Rezension über:

Claudia Lepp: Tabu der Einheit? Die Ost-West-Gemeinschaft der evangelischen Christen und die deutsche Teilung (1945-1969) (= Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte. Reihe B: Darstellungen; Bd. 42), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, 1028 S., ISBN 978-3-525-55743-3, EUR 99,00
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Rezension von:
Ellen Ueberschär
Evangelische Akademie Loccum
Empfohlene Zitierweise:
Ellen Ueberschär: Rezension von: Claudia Lepp: Tabu der Einheit? Die Ost-West-Gemeinschaft der evangelischen Christen und die deutsche Teilung (1945-1969), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 6 [15.06.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/06/8786.html


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Claudia Lepp: Tabu der Einheit?

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Bis in die neuesten Darstellungen der deutschen Kirchengeschichte des 20. Jahrhunderts hinein überwiegt die separate Betrachtung der beiden Landesteile einerseits und die säuberliche Trennung der Kirchen- von der Politik- und Sozialgeschichte andererseits. Claudia Lepp versucht nun in ihrer 1000 Seiten starken Karlsruher Habilitation, diese Grenzen zu durchbrechen. Zum einen bietet sie eine konsequente Synchrondarstellung der Vorgänge in beiden Teilen Deutschlands, zum anderen verfolgt sie im Bereich der kirchlichen Zeitgeschichte ein explizit politikhistorisches Thema, und siehe da: Der prägende Beitrag der Protestanten zur politischen Debatte um die deutsche Nation in den ersten zwei Jahrzehnten der Teilung tritt in eklatanter Weise hervor. Worum geht es im Einzelnen?

Lepp möchte die "Interpretationsmuster und Praxis kirchlicher wie nationaler Einheit im deutschen Protestantismus" (12) analysieren und kommt dabei nicht umhin, die wichtigsten Stationen doppeldeutscher Nachkriegsgeschichte in den Blick zu nehmen. Unter "Praxis" versteht sie die vielfältigen Versuche von beiden Seiten, die kirchliche und nationale Einheit sowie Begegnungs- und Austauschmöglichkeiten zwischen Ost und West aufrecht zu erhalten. Als Seismographen für Veränderungen in der Einstellung zur Nation wählt sie neben der offiziellen Ebene der EKD die Bereiche evangelischer Jugend- und Studentenarbeit aus, und kommt dabei insbesondere für die Geschichte der Evangelischen Studentengemeinden zu neuen Ergebnissen. Die Darstellung dieser Einrichtungen des Eliten-Nachwuchses ist neu, was nicht für die Darstellung der Handlungsstränge auf den kirchenleitenden Ebenen für die 1940er- und 1950er-Jahre gilt. Lepp ordnet Bekanntes, stellt es in das Licht der Nationenfrage, wägt ab, ob es sich um deutschlandpolitische Subjekt- oder Objektfunktionen handelt. Für diejenigen, die mit der Materie vertraut sind, ist diese Arbeitsweise teilweise ermüdend.

Zunächst trug die "Hoffnung auf Wiedervereinigung" bis in das Jahr 1955. Die Kirchen nahmen die Rolle einer "geistig-kulturellen Klammer" (77) an. Die ideelle und finanzielle Unterstützung, die von Westen nach Osten floss, galt den Kirchen als "Hüterinnen des kulturnationalen Erbes" (218). Gleichzeitig waren die Protestanten über die Frage, wie die nationale Einheit am besten zu erreichen sei, tief verstritten. Auf der einen Seite standen die lutherisch geprägten Kirchenführer, die sich enger an Adenauer und seine Politik der Westintegration anschließen wollten - und dabei die so empfundene politische Deutungshoheit der Katholiken in Kauf zu nehmen bereit waren - und auf der anderen Seite all diejenigen, die Karl Barth auf einen "dritten Weg" im ideologischen Gefecht der Weltmächte folgen wollten (91), von Martin Niemöller bis Gustav Heinemann. Die Verantwortlichen der Evangelischen Studentengemeinden in Deutschland (ESGiD) tendierten zu letzterer Position, jedenfalls billigten sie auf ihren gesamtdeutschen Treffen der herkömmlichen Nationsidee keine Zukunft zu. Sie fanden stattdessen den Begriff der "Schuldgemeinschaft".

Nach Abschluss der doppelten Blockintegration um das Jahr 1955 drängte der kommunistische Staat auf Loyalitätsbekundungen der DDR-Kirchen. Auf EKD-Ebene hingegen wurde 1956 ein letzter Versuch gemacht, die nationale Einheit mit kirchlicher Initiative zu befördern. Lothar Kreyssig, einer der aufrechtesten Protestanten in der Zeit des Nationalsozialismus, bemühte sich im Umfeld der EKD-Sondersynode 1956, die sich zu Themen der nationalen und kirchlichen Einheit äußerte, um "Mitverschwörer" für seinen Plan, einen "gesamtdeutschen Rat" zu proklamieren (229 ff.). Faktisch jedoch - das erwies sich wiederum an der Entwicklung im Bereich der Studentengemeinden - hatte die Akzeptanz der Teilung Deutschlands längst begonnen. Die Vertreter der Studentengemeinden stellten die Einheit der ESGiD in Frage und gaben sich zum Handeln im jeweils eigenen Bereich frei. In die Jugendbegegnungstreffen sickerten die Stereotypen vom "reichen Westen" und vom "frommen Osten" ein (377).

Der Diskurs um die "Einheit" blieb auch nach dem Mauerbau innerhalb der Evangelischen Kirche beherrschend, die nun - anders als in den 1950er-Jahren - den kirchlichen vom nationalen Einheitsdiskurs zu entkoppeln suchte. Der Konnex von deutscher Einheit und europäischem Frieden, der das Urteil und die Handlungsoptionen der älteren Generation bestimmt hatte, wich in der neuen Riege von Kirchenführern, die Anfang der 1960er-Jahre in ihre Ämter kam, einer realistischen Annäherung an das Modell der "Koexistenz". Damit verbunden war allerdings das Beharren auf einer eigenständigen Friedenspolitik, die vom kommunistischen Regime geschmäht und von der bundesdeutschen Politik als "kirchlicher Neutralismus" abschätzig bewertet wurde (427 ff.).

Der Anspruch der Kirchenführer, nicht die politische, sondern die "menschliche Wiedervereinigung" anzustreben, wurde unter anderem durch intensive Beteiligung an den Häftlingsfreikäufen ab 1964 und durch diplomatischen und öffentlichen Einsatz für humane Passierscheinregelungen eingelöst (448 ff.). Was "Koexistenz" in der Praxis bedeuten konnte, führten die Begegnungstreffen der Studentengemeinden vor, die sich rigoros ihren jeweiligen politischen Kontexten angepasst hatten. Die "Patentreffen", die sich im neuen Selbstverständnis zu "Partnertreffen" wandelten, strebten die Wahrnehmung einer gegenseitigen "Korrektivfunktion" an, auch um den Preis der Gleichsetzung des totalitären Systems mit dem demokratischen Verfassungsstaat.

In der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre geriet die Partnerarbeit vollends in eine lang anhaltende Krise. Die "Linkspolitisierung" der westdeutschen Studentenvertreter stieß auf Seiten der mit dem Realsozialismus konfrontierten ostdeutschen Vertreter auf Unverständnis. Gleichzeitig ließ das Interesse westdeutscher Jugendlicher und Studierender an ihren DDR-Altersgenossen erheblich nach. Die Faszination für neomarxistische Theorien und entwicklungspolitische Problemstellungen ging einher mit dem Konzept einer Entnationalisierung, das sich im Studentenbereich auch organisatorisch niederschlug (762 ff.).

Die EKD wiederum näherte sich zunehmend der Vorstellung von einer "historisch moralischen Identität der Deutschen als Verantwortungsgemeinschaft", die stark mit den Begriffen Frieden und Versöhnung verknüpft war (785). Für den nationalen Einheitsdiskurs markieren die Jahre zwischen 1965 und 1967 in der Interpretation Lepps den entscheidenden Paradigmenwechsel. Die neue politische Bewertung der Oder-Neiße-Grenze, wie sie die Ostdenkschrift vornahm, brachte zum Ausdruck, dass die protestantischen Deutungseliten die Größen von "Volk, Nation und Vaterland" insgesamt "säkularer und sekundärer" bewerteten. "Im Sinne der Staatsnation wurde die Nation hinsichtlich ihrer Binnenordnung demokratischer und pluraler sowie im Hinblick auf ihre Außenbeziehungen pazifistischer gedacht. Nationalkonservative Positionen mit ihrem bedenklichen Irrationalismus und politischen Romantizismus konnten keine Deutungshoheit mehr in der evangelischen Kirche erlangen" (571). Dem jedoch ging eine erbitterte, wenngleich klärende, von Lepp spannend wiedergegebene Diskussion um "Volk, Nation und Vaterland" in den protestantischen Medien voraus (548-570).

Während die Protestanten den deutschlandpolitischen Diskurs der 1960er-Jahre entscheidend belebten, geriet die kirchliche Einheit immer stärker unter Druck. Innerkirchlich wuchsen die Zweifel, die organisationspolitischen Lähmungen länger in Kauf nehmen zu müssen, und äußerlich erhöhte das DDR-Regime den Druck auf die institutionelle Trennung der EKD erheblich. Diese Trennung stellt Lepp in ihrem letzten Kapitel dar. Mit der Gründung des Bundes Evangelischer Kirchen in der DDR, die mit dem Machtwechsel in Bonn 1969 zusammenfiel, endet die Studie. Gleichwohl bildet das stark auf die kirchliche Institutionengeschichte konzentrierte Kapitel eine Art Exkurs gegenüber den vorangehenden diskurshistorischen Teilen der Untersuchung. Auf westdeutscher Seite löste die Neuaufstellung der DDR-Kirchen im Wesentlichen hilflose Reaktionen aus: Weder wollte die nun auf Westdeutschland beschränkte EKD dem Bund die Anerkennung wirklich verweigern, noch konnte sie ihn akzeptieren. Bis zur realen Wiedervereinigung blieb ein Artikel in der Ordnung des Bundes der Evangelischen Kirchen als letzte Brücke erhalten: Darin war von der besonderen Gemeinschaft der Christen in Ost- und Westdeutschland die Rede.

Es ist ausgesprochen schade, dass Lepp den Ertrag ihrer breit angelegten Untersuchung nicht mit mutigen Thesen in die Geschichte des Verhältnisses von Protestantismus und Nation einzeichnet. Die doppelte Gebrochenheit des Protestantismus - Verlust seiner Herrschaftsnähe in beiden deutschen Staaten und Verlust seiner Einheit - ist, das beschreibt Lepp sehr genau, spiegelbildlicher Ausdruck des gebrochenen Nationalbewusstseins auf mentaler, moralischer, kultureller und politischer Ebene. Die "Sozialdemokratisierung" des deutschen Protestantismus, die Lepp am Ende diagnostiziert, ist dafür nur ein unzureichender Ausdruck. Die generationellen Bezüge, die personalen Verwurzelungen in nationalkonservativen, nationalliberalen und linksliberalen Lagern der Weimarer Zeit und ihre Transformation in linksnationale und nationalprotestantische Einstellungen der Nachkriegszeit mit allen Kontinuitäten und Gebrochenheiten, die sukzessive Anpassung des von den Protestanten wahrgenommenen Öffentlichkeitsauftrags an die politischen Realitäten, die institutionellen Irrtümer, die im vermeintlichen Gehorsam gegenüber den Barmer bekenntniskirchlichen Überzeugungen begangen wurden, die deutschlandpolitische Impulsgeber-Funktion christlicher Versöhnungskonzepte - all das erscheint in detaillierter Ausarbeitung in diesem Opus Magnum und fehlt am Ende in einer kräftigen Zusammenschau. Dennoch sind dem Buch viele Leserinnen und Leser zu wünschen, für die hier ein zentrales deutschlandpolitisches Thema in einem zentralen gesellschaftlichen Bereich gründlich beschrieben wird.

Ellen Ueberschär