierweise:
Verena Postel: Rezension von: Carla Casagrande / Chiara Crisciani / Silvana Vecchio (a cura di): Consilium. Teorie e pratiche del consigliare nella cultura medievale, Firenze: SISMEL. Edizioni del Galluzzo 2004, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 2 [15.02.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/02/9396.html


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Carla Casagrande / Chiara Crisciani / Silvana Vecchio (a cura di): Consilium. Teorie e pratiche del consigliare nella cultura medievale

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Mittelalterhistoriker haben längst die an den Kategorien "Staat" und "Macht" orientierte Betrachtungsweise mittelalterlicher Herrschaftsformen abgelegt und erkannt, wie berechtigt Otto Brunners Feststellung war, Rat und Hilfe seien "Grundkategorien mittelalterlicher Ordnung". [1] Sie erforschen mit wachsender Intensität den dialogischen Charakter mittelalterlicher Herrschaft als eines auf Konsens, wenn auch nicht Gleichrangigkeit beruhenden Verhältnisses von Herrschern und Beherrschten, der bereits in der Antike angelegt war. Die fruchtbare Hofforschung, sei es zu hellenistischen Königshöfen, dem consilium principis in Rom, dem spätantiken Kaiserhof oder dem deutschen Königshof, ist nur ein Beispiel für die Anwendung dieses Forschungskonzepts. Die Interaktion von Herrschern und Eliten in formellen und informellen Beratungen am Hof, in colloquia, placita, conventus, concilia und eben consilia ist dabei bevorzugter Forschungsgegenstand. Biografien einzelner Beraterpersönlichkeiten, die es auf mittlere Sicht erlauben werden, Karrieremuster politischer Berater im Wandel der Epochen zu erkennen, sind ein weiteres Forschungsfeld.

Zeichnet sich so für Historiker "die konsensuale Bindung von Herrschaft als Grundlage alteuropäischer Ordnung" (Jürgen Hannig) immer deutlicher ab, so fehlt bislang eine fächerübergreifende Synopse derjenigen Elemente mittelalterlicher Kultur, die mit diesem politisch-verfassungsgeschichtlichen Befund des consilium im lehnsrechtlichen Kontext korrespondieren. Jürgen Hannig hatte bereits darauf hingewiesen, dass die herrscherliche Pflicht, sich beraten zu lassen, auf der Übernahme christlicher Herrschaftsideale durch die fränkischen Herrscher des frühen Mittelalters beruhte. [2] Man berief sich auf die alttestamentarischen Könige als Vorbilder und die Mahnung des Ecclesiastes: "Fili, sine consilio nihil facias / et post factum non poenitebis" (Eccl. 32,24). Die Verbindung zur Theologie ist damit sichtbar. Das politische Feld war zudem keineswegs das einzige, in dem Beratung einen wichtigen Stellenwert besaß.

Die vor allem theologisch-philosophische Weite des Bedeutungsspektrums und die Vielfalt der Anwendungsbereiche von "consilium" im Mittelalter aufzuweisen, darin liegt das wesentliche Verdienst des vorliegenden Bandes, der die Vorträge einer im Dezember 2000 in Pavia abgehaltenen Tagung zum Thema vereinigt. Dabei werden freilich die Ergebnisse der historischen Forschung kaum in die Diskussion einbezogen. Die Herausgeberinnen heben mit Recht hervor, in wie vielfältigen Kontexten consilium im Mittelalter seinen Ort hatte: nicht nur als Medium der Herrschaftsausübung, sondern auch im religiösen Leben, in verschiedenen Berufen, in der Familie. Es sei ihnen darum gegangen, die Umstände, unter denen Beratung stattfand, zu analysieren (IX). Bedingungen, Dynamiken, Träger und Inhalte von Beratung sollten die verschiedenen Beiträge erfassen. Bereits in dieser Zielsetzung wird freilich auch die Begrenzung des Ansatzes deutlich: Er öffnet Perspektiven, zeigt die Weite des Forschungsraums, ohne diesen zu strukturieren und für weitere Forschungen vorzubereiten.

Der überlegten Anordnung der Beiträge von der abstrakt-theologischen Konzeption des consilium hin zu dessen spezifischen Anwendungen in der Praxis folgend beschäftigt sich der erste Beitrag von Maria Luisa Picascia mit "La concezione teologica di donum consilii. Patristica latina e cultura monastica del XII secolo" (15-32). Für Historiker ist es ungemein wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass consilium als eine der Gaben des Heiligen Geistes (Jes. 11,2-3) im Mittelalter stets ein theologisch aufgeladener Begriff war, der auf Christus als seine Quelle verwies und den Rückweg der Menschen zu Gott erleichterte. Picascia stellt in einem konzisen Überblick zunächst die wichtigsten patristischen Ausdeutungen dieser zentralen Bibelstelle vor, die zur Grundlage der mittelalterlichen Exegese wurden. Der zweite Teil des Beitrags ist der monastischen Theologie des 12. Jahrhunderts und ihrer Sicht des consilium gewidmet.

Interessant aus Sicht der Geschichtswissenschaft wäre es vor allem, einem Sachverhalt nachzugehen, den Picascia nur beiläufig erwähnt: sie schreibt, dass zu Beginn des 12. Jahrhunderts die patristische Tradition zu den Gaben des Heiligen Geistes und damit zum consilium verstärkt rezipiert worden sei, während es zwischen dem 9. und 11. Jahrhundert einen plötzlichen Abbruch der diesbezüglichen Exegese gegeben habe. Warum war dies so? Hatte dies mit der Zersplitterung der Herrschaftsverhältnisse in Frankreich zu tun, der dévolution du ban, und wenn ja, inwiefern genau? Gab es keine gebildeten adligen Eliten, die wie im Karolingerreich ein Interesse an einer theologischen Begründung der Notwendigkeit des consilium als einer Herrscherpflicht, sich beraten zu lassen und damit gleichzeitig einem Recht der Vasallen auf consilium und auxilium gehabt hätten? Hier wären vielfältige Ansätze zur interdisziplinären Forschung gegeben. Wie weit reichen überhaupt die Berührungen zwischen dem theologischen Diskurs über das consilium und dem politischen?

Der quellennahe Überblick von Silvana Vecchio, "Precetti e consigli nella teologia del XIII secolo" (33-56), ergänzt die Betrachtung des theologischen Diskurses über consilia. Vecchio geht der Diskussion des Verhältnisses von (alttestamentarischen) Geboten und evangelischen Räten nach.

Barbara Faes de Mottoni, "Profezia e consilium: 'Deus mutat sententiam, non consilium'" (Gregor d. Gr., Moralia in Iob16,10,14) untersucht in ihrer klar gegliederten Studie (57-76) die mittelalterliche Sicht des göttlichen Ratschlusses (consilium divinum) im Verhältnis zur Prophetie, und zwar anhand der früh- und hochmittelalterlichen Exegese zu nicht eingetretenen Wahrsagungen der Propheten Jonas (Jon. 3) und Jesaja (Jes. 38,1-8). Wie kann es sein, dass Gott durchaus seine "sententia" (Urteil, Meinung) ändert, aber niemals sein consilium, die Entscheidung über das Ergehen eines Menschen, der seinem Vorauswissen entspringt?

Nach diesen drei Referaten zu den theologisch-philosophischen Grundbestimmungen des consilium beginnt die Folge der Beiträge, welche die konkreten Anwendungen von consilia in den Blick nehmen. Mit consilium als geistlicher Führung im Mönchtum beschäftigt sich Gabriella Zarri (77-107). Doris Ruhe beobachtet v. a. in spätmittelalterlichen französischen Fürstenspiegeln, dass die Beratung des Königs nicht mehr im Sinne des lehnsrechtlichen consilium und auxilium durch die Vasallen abgebildet wird, sondern als Gespräch zwischen dem König und einem weisen Philosophen (114). Die Autorin deutet eine Korrelation zur politischen Entwicklung Frankreichs in Richtung eines Zentralstaates an, in dem mit wachsender Königsmacht nicht mehr die Kronvasallen als Berater fungierten, sondern der König allein entschied (ibid.). Diese Art der Reflexion, die die Ergebnisse historischer und literarischer Forschung miteinander in Beziehung setzt, sollte für künftige Forschung wegweisend sein. Auch die Rolle der Frauen, die in volkssprachigen Texten des 13. Jahrhunderts aufgrund ihrer schwachen physischen Konstitution als unfähig galten, Rat zu erteilen (118 ff.), wäre weiterer Erforschung wert.

Marta Cristiani untersucht die Rolle des consilium in der politischen Theologie der karolingischen Geistlichkeit (125-138). Steven J. Williams erhellt die Rezeptionsbedingungen des pseudo-aristotelischen Secretum secretorum, eines spätmittelalterlichen Fürstenspiegels in Gestalt eines angeblichen Briefes des großen Philosophen an seinen Schüler, Alexander den Großen. Williams versucht dabei methodisch weiterführend auch die Frage zu klären, welche Ratschläge von den mutmaßlichen Lesern des Textes in konkrete politische Entscheidungen umgemünzt wurden, kommt aber zu dem ernüchternden Ergebnis, dass bislang keine verlässlichen Schlüsse auf diesem Gebiet möglich sind (155).

Der Dialektik zwischen Päpsten des Hoch- und Spätmittelalters als Inhabern der plenitudo potestatis und Kardinälen als ihren "coadiutores", die im Zuge der Institutionalisierung der Kurie immer stärker zur Beratung herangezogen wurden, wendet sich Agostino Paravicini Bagliani zu (181-194). Enrico Artifoni behandelt den sozialgeschichtlich bedingten Wandlungsprozess im Bilde des "litteratus", wie er sich in den italienischen Kommunen des Spätmittelalters vollzog. Nicht mehr der elitäre Weise, sondern der lebenskluge Berater mit erzieherischer Verantwortung für die Gesamtheit der Bürger gab den Ton an (195-216). Von der Finanzberatung am Hof Karls V., für die Fachwissen der Experten wichtiger war als deren moralische Qualitäten, handelt Claudio Fiocchi (217-227).

Edward III. von England (1327-1377), dessen Kriegsaufwendungen beinahe einen Staatsbankrott zur Folge hatten, berieten keine geringeren als Wilhelm von Ockham und John Wyclif. In ihren 1338/39 bzw. 1377 verfassten Rechtsgutachten (consilia) begründeten sie, weshalb der König auch den Klerus des Landes mit einer Kriegssteuer belasten dürfe, und zwar ohne vorherige Zustimmung des Papstes (Stefano Simonetta, 229-241). Solche consilia werden in dem luziden Forschungsüberblick von Mario Ascheri (243-258) in den Kontext gestellt, bevor Chiara Criscani den Blick auf einen weiteren Anwendungsbereich von consilia lenkt, indem sie spätmittelalterliche ärztlichen Konsilien für Patienten bzw. Kollegen analysiert (259-279).

Hoffentlich zukunftweisend für die Forschung ist die Öffnung des Bandes zu einem interkulturellen Vergleich: der abschließende Beitrag von Silvia Nagel (299-324) befasst sich mit der hebräischen Tradition des consilium in Gestalt der rabbinischen Responsen, auf jeweilige Anfrage von Tora- und Talmudexperten erstatteten Rechtsgutachten, die seit dem 8. Jahrhundert bis ins Spätmittelalter in schriftlicher Form überliefert sind. Sie zielen auf die Vermittlung lokaler, v. a. städtischer, Rechtsgewohnheiten mit der Autorität des Talmud. In dieser Funktion und in der Bedeutung, die sie örtlichen Rechtsbräuchen beimessen, sind sie sowohl den römischen responsa prudentium wie den muslimischen responsa des mufti, der fatwa, vergleichbar (302 mit Anm. 10).

Die Vieldeutigkeit des consilium und dessen vielseitige Anwendung in der Praxis, seine kategoriale Bedeutung mithin im religiösen, politischen, juristischen, kulturellen und beruflichen Leben mittelalterlicher Menschen wird so im vorliegenden Band eindrucksvoll vorgeführt. Vor allem die theologischen Grundlagen von Beratung im Mittelalter werden akzentuiert und weiten den Horizont des Historikers. Doch bleibt es allzu sehr den Lesern überlassen, daraus Pfade künftiger Fragestellungen in der Forschung zu entwickeln. Das interdisziplinäre Gespräch wird vorbereitet, aber nicht eröffnet.


Anmerkungen:

[1] Otto Brunner: Land und Herrschaft : Grundfragen d. territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter, Unveränd. reprograf. Nachdr. d. 5. Aufl., Darmstadt 1973, S. 271 f.

[2] Jürgen Hannig: Consensus fidelium. Frühfeudale Interpretationen des Verhältnisses von Königtum und Adel am Beispiel des Frankenreiches (= Monographien zur Geschichte des Mittelalters; Bd. 27), Stuttgart 1982.

Verena Postel