Rezension über:

Gerd Blum: Hans von Marées. Autobiographische Malerei zwischen Mythos und Moderne, München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2005, 360 S., 117 s/w Abb., ISBN 978-3-422-06524-6, EUR 48,00
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Rezension von:
Frank Schmidt
Museum Frieder Burda, Baden-Baden
Redaktionelle Betreuung:
Olaf Peters
Empfohlene Zitierweise:
Frank Schmidt: Rezension von: Gerd Blum: Hans von Marées. Autobiographische Malerei zwischen Mythos und Moderne, München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 5 [15.05.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/05/10043.html


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Gerd Blum: Hans von Marées

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Hans von Marées ist kaum zu fassen. Auch rund 120 Jahre nach seinem Tod lässt sich das rätselhafte Werk des "Deutsch-Römers" nur mit Mühe in die Kunstgeschichte einordnen. Zwei Ansätze stehen sich scheinbar unversöhnlich gegenüber: die ältere formalästhetische Deutung postuliert Marées als Vorreiter der Moderne, dem das gegenständliche Sujet reiner Vorwand formaler Gestaltung gewesen sei. Die jüngere Forschung misst demgegenüber gerade dem Sujet eine Bedeutung bei, die ein autobiografisches Moment nicht ausschließt. Gerd Blum betont in seiner materialreichen Studie zu Recht, dass eine einseitige Sichtweise der Komplexität der Werke und ihrer historischen Bedingtheit nicht gerecht werden kann. Mithilfe bislang unveröffentlichter Quellen und einer eingehenden Analyse ausgewählter Werke strebt Blum eine Synthese der divergierenden Ansätze an.

Blum wendet sich zunächst einigen Bildern der 1860er-Jahre zu, die er auf Grund von Porträtähnlichkeiten und biografischen Bezügen inhaltlich deutet. Insbesondere der Verbindung zwischen Marées, dem Bildhauer Adolf von Hildebrand - Marées' zeitweiligem Schüler und Freund - dem Kunsttheoretiker Konrad Fiedler - ebenfalls Freund und Mäzen des mittellosen Marées - und der verheirateten Irene Koppel misst er größte Aufmerksamkeit bei. Die drei Männer waren in die attraktive Frau verliebt, die Hildebrand schließlich 1876 heiratete. Durch die Erschließung der Tagebücher Konrad Fiedlers sowie der Erinnerungen und Tagebücher Irene Koppels kann Blum dieses zwar bislang durchaus bekannte, doch für die Entzifferung der Werke wenig beachtete biografische Geflecht untermauern. Auch wenn man Blum nicht in jeder Assoziation folgen möchte, bleibt doch unbestreitbar, dass es sich bei Werken, in denen sich Frau und Mann in unterschiedlicher Beziehung gegenüberstehen keineswegs um unreflektierte Variationen von Vorbildern der Antike oder Renaissance handelt, sondern häufig um eine Auseinandersetzung mit eben dieser für alle Seiten problematischen erotischen Beziehung. Motivische Anleihen bei Werken des Cinquecento, etwa der Tempesta für Marées' Römische Landschaft I, ist diesbezüglich aufschlussreich, galt das Giorgione zugeschriebene Werke doch zu Marées' Zeiten als eine autobiografische Darstellung erotischen Inhalts, den Maler und seine Geliebte darstellend. Gesellschaftlich tabuisierte oder private Inhalte konnte so auch Marées durch derartige Bilderfindungen vermitteln.

Anhand seines Quellenstudiums illustriert Blum den letztlich durch Irene Koppel ausgelösten Bruch zwischen Hildebrand und Marées. Er kann glaubhaft machen, welchen immensen Eindruck das Ende dieser Männer- und Künstlerfreundschaft auf Marées ausübte, in die dieser große Hoffnungen gesetzt hatte. In zahlreichen Zeichnungen und Gemälden hat Marées dieses einschneidende Erlebnis verarbeitet. Das persönlich Erlebte wird ihm zum paradigmatischen Beispiel eines Künstlermythos und Künstlerschicksals. Der wahre Künstler müsse sich in letzter Konsequenz zwischen dem Familienleben und einer nur auf sein Schaffen konzentrierten Existenz entscheiden. Eine zweifelnde "Hildebrand-Figur" erscheint in den Werken daher häufig stellvertretend für den Typus des "jungen Künstlers" am Scheideweg zwischen privatem Glück und künstlerischem Ideal. Marées strebte dabei zunehmend eine "Transformation des Privaten ins Allgemeine" (88) an. In den Hesperiden-Bildern, die sein letztes Lebensjahrzehnt bestimmen sollten, verschleierte er das zu Grunde liegende biografische Moment vollends.

Die Forschung hatte dem Künstler lange Zeit eine derartige persönliche Ikonografie abgesprochen. Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Säkularisierung und dem damit einhergehenden Verfall der klassischen Bildsprache im 19. Jahrhundert möchte Blum auch Marées' Werke stärker unter diesem Aspekt sehen. Marées, wie auch Manet, Cézanne oder Picasso, verschlüsselten ihre biografischen Bilder. Im Nachweis seines durchaus schlüssigen Ansatzes erliegt Blum allerdings allzu oft der Versuchung, Kompositionen mit drei Figuren als Darstellungen von Hildebrand, Koppel und Marées zu deuten. Die Werke können dies selten zweifelsfrei bestätigen; auch sollten vage Porträtähnlichkeiten nicht überstrapaziert werden. Man muss dem Künstler zugestehen, ein auf biografischen Erlebnissen gegründetes Thema künstlerisch weiterentwickelt zu haben und aus einem Motiv- und Themenreservoir bisweilen auch unbewusst zu schöpfen. So findet für Blum eine weitere gescheiterte Liebesbeziehung Marées' zu der Wienerin Melanie Tauber, die sicherlich ebenfalls Spuren hinterlassen haben dürfte, keinen Niederschlag in der Bildwelt.

Eines machen Blums biografische Herleitungen deutlich: man muss den ganzen Marées überblicken, um einen Zugang zu den Hauptwerken der späten Jahre mit ihrem typisierten Figuren-Personal zu finden. Die scheinbar hermetische Bildwelt eröffnet ein reiches Beziehungsgeflecht und einen Dialog zwischen Bild und Betrachter. Dabei ist es bedeutsam, dass sich die Figuren auch ohne den biografischen Hintergrund erschließen. Marées ist hier dem goetheschen Diktum vom sich "selbst ganz aussprechenden" Kunstwerk verpflichtet (189). Der Künstler übersetzt die biografisch aufgeladenen Figuren der 1870er-Jahre in "symbolische Figuren" und "sinnbildliche Konstellationen" (193), die exemplarisch allgemeine Lebenssituationen zum Ausdruck bringen. Die Körpersprache der Figuren, ihre Bewegungen, wenn sie sich nach einer leuchtenden goldenen Frucht ausstrecken oder bücken, will als Ausdruck ihres Seins und ihres Wollens verstanden werden. Die Deutung der Werke kann dabei nur aus der reinen Anschauung gewonnen werden. Eine rein allegorische Dechiffrierung, etwa des Motivs des "goldenen Apfels" misslingt. Je nach Bildzusammenhang kann dieser sowohl auf den Sündenfall als auch auf ein erstrebenswertes Ziel und somit eine Auszeichnung anspielen.

Auf das Mittelbild des Hesperiden-Triptychons geht Blum ausführlich ein. Der biografische Hintergrund hat in diesem bedeutenden späten Werk eine Veränderung erfahren, indem er sich dem antiken Mythos anverwandelt hat. Gleichzeitig kommunizieren die drei symbolischen Akte allein durch Bewegung, Ausdruck und Komposition. Paradoxerweise schließen sich das Biografische und Marées' Desiderat einer allgemein verständlichen Kunst, die das Persönliche negiert, nicht aus. Es ist gerade die zunehmend abstrahierende Bildsprache, die diesen Spagat ermöglicht, wie Blum im sechsten Kapitel seiner Studie darlegt. Mit einem Hinweis auf die "sinnlich bedeutende" Form im Klassizismus (273) kann er deutlich machen, dass die Stilisierung der Figuren sowie die Formalisierung der Bildkomposition eine semantische Funktion besitzen (275). Dabei war Marées immer bemüht, Figuren und Bildgegenstände plausibel erscheinen zu lassen, mithin eine "Illusion des Lebens" zu erreichen, wie bereits sein Mäzen Konrad Fiedler erkannt hatte (275). Blum unterstreicht hier zu Recht, dass man Marées keineswegs - wie mitunter geschehen - als Vorreiter der abstrakten Kunst des 20. Jahrhunderts sehen könne, dem es um eine Befreiung der Form vom Gegenstand gegangen sei. "Ich nenne Form den in künstlerischer Konsequenz gestalteten Inhalt" (277). Blum dient dieser Satz Adolf von Hildebrands zur Untermauerung seines Fazits, Marées habe Gemälde schaffen wollen, "die sich ganz aus der Anschauung erklären und zugleich ihre privaten Ursprünge in Darstellungen von universaler Geltung transformieren" (278).

"Autobiographische Malerei zwischen Mythos und Moderne" - Gerd Blum gelingt es in seiner anregenden und erfreulich reich bebilderten Studie diese Kernpunkte seines Ansatzes anschaulich auszuführen. Eine Betrachtung des kulturgeschichtlichen Kontextes im abschließenden Kapitel versucht, den vorherrschenden Eindruck vom autonomen Künstler teilweise zu revidieren. Während die Werke in ihrer Zeit als eigenständiger Solitär erscheinen, zeichnen sein Charakter, seine Werte und politischen Ansichten Marées als beinahe typischen Vertreter der Gründerzeit aus. Abweichungen und Widersprüche zwischen dem zumindest partiell fassbaren Menschen Marées und seiner Bildwelt lassen so Brüche erkennen, welche auch die beginnende Moderne kennzeichnen. In erster Linie aber machen sie deutlich, und dies vermag nicht zuletzt Blums Arbeit zu zeigen, dass das vielschichtige Werk Hans von Marées' auch deshalb schwer zu fassen ist, weil der Künstler sich in seinem zur Schau getragenen Künstler-Ethos jeglicher Vereinnahmung und leichten "Eroberung" entzogen hat.

Frank Schmidt