sehepunkte 7 (2007), Nr. 1

Philipp Müller: Auf der Suche nach dem Täter

Philipp Müller versucht in seiner am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz entstandenen Studie, die "öffentliche Dramatisierung" (Richard Evans) von Verbrechensfällen im wilhelminischen Berlin als Interaktionsverhältnis von Medien, Polizei und "den Vielen" zu analysieren. In Anlehnung an Verwendungen in der Alltagsgeschichte und inspiriert von John Fiskes Kulturbegriff von "den Vielen" zu sprechen, ist Müllers methodische Aktivierung des ihm als zu passiv verstandenen "Publikums" oder "Zuschauers". "Öffentliche Meinung", so entwickelt der Autor einleitend in Kritik an Eric A. Johnson und Peter Fritzsche, lasse sich nicht auf die Medien reduzieren, "Verbrechenssensationen" bedürften als Bestandteil der historischen Kriminalitätsforschung einer Untersuchung der "konkreten Handlungen der involvierten Akteure" (16).

Der Autor stellt in den beiden gleich langen Hauptteilen zunächst in zwei ausführlichen und einem knapperen Kapitel die Berliner Presselandschaft, das Verhältnis von Polizei und Presse sowie "die Vielen in der Sensation des Verbrechens" dar. Im zweiten Teil konzentriert sich Müller auf zwei Fälle: Rudolph Hennig, der für den Mord an einem Kellner 1906 zum Tode verurteilt wurde, und Wilhelm Voigt, der als "Hauptmann von Köpenick" im gleichen Jahr wegen Betrugs verurteilt und zwei Jahre später begnadigt wurde. Grundlage der Studie sind vor allem auflagenstarke Berliner Tageszeitungen, die fallbezogenen Aktenbestände des Berliner Polizeipräsidiums und betroffener Ministerien sowie visuelle und literarische Repräsentationen.

Im ersten Kapitel zeichnet Müller ausführlich die Entstehung von Massenblättern und den konkurrierenden Aufstieg der Verlagshäuser Mosse, Scherl und Ullstein (40) nach. Im Unterschied zur politisch ausgerichteten Presse widmeten sich Zeitungen wie das "Berliner Tageblatt" oder der "Berliner Lokal-Anzeiger" vermehrt lokalen Berliner und damit großstädtischen Themen. Müller referiert die bekannte Tatsache der technisch, kommerziell sowie durch das Leseverhalten motivierten Beschleunigung des Nachrichtenwesens um 1900, weist aber darauf hin, dass den Verlagen an Kundenbindung durch günstige Abonnements und die Einbindung von Lesermeinungen gelegen war. Dienten diese Zeitungen aber tatsächlich vor allem als "Zerstreuung in das Reich der Sensationen" (73)? Im Sinne des methodischen Anspruchs wäre hier eine Leseranalyse erforderlich, um Sensationsorientierung der Zeitungen und Interesse der Konsumenten nicht gleichzusetzen. Unklar bleibt deshalb auch die Grundlage der Behauptung, die modernen Tageszeitungen hätten ihren Lesern "zur Unterhaltung wie auch zur pragmatischen Orientierung in der Großstadt" gedient (92).

Die Dynamiken von Konkurrenz und Beschleunigung bedingten eine verkürzende, selektive und dramatisierende, zugleich aber sehr ausführliche Darstellung von Gerichtsfällen. Doch nicht nur die Zeitungen spezialisierten auf diese Weise Gerichtsreporter, auch dem Polizeipräsidium war an öffentlicher Information durch die Zeitungen gelegen: Halbamtliche Informationen im Nachrichtenstil der Massenblätter, Fahndungsaufrufe und Personenbeschreibungen trugen dazu bei, aus den Tageszeitungen ein mehrschichtiges Nachrichtenforum als Teil der "Verbrecherjagd" zu machen. Kontrollierbar für die Polizei waren aber weder Platzierung und Gewichtung im Blatt noch die Nutzung durch die Gesuchten selbst.

Als konzeptionelles Scharnier zu den Fallbetrachtungen beschreibt Müller unter dem Titel "Die Vielen in der Sensation des Verbrechens" die "Ordnung in der Sensation" der Verbrecherjagden. Wiederholt betont er mit de Certeau die Polyvalenz der Zeitungstexte, bleibt aber überzeugende Belege konkurrierender praxisrelevanter Lesarten schuldig. Vor allem fokussiert Müller hier zu stark auf das Lesen selbst, denn die Wahrnehmung und Kommunikation in der Stadt (Nachbarschaft, Gerüchte, Anschläge) finden keine Erwähnung (erst auf 312 ff. betrachtet Müller das Gespräch als Teil des "Verbrechensdramas"). Es bleibt in diesem Abschnitt mit seinem verheißungsvollen, die zentrale Fragestellung einholenden Titel offen, wie die Zeitungslektüre mit dem offenbar sehr ausgeprägten Interesse der Bevölkerung zusammenging, sich an Tatorte und in die Gerichte zu begeben.

Handelte es sich bei Gewaltverbrechen tatsächlich, wie Müller mit Victor Turner konstatiert, um eine "Krise", die doch einen Zustand idealer und pazifizierter Ordnung voraussetzt? Ist "Partizipation" als Begriff nicht überstrapaziert, wenn es lediglich um Mithilfen bei der Verbrecherjagd, ums Zuschauen oder gar um Formen des Beinahelynchens geht (auf 364 sogar noch verstärkt als "politische Teilhabe" bezeichnet)? Müller versäumt in diesem Abschnitt eine überzeugendere Einbettung der Verbrecherjagden in die soziale Alltagssituation des wilhelminischen Berlin, um aus ihr die Dynamiken von "Sensationen" und ihre Erlebnis- sowie Handlungsqualitäten besser zu verstehen.

Im zweiten Hauptteil analysiert Müller die Berichterstattung über den Kellnermörder Hennig und den "Hauptmann von Köpenick". Im Falle Hennigs war weniger der Mord als vielmehr seine spektakuläre Flucht Thema. Beide Fälle gewannen ihre Attraktivität womöglich weniger als "Krise" der sozialen Ordnung denn als Herausforderung der staatlichen Organe durch eine besondere Gewitztheit, wie Müller auch andeutet.

Erhellt die Analyse der bühnenhaften Charakteristik der medialen Inszenierung beider Fälle nicht zuletzt wegen eines unspezifischen Redens von ihrer "symbolischen Qualität" nicht überzeugend das Wechselverhältnis von Fall und medialer Zurichtung, so kann Müller im längsten Abschnitt des zweiten Hauptteils am Beispiel der Hennig-Verfolgung zeigen, wie selektiv die Bevölkerung mit Informationen über den Gesuchten umging. Weder Polizei noch Presse konnten sich diese eigensinnige Logik erklären; aber auch Müllers Begriff des "Laienhaften" scheint nicht adäquat. Müller erklärt nicht, was sich im "verabredeten", einer eigenen Konvention folgenden Bild Hennigs als scheuem, eiligem, verkleidetem Verbrecher letztlich ausdrückte.

Hinsichtlich der Motivationen für die Beteiligung an den Fahndungen bleibt Müller weitgehend auf Mutmaßungen angewiesen. Warum motivierte nicht die Aussicht auf die Belohnung, sondern eine "Lust am Erkennen" des "komischen Helden" (252)? Handelte es sich eher um allgemeine Motivationen wie die Möglichkeit, durch Denunziation "an der sozialen Ordnung mitzuwirken", oder fallspezifische Dynamiken, bei denen sich "die Vielen an der Irreführung der Kriminalpolizei" erfreuten (302 f.)? Wenn dies letztlich in einem "Verlangen [...], sinnlich an dem Ereignis teilzuhaben" zusammenlief (304) - was sagt das über die Erlebniswelt im wilhelminischen Berlin aus?

Bleiben vor allem Antworten hinsichtlich des Motivationskontexts sowie auf das Wechselverhältnis von medialer Präsentation und Wahrnehmung durch die Leser offen, zumal die Arbeit nur sehr ausgewählt und letztlich nur für den Hennig-Fall zu einem systematischeren Ergebnis kommt, so ist abschließend nach dem Nutzen der Rede von "den Vielen" zu fragen. Sätze wie "Viele sind bekanntlich nicht alle." (318) oder "Mitmachen bot Möglichkeiten." (365) deuten das Risiko dieses Konzepts an. Leider versucht Müller keine sozialhistorische Analyse der sich konkret Beteiligenden; ihr Ausschnitt als Aktive gegenüber denen, die sich nicht beteiligten, wird nicht näher zu bestimmen versucht; heterogene Motivationen und Wahrnehmungen werden unter dem Topos "der Vielen" zusammengebunden.

Müller versäumt es, genauer zu fragen, wie sich die Bevölkerung durch Situation, eigene Lage und Berichterstattung auffächerte - und wo sowie warum Zeitungskonsum in Beteiligung und eigensinnige Aneignung umschlug. Müllers verstreute Ansätze, die Bedingungsfaktoren dieses Umschlagens im Zeichen des entstehenden Massenzeitungsmarkts im wilhelminischen Berlin zu erklären, bleiben letztlich durch die pauschalierende Rede von "den Vielen" überschattet. Allerdings kann die von Müller herausgearbeitete Mehrdeutigkeit von Mitleid, Vergnügen und Selbstaufwertung einen tragfähigen Ansatzpunkt bieten, um gegenläufige Muster im Verhältnis von Polizei, Presse und Bevölkerung im massenmedialen Zeitalter weiter zu analysieren.

Rezension über:

Philipp Müller: Auf der Suche nach dem Täter. Die öffentliche Dramatisierung von Verbrechen im Berlin des Kaiserreichs (= Campus Historische Studien; Bd. 40), Frankfurt/M.: Campus 2005, 423 S., ISBN 978-3-593-37867-1, EUR 39,90

Rezension von:
Habbo Knoch
Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Georg-August-Universität, Göttingen
Empfohlene Zitierweise:
Habbo Knoch: Rezension von: Philipp Müller: Auf der Suche nach dem Täter. Die öffentliche Dramatisierung von Verbrechen im Berlin des Kaiserreichs, Frankfurt/M.: Campus 2005, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 1 [15.01.2007], URL: https://www.sehepunkte.de/2007/01/9132.html


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