Rezension über:

Alan Cameron: Greek Mythography in the Roman World (= American Classical Studies; Vol. 48), Oxford: Oxford University Press 2004, xvi + 346 S., ISBN 978-0-19-517121-1, GBP 33,50
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Rezension von:
Tanja S. Scheer
Institut für Geschichte, Carl von Ossietzky Universität, Oldenburg
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Tanja S. Scheer: Rezension von: Alan Cameron: Greek Mythography in the Roman World, Oxford: Oxford University Press 2004, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 4 [15.04.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/04/6711.html


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Alan Cameron: Greek Mythography in the Roman World

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Alan Cameron beginnt sein Werk mit einer Distanzierung von der 'Flut' mythologischer Literatur, von zurzeit gängigen, seiner Ansicht nach ermüdenden Versuchen von Mythos-Definition (XII). Für die römische Zeit postuliert er eine allgemein akzeptierte Definition von mythology (sic!) als "Korpus von Geschichten, die jeder gebildete Mensch kennen musste". Aus dieser Begriffsdefinition wird allerdings nicht deutlich, wer zu den "educated persons" zählt und wie sich das Verhältnis der Durchschnittsbürger ohne rhetorische Ausbildung zur mythischen Erzählung gestaltet. Griechische Mythologie, so Cameron, sei die kulturelle Währung der griechisch-römischen Welt gewesen (X). Entsprechend liege - und hier wird man ohne Vorbehalte zustimmen können - die Bedeutung der von ihm als Thema gewählten Mythografie nicht nur im Bereich der Literaturgeschichte, sondern auch der Sozialgeschichte. Dem Autor geht es im vorliegenden Buch nicht um Beschreibung und Analyse mythologischer Inhalte, sondern um die antiken Autoren, denen wir die Überlieferung der Mythen verdanken und deren zusammenfassende Behandlung bisher ein Desiderat der Forschung geblieben ist. Der allgemein gehaltene Titel des Werks - ein spezifizierender Untertitel fehlt - suggeriert die Absicht des Autors, diese Lücke zu schließen. Wer zu einem Buch dieses Titels greift, will zunächst etwas über die Hauptvertreter der Gattung Mythografie erfahren und erwartet etwa die ausführliche und systematische Behandlung des einzigen erhaltenen mythografischen "Handbuchs": Apollodors 'Bibliothek'. Darüber hinaus drängt sich eine Vielzahl von Fragen auf, etwa nach der Funktion und Bedeutung des mythografischen Genres, nach der unterschiedlichen (?) Verwendung solcher Schriften in Rom selbst und in der "römischen Welt", nach ihrem Adressatenkreis und Publikum sowie schließlich die Frage nach der Entwicklung und Veränderung der Mythografie von der Republik bis in die Spätantike. Wer solche Fragen an das Thema hat, ist mit diesem Buch allerdings völlig falsch bedient.

Camerons Zugang zum Thema steht offenbar mit der Genese des vorliegenden Werks in engem Zusammenhang. Die Beschäftigung mit den 'Narrationes', einer Reihe anonymer lateinischer Inhaltsangaben zu Ovids Metamorphosen, und Ähnlichkeiten dieses Textes mit den Diegeseis zu Kallimachos veranlassten ihn im Rahmen eines Seminars zum Thema Antike Scholien (!), den Verbindungen der bislang vernachlässigten Narrationes zu ihren "little known but in their day widely circulating Hellenistic predecessors"(XI) nachzugehen. Dies ist das eigentliche Thema des Buches, bei dem Cameron nun in gewohnt virtuoser Manier seine stupende Quellenkenntnis und sein Talent im Bereich textlicher Überlieferung und textlicher Filiationen entfalten kann. Die ersten vier Kapitel (1. An Anonymus Ancient Commentary on Ovid's Metamorphoses?, 2.The Greek Sources of Hyginus and Narrator, 3.Mythological Summaries and Companions, 4.Narrator and his Greek predecessors) befassen sich schwerpunktmäßig mit den Narrationes. Cameron kann nachweisen, dass besagter Text deutlich früher zu datieren ist als bisher geschehen und rückt ihn (vom Mittelalter oder bestenfalls 6. Jahrhundert) in die frühe Kaiserzeit herab. Desinteresse an "deeper meanings" verbunden mit gelegentlicher mythologischer Zusatzinformation machten die Narrationes zu einem typischen mythografischen Werk der frühen Kaiserzeit. Typisch ist nach Cameron besonders der Eifer mythografischer Autoren, ihre Informationen mit Quellenangaben zu untermauern. Diesen Eifer teilt der Verfasser der Narrationes mit einer Gruppe bisher nicht erkannter mythografischer Texte aus dem 1. und 2. Jahrhundert n. Chr., deren Identifikation Cameron mit z. T. erdrückender Gelehrsamkeit und auf breitem Raum vornimmt und unter der Rubrik 'mythographic companions' subsumiert: ein solcher 'companion' wird etwa auf der Basis des Servianischen Corpus für Vergil isoliert (Kap. VIII). Gemeinsam sind dieser Textgruppe die meist anonyme Herkunft, ihre inhaltliche Unselbstständigkeit, ein eher minderes Niveau und das Prunken mit Belegstellen. Dieser letzte Punkt avanciert unerwarteterweise zu einer der Hauptfragen des Buchs, die auf breitestem Raum abgehandelt wird (Kap. V-VI): Wo fanden die antiken Mythografen und Scholiasten all diese Belegstellen, und warum wiederholten sie diese so sorgfältig? Mit großem Aufwand erbringt Cameron den Nachweis, dass die 'Fußnoten' häufig nicht die Folge von Primärlektüre der angegebenen Autoren sind, sondern aus früherer mythografischer Literatur übernommen oder aber Fälschungen, also Erfindungen, sind. Motiv dieser Übernahmen (oder Fälschungen) sei der Wunsch, der eigenen Schrift durch etablierte Autoritäten mehr Gewicht zu verleihen, aber auch das Bedürfnis der Leser, ihr Wissen im Gespräch durch "mitgelernte Belege" vorteilhafter präsentieren zu können. Die ganze Überfülle hier gebotener quellenkundlicher Details kann an dieser Stelle nicht wiedergegeben werden.

Im letzten Drittel des Buchs erhofft sich der Leser in den Kapiteln "Myth and Society" (Kap. IX) und "Conclusion" (Kap. XI) schließlich eine systematische Bündelung des zuvor kleinteilig Erarbeiteten und dessen Verortung in der 'Roman World' des 1. und 2. Jahrhunderts n. Chr. Diese Hoffnung ist vergeblich. Stattdessen sieht man sich mit "a few illustrations from a variety of different fields" (221) sowie der These konfrontiert, die bereits im Klappentext vorgetragen wird: Während früher die Mythen Teil der "popular culture" gewesen seien, sei nun im 'Roman age' (das als Zeitraum im gesamten Werk nicht konzis definiert wird) der Mythos zentraler Teil der Elitekultur geworden (218). Der erste Teil dieser These wäre erst einmal zu erläutern. Der zweite Teil überrascht insofern, als in Kap. IX unvermittelt skizziert wird, dass auch Schauspieler und Gladiatoren schon berufsbedingt mythologische Kenntnisse besessen haben und entsprechend auch von ihrem nicht elitären Publikum erwartet werden darf, dass es mythologische Elemente im Bereich des Unterhaltungsgewerbes verstehen konnte (228 f.).

Wenn die mit großem Aufwand isolierten 'mythological companions', wie postuliert, Hilfestellungen für die antiken Leser in der römischen Zeit gewesen sind und belegen, auf welche Weise auch Personen mit beschränkter Bildung schwierige Texte wie Kallimachos oder Aratus bewältigen konnten, so fragt man sich, wo Cameron nun das Lesepublikum dieser Texte (nicht nur) gesellschaftlich verortet: Ist im 1. und 2. Jahrhundert n. Chr. anzunehmen, Personen mit beschränkter Bildung hätten zur Elite gehört? Hätten solche Personen (auch lateinischer Muttersprache) überhaupt das Griechische beherrscht, und weiter, hätten sie sich auf den Wunsch verlegt, Kallimachos verstehen zu können? Ist dieser Wunsch im ersten Jahrhundert ebenso verbreitet wie im zweiten oder dritten und bei wem? Wie reagieren die Mythografen auf die veränderten sprachlichen Anforderungen ihrer Zeit? Inwiefern war die Bildungselite der zweiten Sophistik überhaupt noch an hellenistischen Werken interessiert, wenn doch zum Beweis wahrer Bildung die Beherrschung des "reinen" attischen Dialekts immer mehr in den Vordergrund trat? Inwiefern haben sich hier womöglich die Gebildeten im griechischsprachigen Osten von den stadtrömischen Eliten unterschieden? Keine dieser Fragen findet systematische Behandlung. Stattdessen erscheint etwa im Kapitel "Myth and Society" (IX) das Unterkapitel "Mythographic Lists", das eine zuvor nicht recht eingeführte Gattung mythologischer Texte vorstellt, während der zentrale Punkt "Learning Mythology" ebendort keine zwei Seiten füllt. Weshalb werden Bereiche wie "mythologische Verwandtschaft" und "Mythologie und Tourismus", die Schwerpunkte dieses Buchs hätten sein können, hier überhaupt (auf jeweils wenigen Seiten) abgehandelt, wenn sie nicht mit den vorab besprochenen Mythografen verbunden werden? Und welche Erkenntnis ist aus der Tatsache zu gewinnen, dass auch in der Renaissance mythologische Handbücher Konjunktur hatten?

Auch in der Conclusio (Kap. XI) sucht der erschöpfte Leser eine Zusammenfassung der Ergebnisse vergebens. Es folgen vielmehr im Anschluss noch fünf gelehrte Appendices zu weiteren Einzelfragen. Ein Stellenverzeichnis als nützliches Instrument, sich die vielfältigen Informationen dieses Buches zu erschließen, fehlt, ebenso ein Literaturverzeichnis und ein einführendes Kapitel zum Forschungsstand. So ist der Leser zurückgeworfen auf die entwaffnende Aussage des Autors im Vorwort (X): "It would no doubt been more useful if I had written a systematic history of Greco-Roman mythography." Da kann man ihm nur zustimmen!

Tanja S. Scheer