Rezension über:

Svetlana Jebrak: Mit dem Blick nach Russland - Lydia Cederbaum (1878-1963). Eine jüdische Sozialdemokratin im lebenslangen Exil, Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2006, 296 S., 11 Abb., ISBN 978-3-8012-4165-0, EUR 34,00
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Rezension von:
Jürgen Zarusky
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Jürgen Zarusky: Rezension von: Svetlana Jebrak: Mit dem Blick nach Russland - Lydia Cederbaum (1878-1963). Eine jüdische Sozialdemokratin im lebenslangen Exil, Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 2 [15.02.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/02/11795.html


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Svetlana Jebrak: Mit dem Blick nach Russland - Lydia Cederbaum (1878-1963)

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Infolge des neuen russischen Parteiengesetzes, das hohe rechtliche Hürden für die Registrierung aufstellt, soll neben anderen demnächst auch die Sozialdemokratische Partei Russlands aufgelöst werden. Die russischen Sozialdemokraten können sich dann entscheiden, ob sie ihre Tätigkeit ganz einstellen oder als gesellschaftliche Vereinigung ohne Teilnahmerecht an Wahlen fortbestehen wollen. [1] An solchen Tiefpunkten ist die Geschichte der russischen Sozialdemokratie nicht arm. Abgesehen von der kurzen und extrem schwierigen Phase von März bis November 1917, als sie auf dem Gipfel ihres Einflusses stand, ging es ihr eigentlich immer schlecht. Schon im Zarismus wurde sie unterdrückt und verfolgt, noch intensiver, spätestens seit Beginn der 1920er-Jahre, unter der Herrschaft des Kommunismus - obwohl oder vielleicht gerade weil dieser selbst aus der russischen Sozialdemokratie hervorgegangen war. Auch die heutige SDPR, die nicht in einer direkten Kontinuität zu den Menschewiki steht, sondern eher zum Typus der postkommunistischen Sozialdemokratie zu zählen ist (von 2001 bis 2004 war Michail Gorbačev ihr Vorsitzender), ist nicht vom politischen Erfolg verwöhnt. Die Ideen des demokratischen Sozialismus wollen offenbar auf dem Boden Russlands nicht so recht gedeihen.

Spätestens Ende der 1920er-Jahre bestand die russische Sozialdemokratie aus nicht viel mehr als ein paar Dutzend Exilanten. Die Emigration führte die Menschewiki von Berlin (Anfang der 1920er-Jahre) nach Paris (nach Hitlers Machtübernahme) und von dort in die USA (nach dem deutschen Einmarsch nach Frankreich). Stets blieben sie politisch und publizistisch aktiv. Angesichts ihrer geringen Machtressourcen ist ihr intellektueller Einfluss umso erstaunlicher. Sie prägten das Russlandbild der deutschen Sozialdemokratie entscheidend mit und gehörten später zu den Gründervätern der US-amerikanischen Sowjetologie. [2] Hannah Arendt etwa hatte ihr Wissen über die Lager in Stalins Sowjetunion im Wesentlichen aus dem 1948 erschienenen Buch "Forced Labour in Soviet Russia" der Menschewiki David Dallin und Boris Nikolaevskij. Auf der letzten Etappe ihres langen Weges, mittlerweile eine "zerstreute und verfeindete Gruppe", legten die russischen Sozialdemokraten Ende der 1950er-Jahre in einem groß angelegten Oral-History Projekt der Chicagoer Universität selbst die Grundlagen für die Aufarbeitung ihrer Geschichte. [3] Den Anstoß hierzu hatte Lydia Cederbaum gegeben, deren Lebensweg Svetlana Jebrak in ihrer Heidelberger Dissertation rekonstruiert hat.

Lydia Cederbaum hatte in der "menschewistischen Familie", zum Teil aus persönlichen Gründen, eine zentrale Stellung inne: Ihr Bruder Julij Cederbaum (Martov) wurde in der Revolutionsära zum Führer der Partei, ihr Bruder Sergej Cederbaum (Ežov) war ebenfalls ein führender Funktionär. Ihr zweiter Mann, Fëdor (Theodor) Dan wurde nach dem Tode Martovs 1923 für anderthalb Jahrzehnte zum unangefochtenen Führer der Exilmenschewiki. Es wäre indes verfehlt, Lydia Cederbaum als "politisches Anhängsel" ihrer Brüder oder ihres Mannes zu sehen. Ihr Leben lang behauptete sie sich als selbstständig politisch denkende und agierende Frau.

Sie entstammte einer wohlhabenden bürgerlichen Familie, die der Aufklärung verbunden und der die jüdische Orthodoxie fremd geworden war. Entgegen dem von ihrer Mutter vertretenen traditionellen weiblichen Rollenmuster studierte Lydia Cederbaum Naturwissenschaften in den "Höheren Frauenkursen" in Sankt Petersburg - der reguläre Universitätszugang war Frauen damals noch versperrt. Zugleich wurde sie schnell in revolutionäre Aktivitäten hineingezogen, die ihr bald die erste Verhaftung einbrachten. 1898 ging sie eine Vernunftehe ein, die nach einigen Jahren an ihrem politischen Engagement bzw. am Unwillen ihres Mannes, dieses mitzutragen, scheitern sollte. Für ihre 1899 geborene Tochter Nina hatte Lydia Cederbaum wenig Zeit. Am Ende ihres Lebens sollte sie sehr darunter leiden, dass Nina, die in der Sowjetunion lebte, jeden Kontakt zu ihr ablehnte, zumal ihre zweite Tochter Anna (geboren 1908), das Kind von Theodor Dan, schon 1917 starb.

Im Jahr der russischen Revolution trat Lydia Cederbaum, die mehr als eineinhalb Jahrzehnte lang die typische Karriere der Revolutionäre von Auslands- und Untergrundarbeit (darunter 1901/02 drei Monate in München, wo sie an Lenins und Martovs Parteizeitung "Iskra" mitarbeitete), Verhaftungen und Verbannungen durchlaufen hatte, unvermittelt aus der sozialdemokratischen Partei aus. Die Motive dafür können nicht zweifelsfrei geklärt werden. Letztlich blieb der Schritt aber folgenlos.

Nach den von Jebrak nur sehr knapp dargestellten aufregenden Jahren von Revolution und Bürgerkrieg, die zur Verhaftung und schließlichen Ausweisung ihres Mannes führten, engagierte sich Lydia Cederbaum im Exil in den sozialdemokratischen Frauenorganisationen und im Politischen Roten Kreuz, einer Hilfsorganisation für linksorientierte politisch Verfolgte in der Sowjetunion, die noch bis Ende der 1930er-Jahre dort arbeiten konnte. Doch auch in Deutschland wurde die Lage der Menschewiki bald problematisch. Die Wirtschaftskrise traf sie hart, und als Ausländer und Sozialisten, von denen die allermeisten überdies jüdischer Herkunft waren, hatten sie vom Aufstieg der NSDAP nichts Gutes zu erwarten. Lydia Cederbaum ging schon 1931 als Arbeitsemigrantin nach Paris, und 1933 begann die "große Völkerwanderung" der fünf oder sechs Dutzend Menschewiki nach Frankreich. Cederbaum arbeitete für den Familienunterhalt in Fabriken und Geschäften russischer Emigranten, gab aber ihre ehrenamtliche Tätigkeit für das Politische Rote Kreuz nicht auf. Seit 1937 war sie beim "Œuvre de Secours aux Enfants" angestellt, einer jüdischen Hilfsorganisation, für die sie den Transport von Kindern aus Litauen in französische Kinderheime organisierte. Rechtzeitig vor der sowjetischen Annexion Litauens im Sommer 1940 beendete sie diese Arbeit und kehrte nach Frankreich zurück. Sonst hätte ihr wohl ein ähnliches Schicksal gedroht wie ihrem Bruder Sergej, der 1939 vom Militärkollegium des Obersten Gerichts der Sowjetunion zum Tode verurteilt und erschossen worden war.

Aus Frankreich mussten die Menschewiki vor den Nationalsozialisten flüchten. Mit Unterstützung der amerikanischen Gewerkschaften gelangten sie in die USA. In diese Zeit fallen auch schwere Zerwürfnisse innerhalb der Gruppe, die sich am Verhältnis zur Sowjetunion entzündeten und zur Spaltung der Auslandsdelegation der SDAPR führten. Nicht nur hier behandelt Jebrak die politischen Debatten des menschewistischen Exils recht knapp. Lydia Cederbaum versuchte zwischen den Fronten zu vermitteln, unterstützte aber letztlich die Position ihres Mannes dessen Versuche in den USA um die neu gegründete Zeitschrift "Novyj put´" ("Neuer Weg") herum eine neue menschewistische Organisation aufzubauen. Als Dan 1947 starb, ging, so Jebrak, "für sie eine ganze Epoche zuende". Für die Zusammenarbeit der restlichen New Yorker Menschewiken mit Angehörigen der zweiten, der Nachkriegsemigration, unter ihnen viele Vlasov-Anhänger, die sie als "Hitler-Helfer" betrachtete, hatte sie kein Verständnis und distanzierte sich daher von der menschewistischen Kolonie. Ein neues Betätigungsfeld fand sie in der "Union of Russian Jews", deren Sekretariat sie seit Mitte der 1950er-Jahre leitete. Dennoch wurde es zunehmend einsam um Lydia Cederbaum. Alte Freunde starben, und ihr letztes Zufluchtsland blieb ihr innerlich fremd, ihre Tochter in der UdSSR wollte keinen Kontakt zu ihr. Am 28. März 1963 starb sie im Alter von 84 Jahren.

Den größten Teil ihres Lebens hatte sie im Exil verbracht, und doch war, wie Svetlana Jebrak hervorhebt, immer Russland ihre innere Heimat geblieben. Eine Russin in der Neuen Welt, eine bewusste Jüdin, die Zionismus und religiöses Judentum gleichermaßen ablehnte, eine Sozialistin ohne Partei, eine Mutter ohne Kind - Lydia Cederbaums Leben spielte sich jenseits eindeutiger Identitäten ab. Mehr als einmal benutzt Jebrak den Begriff "Zerrissenheit" zur Charakterisierung dieses Lebenswegs. Etwas überraschend kommt daher die Aussage ganz am Ende ihres Buches, Cederbaums Biografie könne "auch als positives Beispiel einer geglückten kosmopolitischen Existenz gelesen werden" (277). Wie soll man das verstehen? Eines ist Jebraks Protagonistin auf jeden Fall gelungen: Von totalitären Regimen aus ihrer Heimat und zwei europäischen Exilländern, letztlich also aus Europa verjagt, hat sie sich ihr ganzes Leben - auch gegen traditionelle Rollenmuster - als politisch denkende und aktive Frau behauptet. Der hohe Preis, der dafür zu zahlen war, war vor allem den politischen Zuständen auf unserem Kontinent in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts geschuldet.


Anmerkungen:

[1] Katja Tichomirowa: Alles nur für den Wähler. Elf Monate vor der Parlamentswahl schafft Russland fast die Hälfte seiner Parteien ab, Berliner Zeitung vom 17.01.2007, URL: http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/2007/0117/ politik/0211/index.html?group=berliner-zeitung;sgroup=;day=today;suchen=1; keywords=;search_in=archive;match=strict;author=Tichomirowa; ressort=;von=17.1.2007;bis=.

[2] Grundlegend für die Geschichte des menschewistischen Exils ist André Liebichs Studie "From the Other Shore. Russian Social Democracy after 1921", Harvard University Press 1997.

[3] Daraus hervorgegangen sind u. a. folgende Publikationen: Leopold Haimson (ed.): The Mensheviks. From the Revolution of 1917 to the Second World War, London 1975; Ju. Fel'štinskij: Men'ševiki i socialističeskij internacional 1918-1940, Benson, Vermont 1988.

Jürgen Zarusky