Rezension über:

Frank Schweppenstette: Die Politik der Erinnerung. Studien zur Stadtgeschichtsschreibung Genuas im 12. Jahrhundert (= Gesellschaft, Kultur und Schrift. Mediävistische Beiträge; Bd. 12), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2003, XIV + 338 S., ISBN 978-3-631-52027-7, EUR 56,50
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Rezension von:
Knut Görich
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München
Redaktionelle Betreuung:
Jürgen Dendorfer
Empfohlene Zitierweise:
Knut Görich: Rezension von: Frank Schweppenstette: Die Politik der Erinnerung. Studien zur Stadtgeschichtsschreibung Genuas im 12. Jahrhundert, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2003, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 4 [15.04.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/04/7306.html


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Frank Schweppenstette: Die Politik der Erinnerung

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1152 ließ Caffaro - mehrfach Konsul, Heer- und Flottenführer seiner Heimatstadt Genua - vor dem versammelten Rat ein von ihm verfasstes Geschichtswerk verlesen; sein Berichtshorizont umfasste mit den Jahren zwischen 1099 und 1152 jene Phase, in der sich die entstandene Kommune durch Teilnahme am ersten Kreuzzug und durch die Expedition zur Eroberung der spanischen Städte Almeria und Tortosa im Rahmen der Reconquista 1147/48 auch nach außen als politisch handlungsfähig und erfolgreich erwiesen hatte. Caffaros Geschichtsbild war überzeugend und konsensfähig: Die Konsuln ließen seine Annales Ianuenses von einem öffentlichen Schreiber abschreiben, in das Chartularium der Kommune aufnehmen und verliehen ihm damit den Charakter einer offiziellen Geschichte Genuas. Außerdem wurde Caffaro beauftragt, sein Geschichtswerk durch jährlich fortlaufende Ergänzungen weiterzuführen - eine Arbeit, die er bis 1163 fortsetzte; die Fortsetzung blieb dann für einige Zeit unterbrochen, bis der Kanzler Oberto als neuer Geschichtsschreiber der Kommune die zwischen 1164 und 1169 entstandene Lücke ausfüllte und die Jahrbücher durch regelmäßige Einträge von 1169 bis 1173 weiterführte. Dass die Genueser Annalen bis 1293 fortgeführt wurden, macht das Werk zu einem berühmten Sonderfall laikaler Geschichtsschreibung.

Die Frage nach dem "Sitz im Leben" eines solchen Geschichtswerkes liegt nahe, zumal für eine Arbeit, die im Rahmen des Münsteraner Sonderforschungsbereichs "Träger, Felder, Formen pragmatischer Schriftlichkeit im Mittelalter" entstand, genauer: in dessen von Hagen Keller geleitetem Teilprojekt "Der Verschriftlichungsprozeß und seine Träger in Oberitalien". Gegenüber jenen Forschungen, die die Annales Ianuenses vor allem zur Rekonstruktion einer Geschichte der Stadt Genua ausschöpfen, richtet Frank Schweppenstette, von Jan Assmanns Überlegungen zum kulturellen Gedächtnis und der Entstehung von Erinnerungsgemeinschaften ausgehend, sein Interesse auf die Kontextgebundenheit des verschriftlichten Geschichtsbildes und auf seine Funktion im politischen Rahmen der Kommune mit ihren jährlich wechselnden Amtsträgern. Er analysiert die von Caffaro und Oberto verfassten Texte in der Annahme, dass die Annalen "eine gemeinsame kommunale Erinnerung für die politischen Spitzen der Kommune [perspektivierten] und zugleich die Möglichkeit wirksamer Aktualisierung dieses fixierten Erinnerungswissens in einem neuen, zukünftigen Kontext [boten]" (14). Aus dieser Überlegung ergibt sich eine Untersuchung zunächst der "Produktion der Erinnerung" (19-106), dann der "Politik der Erinnerung" (107-283).

Zunächst wird der historische "Präsentationskontext" (17) der Werke Caffaros und Obertos aufgehellt. Als Caffaro 1152 mit seinem Geschichtswerk vor die Öffentlichkeit der kommunalen Amtsträger trat, geschah dies in einer Phase geschwächter politischer Handlungsfähigkeit der Kommune; die Ursache dafür lag in der durch hohe Kosten für die Flottenunternehmungen 1147/48 ausgelöste Finanzkrise und deren versuchter Bewältigung durch Verpfändung wichtiger kommunaler Einnahmequellen an private Konsortien. Oberto nahm die offizielle Geschichtsschreibung der Kommune 1169 wieder auf, als der 1164 ausgebrochene Parteienzwist erfolgreich überwunden wurde. Biografisch orientierte Abschnitte entwerfen ein "Profil der Geschichtsschreiber" (51), das im Falle Caffaros aufgrund der besseren Quellenlage freilich konturierter ausfällt als für Oberto. Es folgen Bemerkungen über Komposition, Sprache sowie Quellen und Vorlagen der Annalen, die sich in vielen Details mit den im zweiten Teil folgenden Ausführungen überschneiden und den Gang der Untersuchung leider unnötig unübersichtlich machen. Einige Einzelbeobachtungen seien festgehalten: Die Länge der von Caffaro bis 1163 jährlich hinzugefügten Texte war Konsequenz unmittelbarer Zeitgeschichtsschreibung, die gleichzeitig Reflex der jeweils unübersichtlichen historischen Situation und Versuch ihrer erklärenden Beherrschung war (86 f.). Die auffällige Verwendung von aus der Urkundensprache vertrauten Verkündigungsformeln weisen auf die Praxis der jährlichen Verlesung der einzelnen Jahreseinträge (90-96) hin. Caffaro und Oberto griffen beide auf das Kommunalregister als Quelle zurück und inserierten Briefe und Urkunden; dass zwar die Wahlanzeige Papst Alexanders III., nicht aber die der kaiserlichen Gegenpäpste aufgenommen wurde (103), erscheint als Hinweis auf eine schon in dieser Quellenauswahl gespiegelte, für die Kommune verbindliche politische Parteinahme.

Der zweite Teil der Arbeit untermauert mit vielen Textbeispielen die These, dass Caffaro und Oberto mit der in ihrer Geschichtsschreibung getroffenen Auswahl und Wertung von Ereignissen nicht nur das kommunale Selbstverständnis mitbestimmten, sondern auch den künftigen Entscheidungsträgern der Kommune politisch relevantes und jederzeit abrufbares Wissen bereitstellten. Schon der Prolog akzentuiert die Nützlichkeit der Erinnerung an das Geschehen der vergangenen Jahre, sodass vom Konzept einer utilitas memoriae die Rede sein kann (112 f.). Die eigentliche Bedeutung des Textes ergab sich aus der Möglichkeit seiner unterschiedlichen Funktionalisierung in unterschiedlichen historischen Kontexten; als eine Facette dieses Funktionsspektrums erscheint die "normative Tugendkonstitution konsularischer Herrschaftsausübung" (107): Sie bestimmte den Beginn von Caffaros Geschichtserzählung, die unter dem Eindruck der Krisenjahre um 1150 gerade die Erinnerung an die erfolgreiche Teilnahme am Kreuzzug als gleichsam erste offizielle Unternehmung der Kommune, die exemplarische militärische Tapferkeit eines Konsuls sowie den Konflikt mit Pisa als Fixpunkte des politischen Gedächtnisses festschrieb, innere Zwietracht in der Stadt jedoch ausblendete. Die zwischen 1154 und 1163 jährlich verfassten Berichte waren eine "Art diplomatisches Gedächtnis für die kommunalen Entscheidungsträger" (156), das vor dem Hintergrund der Konfrontation mit Friedrich Barbarossa politisch wichtiges Wissen fixierte und als solches für die jährlich wechselnden Amtsträger jederzeit abrufbar war; mit den Berichten über Gesandtschaftsreisen an den staufischen Hof, vor allem aber über die dort verfolgte Argumentationsstrategie erscheint die Geschichtsschreibung nicht nur in das kommunale Regierungshandeln integriert, sondern eine seiner Voraussetzungen zu sein: Das gilt etwa für die Wiedergabe der Argumentation, mit der die Genuesen die von Barbarossa 1158 auf dem Reichstag von Roncaglia geforderten Abgaben zurückwiesen (168-180), oder für die Schilderung des geschickten Taktierens am kaiserlichen Hof, das den Genuesen zu einem Vorteil im Streit mit Pisa verhalf (189-196).

Eine weitere Bedeutung des Textes erkennt Schweppenstette in seiner Funktion als "Konsulspiegel" (201): Einzelne Episoden der Annalen entfalteten die zentralen Tugenden der kommunalen Herrschaftsträger wie Gerechtigkeit des Urteils und umfassenden Einsatz für die Belange der Kommune (197-208). Dieser Aspekt bestimmte insbesondere Obertos 1169 verfassten Bericht über den seit 1164 herrschenden Parteienzwist in der Stadt und dessen Beilegung: Die minuziöse Beschreibung des komplizierten Verfahrens, mit dem die Kontrahenten zum Frieden gezwungen werden konnten, sollte künftigen Amtsträgern verantwortungsbewusstes Handeln der Konsuln zur Wahrung der kommunale Friedens- und Rechtsgemeinschaft exemplarisch vor Augen führen (209-240). Die für Obertos Bericht charakteristischen Redesequenzen und Dialogsituationen versteht Schweppenstette in Anknüpfung an Enrico Artifoni als Ausdruck "einer spezifisch italienischen Kultur der Beredsamkeit", die für die Diplomatie der Kommunen große politische Bedeutung entfaltete (240). Dieser sehr bedenkenswerte Ansatz löst sich vom üblicherweise bildungsgeschichtlich orientierten Interesse an der Ars dictaminis und der Ars arengandi / concionandi und gibt den Blick frei auf die politische Bedeutung der kunstgerechten Rede. Die länglichen Ansprachen, mit denen in Obertos Erzählung Pisaner und Genuesen an Barbarossas Hof um Rechtsansprüche auf Sardinien stritten (246-279), sind also unter verschiedenem Gesichtspunkt interessant: Sie markierten nicht nur sprachliche Formen, die die Rücksicht auf den kaiserlichen Rang auch und gerade bei einer kontroversen Debatte in Anwesenheit des Herrschers verlangten; sie fassten auch den zum jeweiligen Abfassungszeitpunkt erreichten argumentativen Stand im Streitfall zusammen und konnten geradezu den Status "erprobter Musterreden" (243) annehmen. So betrachtet, erscheinen die einschlägigen Passagen in Obertos Darstellung wie eine Vorwegnahme jener Handlungsanweisungen und Musterreden, die in der späteren Podestà-Literatur systematisiert wurden. Die frühen Jahresberichte der Annales Ianuenses thesaurierten Wissen also nicht nur für ein abgeschlossenes Archiv; das Wissen wurde vielmehr durch Verlesung der Jahresberichte den jährlich wechselnden Amtsträgern der Kommune zur Wiederaneignung und Aktualisierung bereitgestellt.

Die Neigung des Autors zur Durchnummerierung einzelner Aspekte und Ergebnisse sowie zur Verwendung von Spiegelstrichen bei der Schilderung einzelner Handlungsschritte geht auf Kosten einer kohärenten Darstellung, der außerdem durch die häufige Vorwegnahme wesentlicher Ergebnisse ansonsten vermeidbare Redundanzen aufgeladen werden. Die Freude an der Lektüre wird dadurch etwas getrübt, nicht aber die Neugier darauf, welche der zahlreichen Einsichten und Anregungen auf andere Werke der kommunalen Geschichtsschreibung übertragbar sind.

Knut Görich