Rezension über:

Anthony Corbeill: Nature Embodied. Gesture in Ancient Rome, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2004, XIV + 202 S., ISBN 978-0-619-07494-4, GBP 24,95
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Rezension von:
Ann-Cathrin Harders
Seminar für Alte Geschichte, Albert-Ludwigs-Universität, Freiburg/Brsg.
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Ann-Cathrin Harders: Rezension von: Anthony Corbeill: Nature Embodied. Gesture in Ancient Rome, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2004, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 3 [15.03.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/03/6900.html


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Anthony Corbeill: Nature Embodied

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Die Rezensentin fährt sich bei der Niederschrift dieses Textes mehrmals durch das Haar - ist dies nun eine beiläufige, nicht weiter bemerkenswerte Handlung oder eine Geste, die auf kulturelle Muster verweist sowie eine bestimmte Art der agierenden Person, sich in den Weltzusammenhang einzuordnen und diesen wahrzunehmen? Die Rezensentin möchte sich der Beantwortung dieser Frage verschließen und stattdessen auf das zu besprechende Buch verweisen, in dem eben diese Themen für die römische Antike behandelt werden. Mit "Nature embodied. Gesture in Ancient Rome" legt der Philologe Anthony Corbeill sein second book vor, in dem er nach der Bedeutung von Gesten in der römischen Gesellschaft der Republik und frühen Kaiserzeit fragt. Corbeill beschränkt sich hierbei nicht darauf, verschiedenartige Gesten zu sammeln, sie als spezifisch römisch zu deklarieren und einem bestimmten Kontext zuzuordnen, sein Ansatz ist weitreichender. In einem einleitenden Kapitel (1-11) erläutert Corbeill seine Prämisse: Er versteht Gestik als ein kulturelles Zeichensystem. Gestik wie Mimik seien dabei nicht als arbiträr zu interpretieren, sondern folgten einem mimetischen Prinzip. Der Körper und seine Umwelt würden in ständiger Interaktion stehen, sodass eine Geste tatsächlich eine Welt bewegen könnte und gleichzeitig verweise, wie sich die agierende Person in die Umwelt, das 'more-than-human' (13), einordnete.

Als Quellengrundlage für die folgenden Ausführungen dienen Corbeill weniger archäologische Zeugnisse, sondern literarische Texte insbesondere des älteren Plinius, wenn dieser Gesten beschreibt und kontextualisiert und zum Teil schon Erläuterungen über den Sinn und Zweck einer bestimmten Bewegung anbietet. Corbeill setzt Bildmaterial überraschend selten ein und zieht es in erster Linie heran, um die literarischen Beschreibungen zu ergänzen. Die angesprochenen Bildquellen werden dabei als Abbildung benutzerfreundlich präsentiert.

Corbeill konzentriert sich in seinen Analysen nicht allein auf isolierte Gestikulationen wie etwa einzelne Arm- oder Handbewegungen, sondern schließt ganze Bewegungsabläufe, Mimik wie auch performative Sprechakte in seine Untersuchung mit ein. In fünf in sich abgeschlossenen, essayistisch anmutenden Kapiteln deutet Corbeill Gestik und Mimik in den verschiedenen Kontexten der Medizin und der Religion, des Begräbnisses, der politischen Auseinandersetzung der späten Republik sowie der Kommunikation zwischen Kaiser und Senat. Aufgrund ihrer thematischen Disparität seien die Kapitel hier einzeln vorgestellt.

Zunächst widmet sich Corbeill in "Participatory Gestures in Roman Religious Ritual and Medicine" (12-40) dem Gebiet der Medizin und der Religion und zeigt auf, "how they [d.h. die Römer] react corporeally to their surroundings but also [...] how they work their bodies to manipulate those same surroundings" (13). Gesten in Gebet und Heilung folgen demnach einem ähnlichen Prinzip; da der Körper und die ihn umgebene Welt als untrennbar verstanden werden, kann mit bestimmten magischen Gesten in die Umwelt eingegriffen werden, sodass im religiösen Bereich eine Gottheit wohl gestimmt, im medizinischen Bereich die Heilung vorangetrieben werden kann. Corbeill findet dafür den Begriff der "bodily participation in the world" (37). Zwei Beispiele mögen dies veranschaulichen: Durch die adoratio-Haltung, das demonstrative Hinwenden des Körpers in Richtung der Gottheit, versuche der betende Römer sich den Göttern physisch zu nähern und nicht etwa seine Unterwürfigkeit auszudrücken. Als ein probates Mittel, einen Knochenbruch zu kurieren, führt Corbeill die bei Cato Maior überlieferte Anweisung an, einen analogen Fall zu bilden, indem ein Schilfrohr gebrochen, magisch besprochen und verbunden wird: "The performance of the cure visually enacts its goal, and depends on the interpenetration of the human body with the natural world" (35).

Das zweite Kapitel ist ungleich dichter argumentiert und dreht sich um die gestikulatorischen und magischen Möglichkeiten eines einzigen, überschaubaren Körperteils: "The Power of Thumbs" (41-66). Die kulturelle Bedeutung des Daumens erschließt Corbeill aus Pseudo-Etymologien etwa des Juristen Ateius Capito, der den Ausdruck 'pollex' von 'pollet' ableitet (bei Macr. Sat. 7,13,14) und den Daumen mit Exekutivkraft assoziiert. Diese Macht des Daumens spiegele sich in bestimmten Gesten wider und finde sich noch im modernen 'Daumen drücken'. Die wohl berühmteste, der zum Boden gewandte Daumen bei Gladiatorenkämpfen, die der moderne Nicht-Römer aus Gemälden und Filmen kennt, nimmt Corbeill anschließend ins Visier und argumentiert, dass nicht die Richtung des Daumens - nach unten bzw. nach oben - entscheidend über Leben und Tod war, sondern der offen gezeigte, aufgerichtete Daumen, der 'infestus pollex', den Tod markiere: "the hostility of the thumb [...] resides in its uninhibited erectness" (49). Da der Daumen mit 'more-than-human powers' (45) verbunden sei, habe er Einfluss über Leben und Tod.

Gender-spezifische Unterschiede analysiert Corbeill in den Handlungsabläufen während des römischen Begräbnisritus'. Im dritten Kapitel "Blood, Milk, and Tears: The Gestures of Mourning Women" (67-106) arbeitet Corbeill nicht nur die unterschiedlichen Gesten von Männern und Frauen heraus, sondern weist diesen auch bestimmte Funktionen zu: Er erkennt im weiblichen Trauern eine Replikation und Inversion des Geburtvorgangs und schreibt den lamentierenden Frauen wichtige Aufgaben in einem zweifachen rite de passage zu: Zum einen werde der Tote aus der Gemeinschaft der Lebenden geschieden, um dann durch eine simulierte Geburt in ein Nach-Leben überführt zu werden. Corbeill beobachtet dabei Parallelen zum Geburts- und Namensgebungsritus, auch wenn er dafür nur singuläre Quellennachweise anführen kann (vgl. 95). Mit seiner Neudeutung weiblicher Gesten stellt sich Corbeill gegen die antike Erklärung, der weibliche Trauerexzess sei auf die allgemeine psychische Schwäche der Frau zurückzuführen: "There are cogent reasons to believe that their advertised weakness served to conceal real power" (85). Ob sich die Römerinnen aber dieser so geheimen Macht bewusst waren und ihr Wissen darum im Stillen tradierten, kann Corbeill nicht beantworten. Er lässt die Frage offen, wodurch ein esoterisch-matriarchalischer Nachgeschmack an der These hängen bleibt, der jedoch nicht die generellen und plausiblen Beobachtungen Corbeills zu den Begräbnisriten schmälern soll.

In "Political Movement: Walking and Ideology in Republican Rome" (107-139) stellt Corbeill die Frage, ob und warum populare Politiker der späten Republik einen bestimmten Gang annahmen. Als Hauptquelle dienen Ciceros Reden, "who attempts to represent physically the dominant political agendas of [the] period" (111). Corbeill zieht dabei Bourdieus Habitus-Begriff heran und attestiert eine bestimmte optimatische Gangart, der sich die Popularen politisch wie körperlich verweigerten, die politische Haltung sich in der Folge am Körper ablesen ließ. Corbeills Behandlung der Popularen lässt jedoch den Hinweis vermissen, dass auch Populare Aristokraten waren, dementsprechend agierten und sich bewegten; und wenn einem Gaius Gracchus, so Plutarch, vor Agitation die Toga verrutschte, so trug er doch ein solches Gewand, das aufgrund der aufwändigen Faltenlegung den Träger in eine bestimmte Haltung und einen eingeschränkten Bewegungsrahmen zwängte. Zudem sind Ciceros Äußerungen über den affektierten Gang eines Clodius oder Gabinius auch als Invektiven zu lesen, die den politischen Gegner effeminierten und nicht unbedingt den tatsächlichen Gang widerspiegeln mussten.

Im abschließenden fünften Kapitel "Face Facts: Facial Expressions and the New Political Order in Tacitus" (140-167) behandelt Corbeill die Kommunikation zwischen Senat und Kaiser. Corbeill stellt dabei eine Veränderung zur Situation in der Republik fest: Während zuvor die Mimik eines Senators noch seinen politischen Willen widerspiegelte, konnte mit Wandel des Herrschaftssystems insbesondere die Mimik des Kaisers nicht mehr gelesen werden. Corbeill parallelisiert die Kommunikation zwischen Senat und Kaiser mit Todorovs Überlegungen zu dem Zusammentreffen des Eroberers Cortés mit den Azteken als einer Begegnung des Anderen, Nicht-Verstehbaren, [1] und attestiert "a collapsing metaphysical order" (145), da Natur und Körper nicht mehr in Einklang stünden. Die Perzeption dieses Wandels findet Corbeill bei Tacitus, der die nicht mehr lesbare Mimik des Tiberius stark betont. In seiner Interpretation folgt Corbeill der taciteischen Dekadenztheorie; jedoch ist die Rezensentin unschlüssig, ob Corbeill tatsächlich den Aristokraten der Republik jedes Gespür für Doppelbödigkeit und Täuschung absprechen will, wenn er schon in der Einleitung seine Interpretation dieses Kommunikationswandels vorlegt und seine Römer in einer wahrheitsliebenden Idylle interagieren sieht: "I offer up a model of innocent and eager Romans, continually striving to harmonize their bodies with the world until political reality intrudes an idyllic state of balance" (11).

Es gilt ein Fazit zu ziehen: Corbeills Studie bietet überraschende und originelle Beobachtungen zur Bedeutung von Gestik und Mimik in der römischen Gesellschaft. Ein Schlusskapitel fehlt, hätte jedoch eine abrundende Synthese geliefert und die unterschiedlichen Komplexe auf die Hauptthese, dass sich Körper und Umwelt nach römischen Verständnis in ständiger Interaktion befinden und miteinander verbinden, zurückführen können. Corbeill unterlässt es, einen eindeutigen Naturbegriff, der sich immerhin im Titel findet, zu definieren. Die Schlüsse, die er aus seinen Beobachtungen zieht, wirken zum Teil sehr allgemein, etwas esoterisch und wenig greifbar. Beachtlich ist jedoch die Zusammenstellung vor allem literarischer, auch abseitiger Quellen zum Bereich der Gestik und der Versuch, nicht nur eine Taxonomie römischer Gestik, sondern auch eine übergeordnete Erklärung zu finden.


Anmerkung:

[1] Vgl. T. Todorov: Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen, Frankfurt a. M. 1985.

Ann-Cathrin Harders