Rezension über:

Mark Hewitson: Germany and the Causes of the First World War, Oxford: Berg Publishers 2004, ix + 268 S., ISBN 978-1-85973-870-2, GBP 15,99
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Rezension von:
Andreas Rose
Universität Augsburg
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Andreas Rose: Rezension von: Mark Hewitson: Germany and the Causes of the First World War, Oxford: Berg Publishers 2004, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 7/8 [15.07.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/07/10274.html


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Mark Hewitson: Germany and the Causes of the First World War

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Geschichtsschreibung lebt von der fortwährenden Infragestellung scheinbarer Gewissheiten, der offenen Diskussion und Ausdifferenzierung. Seit ein paar Jahren existiert ein erfrischend breit gefächertes Nachdenken über das katastrophale Ende des langen 19. Jahrhunderts. Zuversichtlich hatte so vor ein paar Jahren Stig Förster betont, dass die Wissenschaft inzwischen unvoreingenommener und ohne politischen Ballast die Ereignisse zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter die Lupe nehmen könne als noch die Generationen zuvor. Volker Ullrich erkannte die Historiografie zu den Ursachen des Ersten Weltkrieges kurz darauf bereits in einer "neuen Runde". [1] Damit scheint ein grundsätzliches Resümee über den Gang der Forschung und seine größten Kontroversen längst als ein eigenständiges Projekt und immer weniger in Aufsatzform zu bewältigen. Nachdem sich Annika Mombauer mit den "Controversies and Consensus" über die Kriegsursachen beschäftigt hat [2], legt nun auch Mark Hewitson ein Textbook über "Germany and the Causes of the First World War" vor, in dem es ihm augenscheinlich zunächst vor allem um die kritische Auseinandersetzung mit den Forschungsergebnissen anderer geht. Anders als Mombauer zielt er dabei jedoch weniger auf eine Darstellung der wissenschaftlichen Entwicklung seit 1918 und die inzwischen vorliegenden, differenzierten Erkenntnisse verschiedener lang- und kurzfristigen Ursachen, sondern auf den abermaligen Nachweis deutscher Alleinschuld.

Seinem Gegenstand nähert er sich dabei mit einem pauschalen Rundumschlag gegen die von ihm ausgemachte Dominanz revisionistischer Geschichtsschreibung, die zuletzt die Gewissheiten der Schüler Fritz Fischers verdrängt hätte. Erste Aufmerksamkeit ist ihm damit sicherlich gewiss, wenn sich wohl auch die wissenschaftliche Zustimmung dazu eher in Grenzen halten wird. Dies hat indes weniger mit etwaigen etablierten Meinungen zu tun als vielmehr damit, dass Hewitson dem inzwischen erreichten Differenzierungsgrad nicht gerecht wird und den auch im englischen Sprachgebrauch keineswegs wertfreien Revisionismusbegriff allzu großzügig auslegt. Als Revisionist gilt ihm, wer eine differenziertere Ansicht als die "Fischerites" vertritt und die Zwänge des Kaiserreichs thematisiert, statt immer wieder auf die tiefe moralische Schuld der Entscheidungsträger in Berlin zu verweisen. Selbst wer, wie David Stevenson und David Herrmann bedingt durch ihr international angelegtes Themenfeld, eine allgemeine Militarisierung der Außenpolitik als strukturelles Merkmal vor 1914 feststellt [3], gehört in seinen Augen zur Riege revisionistischer Historiker (11). Mit dieser Maßgabe geht Hewitson sicherlich zu weit und impliziert einerseits einen Konsens, der gerade im Nachgang der Fischer-Kontroverse zu keiner Zeit mehr erreicht wurde. Zum anderen wird der Revisionismusvorwurf - zuvor auf die Vertreter der "Unschuldsthese" angewandt - bei ihm zur beliebigen Leerformel mit dem Ergebnis, dass sich wohl der eine oder andere Kollege verwundert die Augen reiben wird, wenn er sich in der Liste so genannter "revisionists" (4) wieder findet. Zumal keiner der genannten, mit Ausnahme von Niall Ferguson, heute bestreitet, dass das Deutsche Reich im Juli 1914 ganz bewusst das Risiko eines Krieges eingegangen ist und somit die Hauptschuld am Kriegsausbruch zu tragen hat. Dennoch sieht Hewitson auch in den Werken Schöllgens, Dülffers, Hildebrands, Canis' sowie Försters, Mombauers und Mommsens gleichermaßen "a substantial mitigation of Wilhelmine statesmen's moral responsibility for the outbreak of war in 1914" (224).

Ausdruck dieses Trends sei vor allem die inzwischen verbreitete Differenzierung, dass sich das Kaiserreich zunehmend in einer Defensivsituation befunden habe. Für Hewitson dagegen agierte das Reich primär "out of a position of strength" und er verweist auf die Aggressivität der Berliner Entscheidungsclique. Es folgen acht z. T. bemerkenswert informative wie ideenreiche Kapitel, die auch sehr gut ohne den pauschalisierenden Einstieg ausgekommen wären. Zumal sich Hewitson dabei nie auf die Gesamtwerke der genannten Historiker bezieht, sondern lediglich auf wenige Einzelargumente. Ohne selbst eine neue Gesamtdeutung anzustreben, konzentriert er sich vor allem auf politisch, ökonomisch, psychologisch wie militärisch angenommene Zwänge Deutschlands.

Fergusons These von der relativen Finanzschwäche des Reiches im Vergleich zum finanzstarken England begegnet er dabei in erster Linie mit dem Hinweis, auf die überwiegend positive Stimmung unter den Industriellen sowie in der Banken- und Finanzwelt (21-38). Ihm gelingt es einmal mehr, auf das eigentliche Friedensinteresse der deutschen Industriellen hinzuweisen. Dass er, wie ihm erst zum Schluss seiner Ausführungen auffällt, damit aber auch dem Fischer-Modell von "iron and rye" widerspricht, erscheint nur am Rande wichtig (35). Aber nicht nur Ferguson unterstellt er ein grundsätzlich apologetisches Interesse. Auch in Mommsens, Försters und Eleys Aussagen zur öffentlichen Meinung entdeckt er die Intention, Berlin frei zu sprechen (39-84). Immer wieder versucht er dabei, auf eine grundsätzlich positive Stimmung in der deutschen Öffentlichkeit wie auch bei Militärs (85-145), Politikern und Diplomaten (145-195) hinzuweisen, um so dem Argument des Defensivcharakters deutscher Außenpolitik vor 1914 zu begegnen. Niederlagen wie in der Bagdadbahnfrage oder diplomatische Pyrrhussiege in der Annexionskrise deutet er als Belege gegen die zunehmende Isolation des Reiches (228). Umso größer, so sein Fazit, sei deshalb die moralische Schuld deutscher Entscheidungsträger im Juli 1914.

Die einzelnen Abschnitte sind insgesamt flüssig geschrieben und bieten zweifellos neue Hinweise und Denkanstöße. Zu Hewitsons Stärken zählt es zweifellos, einzelnen Thesen der Forschung eine ebenso plausible Antithese gegenüber zu stellen. Eine verbindende, die Ambivalenz des Zeitalters berücksichtigende Synthese ist aber seine Sache nicht. Dem Buch haftet so etwas Zwanghaftes an. Immer wieder erhält der Leser den Eindruck, als versuche er, etwas zu belegen, was längst nicht mehr - auch von den vermeintlichen "Revisionisten" - angezweifelt wird. Indem er mit Hinweis auf die deutsche Wiedervereinigung sogar politische Intentionen unterstellt (224), wirkt sein Buch nicht selten als déjà vue-Erlebnis der 70er-Jahre. Zu wenig nimmt er die Gesamtarbeit der genannten Historiker zur Kenntnis. Zu sehr greift er sich vielmehr einzelne Passagen oder Aufsätze heraus und unterstellt zu undifferenziert die Absicht, das Kaiserreich entlasten zu wollen. Um eine von Schöllgen festgestellte allgemeine imperialistische Stimmung auch bei den Parteien zu widerlegen, führt er die anti-imperialistische Ausrichtung vieler Parteien an (64). Dass auch Ferguson die Friedensliebe unter den Sozialisten anführt, wird übersehen. [4] Unterstellt er gerade Schöllgen, Canis und Schroeder, mit ihren Verweisen auf die Zwänge des internationalen Systems und den Anteil anderer Mächte lediglich von Deutschland ablenken zu wollen (12), so verschweigt er, dass ihr Blick sich vor allem auf die Gesamtepoche und nicht nur auf die letzten Friedensjahre richtet. Aus der Konzentration auf die Jahre 1890 bis 1902 wie z. B. bei Canis [5] eine Apologie der Entscheidungsträger in der Julikrise abzuleiten, kann indes nicht überzeugen.

Festzuhalten bleibt, dass es Hewitson zweifellos gelingt, in den einzelnen Abschnitten seines Buches plausible und gedankenreiche Kontrapunkte zu setzen, woraus auch der Wert der Studie resultiert. Bedauerlich ist nur, dass die viel auffälligere und überzogene Kritik diese Ergebnisse in den Hintergrund rückt.


Anmerkungen:

[1] Stig Förster: Im Reich des Absurden: die Ursachen des Ersten Weltkriegs, in: Bernd Wegner (Hg.): Wie Kriege entstehen: Zum historischen Hintergrund von Staatenkonflikten, Paderborn u. a. 2000, 211 f. Volker Ullrich: Ein Weltkrieg wider Willen? Der Streit der Historiker über den Kriegsausbruch 1914 geht in eine neue Runde, DIE ZEIT, 2.1.2003.

[2] Annika Mombauer: The Origins of the First World War. Controversies and Consensus, London 2002.

[3] David Stevenson: Armaments and the Coming of War: Europe 1904-1914, Oxford 1996. David Herrmann: The Arming of Europe and the Making of the First World War, Princeton 1996.

[4] Niall Ferguson: Der falsche Krieg. Der Erste Weltkrieg und das 20. Jahrhundert, Stuttgart 1999, 397-399.

[5] Konrad Canis: Von Bismarck zur Weltpolitik. Deutsche Außenpolitik 1890-1902, Berlin 1997.

Andreas Rose