Rezension über:

Johann Heiss (Hg.): Veränderung und Stabilität. Normen und Werte in islamischen Gesellschaften (= Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse. Sitzungsberichte; Bd. 729), Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 2005, 263 S., ISBN 978-3-7001-3548-7, EUR 65,00
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Rezension von:
Wassilios Klein
Institut für Orient- und Asienwissenschaften, Universität Bonn
Redaktionelle Betreuung:
Stephan Conermann
Empfohlene Zitierweise:
Wassilios Klein: Rezension von: Johann Heiss (Hg.): Veränderung und Stabilität. Normen und Werte in islamischen Gesellschaften, Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 9 [15.09.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/09/10748.html


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Forum:
Diese Rezension ist Teil des Forums "Islamische Welten" in Ausgabe 6 (2006), Nr. 9

Johann Heiss (Hg.): Veränderung und Stabilität

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Der Band ist im Rahmen des Forschungsschwerpunkts "Lokale Identitäten und überlokale Einflüsse" der Österreichischen Akademie der Wissenschaften entstanden. Der Schwerpunkt umfasst mehrere Forschungsbereiche, von denen einer der Bereich "Normen und Werte in verschiedenen Lebensbereichen der islamischen Welt Asiens und Nordafrikas" ist. Es sollte untersucht werden, wie Normen und Werte sich unter überlokalen Einflüssen verändern [1] oder, wie manche Beiträge in dem Band zeigen, eben auch nicht.

Neun Beiträge sprechen vor allem Nordafrika und Nahost an. Barbara Danczul untersucht den Umgang mit Normen in nichtstaatlichen Schiedsgerichtsverfahren in Oberägypten. Sie stehen zwischen Scharia und staatlichen, eher europäisch beeinflussten Rechtsnormen und rekurrieren eher auf Gewohnheitsrecht. Gebhard Fartacek stellt den Glauben an die Vorstellung von Geistwesen vor, und zwar in Hinblick auf ihre soziale Korrektivfunktion bei Verstößen gegen lokal wirksame Normen. Andre Gingrich zeigt die Verbindung vom Siedlungsplan der Stadt al-Qunfida am Roten Meer im heutigen Saudi-Arabien mit der Wertigkeit sozialer Gruppen und deren Eintreten für bestimmte Werte. Johann Heiss untersucht die Geschichte des Titels sayyid von vorislamischer Zeit in Südarabien bis in die Gegenwart in Indonesien. Der Gebrauch des Titels zeigt deutlich den Wertewandel bis hin zu einer Demokratisierung. Ines Kohl stellt ethnienübergreifende Wertvorstellungen im libyschen Fezzan vor, die von den Tuareg ihren Ausgang nehmen. Gudrun Kroners Beitrag beschreibt die Wert- und Moralvorstellungen von PalästinenserInnen vor allem im Gazastreifen. Neben einem Beharrungsvermögen traditioneller Werte gibt es durch Flüchtlinge, die Rolle Israels und der NGOs Änderungen der sozialen Gegebenheiten, die mit Änderungen etwa bei den Heiratsvorstellungen einhergehen. Paul Pinto interessiert sich für die besonderen Loyalitäten und Bindungen in Sufi-Gruppierungen in Syrien, die andere Normen außer Kraft setzen. Nahda Shehada untersucht die Rechtsnormen in Gaza. Sie zeigt, wie Normen der Scharia durch politisch-gesellschaftliche Entwicklungen neu interpretiert werden. Das untersuchte Beispiel widmet sich dem Anspruch auf Unterstützung der Frauen durch ihren Ehemann. Auch religiöse Absicherung, so zeigt auch dieser Beitrag, hindert nicht den Wandel von Normen. Friederike Stolleis befasst sich ebenfalls mit Frauen, aber auf ganz andere Weise. Ihr geht es um die Rolle von Tratsch und Klatsch bei Frauen in Damaskus. Der Tratsch ist, wie sie darlegt, einerseits ein Mittel sozialer Kontrolle, andererseits auch eine Möglichkeit, sich dieser Kontrolle zu entziehen.

Der besondere Wert des unscheinbar aufgemachten Bandes besteht zunächst einmal darin, dass alle Autoren die Ergebnisse von Feldstudien präsentieren. Sie bieten damit den Lesern Einblicke, die auf andere Weise kaum zu bekommen sind. Ohne irgendeine Wertung damit verbinden zu wollen, sei der Artikel von Barbara Danczul herausgegriffen. Sie stellt die nichtstaatlichen Schiedsgerichtsverfahren in Oberägypten als Vermittlungsinstanz zwischen den verschiedenen Rechtsinstitutionen dar, zu denen in Ägypten außer dem Gewohnheitsrecht noch die Scharia und das staatliche, an europäischen Vorbildern orientierte Recht gehört. Letztlich sorgen sie für eine höhere Akzeptanz bzw. füllen sogar die von der Bevölkerung empfundenen Lücken der beiden anderen Rechtsformen, d. h. sie entsprechen dem Rechtsempfinden. Die Schiedsgerichte nehmen mehr als die anderen Rechtsformen das Ehrverständnis ernst, und sie üben nicht neue Gewalt aus, sondern setzen stark auf Konsens und Mediation.

Dies kann auch bei kleineren Vergehen als den von Danczul beschriebenen zum Tragen kommen. Beispielsweise geht es nicht an, dass ein (christlicher) Europäer einen (muslimischen) Ägypter schlägt. Als ein deutscher Archäologe - dessen Name ich hier nicht nennen möchte - vor einigen Jahren einen seiner Arbeiter ohrfeigte, wurde dies (sicher nicht nur in Ägypten) als ernste Ehrverletzung verstanden. Der Archäologe kam vor ein Schiedsgericht, dem er sich beugte, weil er an der Fortsetzung seiner Arbeit interessiert war. Das Schiedsgericht verurteilte ihn zur "Zahlung" einer Ziege. Damit war allen gedient, der Streit war schnell und gewaltlos beigelegt. Dass die "Überlieferung der Sitte" (adat) neben der Scharia steht und den Bewohnern Ägyptens unabhängig von ihrer Religion eigen ist, hat Jeannette Spenlen in ihrer Dissertation gezeigt.

Rechtspluralismus, der mit lokaler, traditioneller Gerichtsbarkeit, die zwischen Scharia und modernem Recht angesiedelt ist, das Rechtsempfinden der Bevölkerung auf lokaler Ebene befriedigt und zudem wie in Ägypten seit einigen Jahren wieder staatlich sanktioniert ist, findet man auch anderswo, z. B. in Kyrgyzstan. [2] So bietet der Beitrag von Danczul neues Material, das vielleicht einmal in eine größere Studie zum Verhältnis der drei Rechtsinstanzen (modernes Recht, Scharia, adat) einfließen kann. Hier wäre zudem der südostasiatische Islam von großem Interesse.

Die anderen Beiträge beanspruchen als Fallbeispiele in ähnlicher Weise über ihren regionalen Bezug hinaus Geltung. Insofern liefert das Buch zahlreiche Denkanstöße. Jedes Thema würde eine großangelegte Untersuchung begründen können, die andere Regionen im Verbreitungsgebiet des Islam umfasst. Um nicht nur auf den Orient zu schauen, sei auf die Studie von Silvia Kaweh zu den religiösen Werten von Muslimen in Deutschland hingewiesen. [3] Es ist zu wünschen, dass das Buch über seine gut recherchierten, gut dargestellten und fundierten Beiträge hinaus koordinierte Zusammenarbeit von Regionalspezialisten anregt, die gemeinsam das größere Ganze ins Auge fassen könnten.


Anmerkungen:

[1] Jeannette Spenlen: Sexualethik und Familienplanung im muslimischen und christlichen Ägypten (= Europäische Hochschulschriften, Reihe 33: Religionspädagogik, Bd. 14), Frankfurt 1994.

[2] Judith Beyer: Die Aksakal-Gerichte in Kirgistan: Historische Entwicklung und aktuelle Situation einer traditionellen Rechtsinstanz in Zentralasien, in: Michael Kemper / Maurus Reinkowski (Hg.): Rechtspluralismus in der islamischen Welt: Gewohnheitsrecht zwischen Staat und Gesellschaft, Berlin 2005, 342-358.

[3] Silvia Kaweh: Integration oder Segregation, Religiöse Werte in muslimischen Printmedien. Eine systematische Inhaltsanalyse muslimischer (außerschulischer), religionsvermittelnder, deutschsprachiger Printmedien (= Bausteine zur Mensching-Forschung N. F. 12), Nordhausen 2006.

Anmerkung der Redaktion:

Für eine komplette Darstellung der arabischen Umschrift empfiehlt es sich, unter folgendem Link die Schriftart 'Basker Trans' herunterzuladen: http://www.orientalische-kunstgeschichte.de/orientkugesch/artikel/2004/
reichmuth-trans/reichmuth-tastatur-trans-installation.php

Wassilios Klein