Rezension über:

Carmen von Samson-Himmelstjerna: Deutsche Pilger des Mittelalters im Spiegel ihrer Berichte und der mittelhochdeutschen erzählenden Dichtung (= Berliner Historische Studien; Bd. 37), Berlin: Duncker & Humblot 2004, 328 S., ISBN 978-3-428-11556-3, EUR 86,00
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Rezension von:
Nine Miedema
Germanistisches Institut, Westfälische Wilhelms-Universität, Münster
Redaktionelle Betreuung:
Jürgen Dendorfer
Empfohlene Zitierweise:
Nine Miedema: Rezension von: Carmen von Samson-Himmelstjerna: Deutsche Pilger des Mittelalters im Spiegel ihrer Berichte und der mittelhochdeutschen erzählenden Dichtung, Berlin: Duncker & Humblot 2004, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 7/8 [15.07.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/07/7787.html


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Carmen von Samson-Himmelstjerna: Deutsche Pilger des Mittelalters im Spiegel ihrer Berichte und der mittelhochdeutschen erzählenden Dichtung

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Die Dissertation (FU Berlin, 2000) gliedert sich in einleitende Kapitel (I-III, 11-29), einen ersten Hauptteil, der sich lateinischen Pilgerberichten widmet (IV-V, 30-164: Johannes von Würzburg, Theodericus, Burchard von Straßburg, Arnold von Lübeck, Wilbrand von Oldenburg, Philippus, Wilhelm von Boldensele), einen zweiten Hauptteil, in dem deutschsprachige fiktionale Texte besprochen werden (VI-VII, 165-272: "Spielmannsepik"; Hartmanns 'Gregorius', Wolframs 'Parzival', Gottfrieds 'Tristan'; nachklassische Epik), und ein Schlusskapitel (VIII, 273-277). Es folgen Quellen- und Literaturverzeichnisse sowie ein Register (278-328). - Warum gerade die genannten sieben lateinischen und 19 deutschen Texte ausgewählt wurden, wird nicht näher erläutert.

Auf die hohe Anzahl formaler Fehler in der Arbeit sei hier nicht näher eingegangen. Auf einer grundsätzlicheren Ebene ist das wichtigste Defizit der Arbeit ihre ungewöhnlich unpräzise Fragestellung: "Vorrangiges Ziel dieser Arbeit ist es, die strengen Gattungsgrenzen, die lange Zeit zwischen den verschiedenen Textsorten gezogen wurden, in Frage zu stellen und anhand des Motivs Pilger, also dem Helden sowohl fiktionaler Werke als auch der berichtenden Texte, einen Einblick zu gewinnen in das Zusammenspiel zwischen Autor und Rezipienten, zwischen Faktizität und Fiktion - aber auch, und ganz wesentlich, Erkenntnisse über den Pilger des Mittelalters zu gewinnen" (I: "Einleitung und Ziel der Arbeit", 11-14, hier 14) - vermischt werden hiermit gattungstheoretische, motivgeschichtliche, erzähltechnische bzw. fiktionalitätsgeschichtliche und sozialgeschichtliche Fragen.

Die diffuse Fragestellung wird in den nachfolgenden Kapiteln nicht näher spezifiziert. Der Forschungsbericht (II, 15-22) listet Publikationen auf, ohne deren zentrale Thesen zu referieren. Berücksichtigt wird die Literatur bis 1997 (14), womit nahezu ein Jahrzehnt intensivster Forschung vernachlässigt wird; darüber hinaus wird auch die Literatur bis 1997 nur unvollständig berücksichtigt. [1]

Das Kapitel "Methodischer Ansatz und theoretische Grundlagen" (III, 23-29) wirft weitere Fragen auf und macht dadurch das Fehlen eines wirklich methodischen Ansatzes umso deutlicher: "Die in dieser Arbeit an Pilger gerichteten Fragen befassen sich letztlich damit, welche Dimensionen die Existenz eines Pilgers beinhaltet. [...] Wer also ist der Pilger?" (23) - ist das wichtigste Erkenntnisinteresse damit doch ein eher sozialgeschichtliches? Die anschließend formulierte These, "dass sich ein Phänomen über Gattungsgrenzen hinweg betrachten lässt" (26), kann kaum als innovativ bezeichnet werden, ist sie doch in mentalitätsgeschichtlich orientierter Forschung ohnehin üblich [2], oder auch die auf Seite 18 nur sehr kurz erwähnte Studie von Jutta Rüth; sie lenkt das Interesse überraschend erneut in die Richtung gattungsbezogener Fragestellungen.

Schwerer wiegt, dass sich außerdem einige Prämissen für die Untersuchung als fraglich erweisen: So lässt sich die Behauptung, dass der "Autor eines mittelalterlichen Pilgerberichts [...] seine eigene Person in der gleichen Weise in den Handlungsablauf [stelle], wie der Dichter eines Epos den fiktionalen Pilger" (25), kaum aufrecht erhalten, insbesondere nicht angesichts der Tatsache, dass viele Pilgerberichte um höchste Objektivität bemüht waren und diese durch wörtliche Abschrift älterer Quellen zu erreichen versuchten, d. h. gerade durch den Verzicht auf die Darstellung der 'eigenen Person', durch den Verzicht auf 'Originalität' und 'Individualität'. Die Stellungnahme gegen eine der Forschung unterstellte "schöne Gewißheit [...], es sei in der Literatur alles fein säuberlich getrennt, Fiktion ist erfunden und Bericht schildert Tatsachen" (164), ist ein Kampf gegen Windmühlen: Bereits Brenner verweist im Rahmen seines von v. Samson-Himmelstjerna nicht berücksichtigten Forschungsberichts zur Reiseliteratur auch auf fiktionale Texte und erwähnt nicht nur die (insgesamt schwerwiegenden) Unterschiede, sondern auch die gelegentliche gegenseitige Beeinflussung beider Quellenbereiche. [3] Ein Paradebeispiel ist der von der Autorin nicht näher untersuchte 'Reinfrid von Braunschweig' (nach 1291), in dem der Protagonist das Heilige Land besucht (V. 17981-18181), wobei offensichtlich eine Reisebeschreibung als Quelle benutzt wurde. Reinfrid besucht jedoch die Heiligen Stätten nicht der Topografie des Heiligen Landes, sondern der Chronologie des Lebens Christi entsprechend. Dieser bewusste Eingriff in die Vorlage zeigt geradezu musterhaft die Freiheiten, die sich der Autor eines fiktionalen Textes erlauben konnte: Der Nachvollzug der passio Christi von Station zu Station ist nur in der Fiktion problemlos möglich und erlaubt hier eine Art andächtiger imitatio Christi, für die eine reale Pilgerreise kaum Raum bot.

Als "Vorgehensweise der Untersuchung" wird ein deskriptives "close reading" (28) gewählt; besonderes Augenmerk wird auf die (eher unsystematisch zusammengestellten) Indizien gelegt, "die auf Veränderungen und Entwicklungen hinsichtlich solcher Faktoren wie Selbstverständnis des Ich-Erzählers oder des literarischen Pilgers, Erleben der Pilgerfahrt und der Ziele im Heiligen Land, Umgang mit anderen Kulturen hindeuten. Die Stellung der jeweiligen Protagonisten innerhalb des Handlungsgefüges ihrer Texte wurde dabei genau untersucht. Fremdheitsgefühl, Begegnungen mit dem Fremden, das Erleben fremder Sprachen und Kulturen, Zitate oder Anspielungen oder das Bewußtsein der Situation des Schreibenden als Autor wurden im Falle der Pilgerberichte herangezogen. Die literarischen Pilger wurden unter Zugrundelegung ähnlicher Kriterien betrachtet" (28). Es wird nicht reflektiert, dass die Autoren der fiktionalen Texte in aller Regel selbst keine Jerusalempilgerfahrt unternommen hatten, sodass sich der "Ich-Erzähler" eines Pilgerberichtes auch in diesem Punkt grundlegend vom "literarischen Pilger" unterscheidet; es wird außerdem nicht auf den grundsätzlichen Unterschied verwiesen, dass die Autoren fiktionaler Texte mit der Verwendung eines Pilgers als einer handelnden Figur immer der Gesamtstruktur des Textes untergeordnete handlungsfunktionale Zwecke verbanden, während die "Verwendung" des "Pilgermotivs" im Pilgerbericht keine solchen übergeordneten Erzählziele kennt. Ob der Verfasser eines literarischen Textes ebenso wie der Autor eines Berichtes seinem Publikum ein nachahmenswertes Modell zur Verfügung stellen wollte, wird nicht analysiert; dies erscheint angesichts der Häufigkeit, mit der die Pilger(ver-)kleidung in der Fiktion lediglich täuschenden Absichten dient, fraglich. So fehlt insgesamt die Frage danach, inwiefern die Erkenntnis- und Vermittlungsinteressen der Verfasser von Pilgerberichten und fiktionalen Texten möglicherweise differieren. Dass unter den Verfassern der Berichte jemand in ähnlich täuschender Absicht die Rolle des Pilgers übernommen hätte wie in den fiktionalen Texten häufig skizziert, erscheint kaum denkbar (trotz der etwas abenteuerlichen Vermutungen zu Burchard von Straßburg als "Spion", 95); es handelt sich somit bei der Verkleidung in täuschender Absicht um ein Motiv, das die fiktionalen Werke von denjenigen mit faktischem Anspruch unterscheidet.

Auch die Analysen der einzelnen Texte, die sich oft in Einzelheiten ergeben, die im weiteren Verlauf der Untersuchungen keine Rolle mehr spielen, weisen Defizite auf. Nur wenige Beispiele für schlichte Sachfehler: Der Satz "Ibique monstratur locus" (Philippus, zitiert 143) ist keineswegs als eine Anweisung für Reiseführer ("dort soll man [...] zeigen") zu verstehen, sondern vielmehr als Information für den Reisenden selbst ("dort wird [...] gezeigt"). In der Beschreibung der fiktionalen Texte finden sich lapsus wie die überholte These, die Spielmannsepen seien von einem "'spilman'" verfasst (165). [4]

Überzeugen somit die Einzelanalysen nicht im Detail, so gilt dies erst recht für die zentralen Thesen der Studie. In den verschiedenen Texten eine Entwicklung zu sehen, die in der Vorstellung des Pilgers "als Held" (248) gipfle, wie er im 'Wilhelm von Wenden' skizziert werde, simplifiziert die vielfachen intertextuellen Bezüge der Texte untereinander zu einem schlichten linearen Modell. Zu formulieren gewesen wäre eher, dass der "Held" (besser: der Protagonist) auch im 'Wilhelm von Wenden' als Pilger auftrete, hier jedoch für längere Dauer - gesteigert, aber nicht grundsätzlich anders als etwa im 'Reinfrid'. Dass "die literarische Figur 'Pilger' als Schnittmenge von Realem und Imaginärem zu begreifen" sei (274) und der Rezipient durch die Lektüre über literarische Pilger "(idealiter) die Chance [erhielt], die Welt um sich herum mit neuem Blick wahrzunehmen" (277), ist ein wenig Aufsehen erregendes Fazit.

Zusammenfassend: ein interessantes Thema, aber ein enttäuschendes Buch.


Anmerkungen:

[1] Zum Beispiel wäre Josephie Brefeld: A guidebook for the Jerusalem pilgrimage in the late Middle Ages. A case for computer-aided textual criticism (= Middeleeuwse studies en bronnen; 40), Hilversum 1994, einzubeziehen gewesen.

[2] Vgl. für den Bereich der Reiseliteratur den auf Seite 293 falsch zitierten Band von Dietrich Huschenbett / John Margetts (Hg.): Reisen und Welterfahrung in der deutschen Literatur des Mittelalters (= Würzburger Beiträge zur deutschen Philologie; 7), Würzburg 1991, oder auch die auf Seite 18 nur sehr

kurz erwähnte Studie von Jutta Rüth: Jerusalem und das Heilige Land in der deutschen Versepik des Mittelalters (1150-1453) (= Göppinger Arbeiten zur Germanistik; 571), Göppingen 1992, insb. 166-181.

[3] Peter J. Brenner: Der Reisebericht in der deutschen Literatur. Ein Forschungsüberblick als Vorstudie zu einer Gattungsgeschichte (= IASL; Sonderheft 2), Tübingen 1990, 67, 73 f.

[4] Vgl. spätestens Walter J. Schröder: Spielmannsepik, (= Sammlung Metzler; M19), 2. Aufl., Stuttgart 1967, 1.

Nine Miedema