Rezension über:

Elisabeth Noichl / Christa Schmeisser (Bearb.): Deutsche Schriftkunde der Neuzeit. Ein Übungsbuch mit Beispielen aus bayerischen Archiven (= Sonderveröffentlichung der Staatlichen Archive Bayerns; Beiheft 5), München: Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns 2006, 160 S., ISBN 978-3-921635-94-0, EUR 10,00
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Rezension von:
Martin Burkhardt
Wirtschaftsarchiv Baden-Württemberg, Stuttgart
Redaktionelle Betreuung:
Michael Kaiser
Empfohlene Zitierweise:
Martin Burkhardt: Rezension von: Elisabeth Noichl / Christa Schmeisser (Bearb.): Deutsche Schriftkunde der Neuzeit. Ein Übungsbuch mit Beispielen aus bayerischen Archiven, München: Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 2 [15.02.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/02/12266.html


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Elisabeth Noichl / Christa Schmeisser (Bearb.): Deutsche Schriftkunde der Neuzeit

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Drei Einrichtungen in Deutschland bilden Facharchivare aus: Die Archivschule Marburg, ein Fachbereich an der FH Potsdam und die Bayerische Archivschule bei der Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns. Letztere bietet zusammen mit den bayerischen Landesvereinen für Heimatpflege und für Familienkunde den vorliegenden Band einem breiteren Publikum an. Heimat- und Familienforschern wollen die Herausgeber damit ebenso wie Studierenden nach dem Streichen universitärer hilfswissenschaftlicher Angebote ein Übungsmittel zum Selbststudium der Deutschen Schrift an die Hand geben.

Im Geleitwort begründen sie die Publikation mit einem Mangel an einschlägigem bayerischem Übungsmaterial. Andere Lehrwerke, wie der von der Archivschule Marburg angebotene "Dülfer - Korn" [1], berücksichtigten im Wesentlichen nord- und westdeutsche Quellen. Nun überwiegen im Dülfer - Korn wirklich Ausstellungsorte im Gebiet der Landgrafschaft Hessen und in Berlin; doch berücksichtigt er auch Schreiben, die aus Kanzleien in Thüringen, im Landkreis Dillingen an der Donau, in Regensburg, München und Innsbruck stammen. Auch Besonderheiten im Schriftbild, die auf regionalen Unterschieden wie den genannten gründen könnten, wären allenfalls für Spezialisten erkennbar; insofern liefert der Band, auf seine Zielgruppe bezogen, keinen Mehrwert. Lexik und Abkürzungen freilich fielen recht unterschiedlich aus in den Schreibstuben von Berlin, Kassel und Starnberg - ein nicht unwesentlicher Faktor, lernt man doch insbesondere als Anfänger viel leichter solche Wörter zu entziffern, deren Bedeutung man kennt.

Der Hauptteil dieses Bandes präsentiert 65 Schriftbeispiele ausschließlich staatlich-bayerischer Provenienz aus dem 17. bis 20. Jahrhundert, genauer aus den Jahren 1608 bis 1940. Die zeitliche Auswahl erscheint ein wenig willkürlich, doch welche andere wäre das nicht? Gute Gründe ließen sich für verschiedene zeitliche Schnitte finden. Man hätte das 16. Jahrhundert noch hinzunehmen können, unter Verweis auf rasch wachsende, insbesondere nichtkirchliche Schriftgutproduktion, oder nach dem Westfälischen Frieden beginnen, da die quantitativ weit überwiegende Mehrheit des Archivguts aus der Zeit nach 1648 stammt. Doch gleichviel - wer das erste Dutzend Tafeln in diesem Band aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts flüssig zu lesen gelernt hat, der wird gewiss auch an keinem Aktenschriftstück oder Amtsbucheintrag des 16. Jahrhunderts mehr scheitern.

Den Bearbeiterinnen ist es gelungen, für die Jahre 1608 bis 1868 einen fast regelmäßigen Fünfjahresabstand einzuhalten. Acht Tafeln repräsentieren die verbleibenden 72 Jahre. Ungeschulten Nutzern gaukelt dieser Rhythmus hoffentlich keine simple Linearität in der Schriftgeschichte vor - der "Dülfer - Korn" demonstriert einmal explizit die gleichzeitige Varianzbreite verschiedener "Hände".

Unter einem Kopfregest und dem Quellennachweis stehen auf Doppelseiten links die Transkription und rechts die als Faksimile wiedergegebene Handschrift; mir wäre eine umgedrehte Anordnung folgerichtiger erschienen. Die Zeilenumbrüche sind zur sicheren Orientierung beibehalten und die Übertragung erfolgt sehr streng, sehr buchstabengetreu: Die Groß- und Kleinschreibung soll der Vorlage entsprechen (was bei Handschriften der Frühneuzeit hier und da nicht zweifelsfrei zu entscheiden ist), die oft willkürliche Zusammen- und Getrenntschreibung des Originals wurde beibehalten (auch in dieser Frage ist kein durchweg einwandfreies Urteil möglich), "u" und "v" sind nicht nach dem Lautwert übertragen; Abkürzungen löst die Transkription in runden Klammern auf. Dieses Bemühen um eine strikte Transformation individueller Handschriften in genormte Maschinenschrift wird dem Zweck völlig gerecht. Es geht hier nicht um eine rasche Erfassbarkeit von Quellentexten etwa im Rahmen eines Zitats, sondern um das Demonstrieren respektive Auffassen paläografischer Besonderheiten.

Die Zielgruppe bestand ursprünglich aus den Anwärterinnen und Anwärtern für den mittleren Archivdienst, womit die Herausgeber begründen, weshalb sie vor allem Ausfertigungen und einige wenige Abschriften in die Sammlung aufgenommen haben. Die Stücke sind deswegen mitnichten alle leicht zu lesen; so wird die Auswahl auf zwei weitere Kriterien abgezielt haben, und zwar zum einen auf die Möglichkeit, in sich abgeschlossene Texte präsentieren zu können, zum anderen berücksichtigt sie den Abbildungsmaßstab. Die Bearbeiterinnen standen vor der Aufgabe, Seiten im Folio-Format, das sie - wohl aus ästhetischen und aktenkundlichen Gründen - in vollem Umfang dargestellt haben, in einen DIN-A-4-Satzspiegel einschließlich Seitenrand einzupassen. Sie mussten also die originale Schriftgröße um günstigenfalls rund 30 % verkleinern. Will man eine gewisse Leserlichkeit bewahren und nicht auf unhandliche Überformate ausweichen, so bleibt im Grunde nur die Lösung, Reinschriften mit ihren in der Regel deutlichen Schriftbildern zu wählen, auf Konzepte mit den darin üblicherweise enthaltenen Korrekturen und Nachträgen im Augenpulver-Format zu verzichten. Hiervon abgesehen repräsentiert die Textauswahl recht treffend das Korpus an Schriftquellen, das den Nutzern beim Arbeiten im Archiv begegnen wird. Die Qualität der Schwarzweißabbildungen erreicht nicht überall das durchweg exzellente Niveau des Dülfer - Korn, fällt aber bei den meisten Tafeln sehr gut bis gut aus; vereinzelt (Tafel 56) erscheint die Schrift leicht unscharf.

Als Service bietet die "Deutsche Schriftkunde der Neuzeit" auf sieben Seiten eine kleine, doch recht anschauliche Schriftgeschichte, deren Schwerpunkt auf der Deutschen Schrift in der Frühneuzeit liegt. Daran schließt sich auf sieben Seiten ein Verzeichnis in Bayern üblicher Abkürzungen und Fachbegriffe an, die vor allem aus den Beispieltexten stammen. Eine Literaturliste führt 48 Titel zu den Wissensbereichen Paläografie, Schrift- und Aktenkunde sowie Hilfsmittel auf; über deren Auswahl zu räsonnieren, erscheint mir in diesem Fall recht müßig - es ist eben eine Auswahl.

Das Übungsbuch unternimmt es, einen Kulturbruch der besonderen Art zu überbrücken. Wer, anders als etwa in Süd- und Westeuropa, im deutschen Sprachraum nach 1942 das Schreiben gelernt hat, muss ältere handschriftliche Quellen erst einmal zu lesen lernen. Mit dieser Anleitung zur Selbsthilfe können sich Studierende der Geschichte auf archivische Quellenstudien vorbereiten, die angehenden Ahnenforscher schon vorab üben, damit ihnen das Entziffern der Namen in den Kirchenbüchern leichter falle. Insbesondere süddeutschen Interessenten kann ich das Buch auch angesichts seines wohlfeilen Preises uneingeschränkt zum Kauf empfehlen.


Anmerkung:

[1] Kurt Dülfer / Hans-Enno Korn: Schrifttafeln zur deutschen Paläographie des 16.-20. Jahrhunderts. Bearbeitet von Karsten Uhde (= Veröffentlichungen der Archivschule Marburg; Bd. 2), 12. Aufl., Marburg 2007 (erscheint in Kürze).

Martin Burkhardt