Rezension über:

Christoph Meyer: Herbert Wehner. Biographie, München: dtv 2006, 579 S., 30 s/w-Abb., ISBN 978-3-423-24551-7, EUR 16,00
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Rezension von:
Petra Weber
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Petra Weber: Rezension von: Christoph Meyer: Herbert Wehner. Biographie, München: dtv 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 2 [15.02.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/02/12649.html


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Christoph Meyer: Herbert Wehner

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Christoph Meyer, Leiter des Herbert-Wehner-Bildungswerks in Dresden, hat die erste Gesamtbiografie des wohl in Deutschland umstrittensten Politikers vorgelegt. Der Autor hatte freien Zugang zum Privatnachlass Herbert Wehners und führte auch zahlreiche Gespräche mit dessen Adoptivtochter und späterer Frau Greta, die das Bild, das er von seinem "Helden" zeichnet, stark geprägt haben. Über weite Strecken liest sich die Biografie wie eine Verteidigungsschrift eines immer und überall zu Unrecht Angefeindeten und Verleumdeten. Meyer präsentiert den "Zuchtmeister" von seiner menschlichen und auch privaten Seite, wie man schon dem Klappentext des Buches entnehmen kann, wo Lotte Wehner mit den Worten zitiert wird: "Mein Mann kann nicht anders - wenn er etwas tut, dann tut er es mit ganzer Kraft, mit voller Hingabe, ob das nun eine alte Oma ist, die Hilfe braucht, oder ein Gesetz, das er für nötig hält." Gewiss, es gab wohl keinen anderen Politiker in Deutschland, der sich in einem Maße, das bis zur Selbstaufopferung ging, für die Politik und für die Menschen einsetzte. Aber Wehner war nicht nur eine vorbildliche Lichtgestalt, er war auch ein "erbarmungsloser Exekutor" (Peter Glotz), der selbstbewusst und rücksichtslos seinen Machtanspruch vertrat und Grundsatzentscheidungen fällte, die sich in den 1950er Jahren oft als Irrweg für die SPD erwiesen. Über diese andere dunkle Seite Wehners erfährt man in der Biografie so gut wie nichts.

Der Schwerpunkt der Biografie liegt auf Wehners Bonner Jahren. Seine ersten 40 Lebensjahre werden auf 110 Seiten abgetan; hier geht Meyer kaum über das hinaus, was schon Hartmut Soell über den jungen Wehner geschrieben hat. Herbert Wehner wuchs bekanntlich in Sachsen als Sohn eines alkoholkranken Schuhmachers unter ärmlichen Verhältnissen auf. Obwohl er hochintelligent war und sehr gute Zeugnisse vorweisen konnte, blieb ihm eine seiner Begabung entsprechende berufliche Karriere versperrt. So erstaunt es nicht, dass er sich schon früh dem Mythos der Revolution verschrieb, zunächst als Anarchist, als Sekretär des Literaten und Revoluzzers Erich Mühsam, ab 1927 als Mitglied der KPD. Mit gerade einmal 24 Jahren wurde er 1930 als Kandidat der KPD in den sächsischen Landtag gewählt, 1935 rückte er in das 15-köpfige Zentralkomitee der Partei auf. Nachdem er in Paris die Bemühungen um die Bildung einer Volksfront unterstützt hatte, kehrte er 1937 nach Moskau zurück, obwohl dort schon die Zeit der Schauprozesse und Massenverhaftungen begonnen hatte. In Moskau geriet auch er in die Menschenfalle, in jenes Netz von Anklagen, Gegenanklagen, Denunziationen und Selbstbezichtigungen. Er wurde Opfer und Täter zugleich. Meyer versucht seinen Schützling zu exkulpieren, indem er darauf hinweist, dass Wehners Denunziationen nur in zwei Fällen als Belastungsmaterial in Prozessen verwandt wurden. Im Übrigen sei er gezwungen gewesen, so zu handeln, um seinen eigenen Kopf zu retten. Das mag durchaus zutreffend sein, allerdings darf man nicht übersehen, dass Wehner schon 1936, als er noch in Paris lebte, einen Feldzug gegen vermeintliche trotzkistische Abweichungen startete. Meyer gesteht einerseits ein, dass Wehner stalinistische Deutungsmuster verinnerlicht habe, ist aber andererseits bemüht darum, jede Kritik Wehners an der KPD oder den Anweisungen Moskaus schon als Beweis zu nehmen, dass er nicht in die kommunistischen Apparatstrukturen passte und ihm die stalinistischen Methoden missfielen. Veröffentlichte er auch seine vielen Stalin-Elogen nur aus Furcht, in die Fänge des NKWD zu geraten?

Der Biograf kann nicht umhin, zuzugeben, dass der Kommunist Wehner irrte, versucht aber Schuldvorwürfe dadurch zu entkräften, dass er seine zweite Lebenshälfte "als tätige Wiedergutmachung für die Irrtümer der ersten Lebenshälfte" (493) interpretiert. Angesichts der Religiosität Wehners ist diese Deutung nicht völlig von der Hand zu weisen. Belege dafür gibt es aber nicht. Mehr hätte man auch gern darüber erfahren, warum Wehner so lange brauchte, um dem kommunistischen Glaubenssystem abzuschwören. Schließlich konnte er sich erst 1946 entscheiden, in die SPD einzutreten. Dass Wehner ein "Gebrannter" war, der spätestens zu diesem Zeitpunkt mit dem Kommunismus gebrochen hatte, dürfte heute unumstritten sein, dennoch bleibt die Frage, welche Prägekraft die 1920er und 1930er Jahre für Wehners Politik in der Bonner Republik hatten. Meyer räumt an einer Stelle selbst ein, dass Wehners Denken und Handeln schon in den 1920er Jahren geprägt worden sei, beschränkt diesen Befund aber auf die vielen sprachlichen Entgleisungen im Umgang mit dem politischen Gegner. Waren Wehners Methoden der Machtdurchsetzung innerhalb wie außerhalb der eigenen Partei nicht auch das Erbe früherer Jahre? Hatten alle die Unrecht, die Wehner vorwarfen, ein sozialdemokratisches Programm mit kommunistischen Methoden durchsetzen zu wollen? Waren Pflichtbewusstsein bis zur Selbstaufopferung und eiserne Disziplin, die er von allen einforderte, nicht Tugenden, die ihm die Kommunisten gelehrt hatten?

In Bonn bestimmte Wehner spätestens nach Kurt Schumachers Tod den Kurs der Außenpolitik der SPD. "Ollenhauer bedurfte seines Durchblicks" (170), schreibt Meyer und erweckt wieder einmal den Eindruck, dass es in der SPD außer Wehner keinen anderen klugen Kopf gab. Der SPD-Parteivorsitzende hätte besser auf Willy Brandt, Fritz Erler und Carlo Schmid gehört, die schon in den 1950er Jahren die Westbindung der Bundesrepublik als Grundlage der Außen- und Deutschlandpolitik akzeptierten. Wehners Glaube, dass auf dem Wege von Viermächteverhandlungen die deutsche Wiedervereinigung, die ihm wie den meisten Sozialdemokraten jener Zeit ein großes Herzensanliegen war, zu erreichen sei, erwies sich als Illusion. Auch der von ihm 1959 ausgearbeitete Deutschlandplan musste schon ein Jahr später offiziell zu Grabe getragen werden. Seine vielzitierte Rede vom 30. Juni 1960, in der er versicherte, dass für die SPD die atlantische Allianz der Rahmen der deutschen Außenpolitik sei, war ohne Zweifel eine taktische Meisterleistung, die nur er vollbringen konnte, denn Meyer schreibt zu Recht: "Hätten etwa Fritz Erler oder Willy Brandt eine solche Rede gehalten, so wäre gefragt worden: Und Wehner? Sein Bekenntnis zur NATO wirkte dadurch sensationell, dass es gerade von ihm nicht erwartet wurde." (235). Ohne Wehner wäre indes der außenpolitische Kurswechsel früher vollzogen worden. Er war für die überholten deutschlandpolitischen Vorstellungen der SPD verantwortlich.

Unstrittig ist, dass Wehner zu der Gruppe der Parteireformer zählte und die Modernisierung des Apparats vorantrieb, aber dass er "Weichensteller" und nicht bloß "Trittbrettfahrer" des Godesberger Programms gewesen sei, entspricht eher einer Selbstdarstellung Wehners als der geschichtlichen Wahrheit. Wenn auch Wehner sich in einigen Interviews schon vor dem Godesberger Parteitag zustimmend über das neue Parteiprogramm äußerte, so herrschte doch bei einem Großteil der Beteiligten wie auch bei der Presse ein großes Rätselraten darüber, welche Entscheidung der als linker Flügelmann geltende stellvertretende Parteivorsitzende treffen werde. Hatte doch Wehner auch nach 1957 noch für eine feste Verwurzelung der SPD in der Arbeiterschaft - vor allem durch eine Verstärkung der Betriebsgruppenarbeit - plädiert. Über die programmatischen Zielsetzungen Wehners, der in der SPD-Programmkommission fast immer schwieg, weiß man auch nach der Lektüre der Biografie nur wenig. Man hätte gern mehr über Wehners Gesellschafts- und Sozialismusbild erfahren, dem Meyer keine genauen Konturen zu geben vermag.

"Auf dem Höhengrat" (348-425) befand sich Wehner nicht in den 1970er Jahren, wie Meyer meint, sondern in den 1960er Jahren als Wegbereiteter und Architekt der Großen Koalition, für deren Zusammenhalt er geradezu unentbehrlich war. Der Ex-Kommunist hatte sein Ziel erreicht: Die SPD und er selbst saßen am Regierungstisch. Wehner selbst sah sich als Souffleur und Interpret Kiesingers - eine Sichtweise, die Meyer wie immer unkritisch übernimmt.

In der Wahlnacht am 28. September 1969 wurde Wehner, der für eine Fortsetzung der Großen Koalition plädierte, von Willy Brandt übergangen. Meyer datiert das menschliche Zerwürfnis zwischen Brandt und Wehner erst auf das Jahr 1972. Er übersieht dabei, dass schon während der Großen Koalition das Verhältnis der beiden ungleichen Männer mehr als spannungsgeladen war. Während der Regierung Brandt leistete Wehner als Fraktionsvorsitzender wichtige Kärrnerarbeit, aber den Tanker SPD steuerte er nicht mehr. Der aufmüpfigen Parteijugend war der ans Befehlen und an Disziplin gewohnte Wehner kaum mehr ein Vorbild. Brandts Versuche, Wehner ins zweite Glied zu verbannen, verbitterten Wehner, der ohnehin zur Larmoyanz neigte. Die festgefahrene Deutschlandpolitik bot Wehner die Chance, sich wieder ins Spiel zu bringen. Schon als Gesamtdeutscher Minister hatte Wehner Kontakt zu dem Advocatus diaboli Wolfgang Vogel aufgenommen, der die Familienzusammenführungen und Häftlingsfreikäufe in der DDR organisierte, die die wirtschaftlich marode DDR in den Besitz harter Devisen brachten. Seinen Besuch bei Honecker in der Schorfheide im Mai 1973 konnte Wehner als Erfolg verbuchen, denn die Nr. 1 der DDR gab wieder grünes Licht für die Freikäufe, nachdem die DDR-Oberen zuvor die Ausreisebewilligungen zurückgezogen hatten. Dass Brandt Wehners Mittlerdienste zu Honecker nur zögernd annahm, führte bekanntlich zu den Attacken Wehners auf Brandt in Moskau. Meyer kann zeigen, dass die Presse Wehners Suada gegen Brandt überspitzt wiedergegeben hatte, aber auch das wirklich Gesagte enthielt noch so viel beißende Kritik, dass Brandt es als Angriff auf seine Person auffassen musste. Meyers Drang, seinen "Helden" zu exkulpieren, geht so weit, dass er behauptet, dieser habe Brandts Anweisungen zur Regierungsbildung vom 28. November 1972 nur deshalb in der Aktentasche "vergessen", weil es sich um "schwammige Mutmaßungen" (392) gehandelt habe. Das Personaltableau des ans Krankenbett Gefesselten verdeutlicht indes eindeutig dessen personalpolitische Präferenzen. Zutreffend ist indes Meyers gut belegte Feststellung, dass Wehner nicht am Regierungssturz Brandts mitwirkte, wie dessen Witwe noch heute behauptet.

Helmut Schmidt kooperierte enger mit dem alten Fuhrmann als sein Vorgänger, wollte allerdings 1977 Klaus-Jürgen Wischnewski als zusätzlichen Kontaktmann zur DDR einsetzten, was er nur unterließ, weil Wehner lauthals protestierte. Wehners unbestrittene Verdienste um die Verbesserung der innerdeutschen Beziehungen, insbesondere auf humanitärem Gebiet, mittels des Drahtes zu Vogel und Honecker hatten allerdings auch eine Kehrseite, die Meyer nicht problematisiert: Wehner ließ sich sehr weit auf die Position der DDR, die er von Kritik verschonte, ein.

Die erste Gesamtbiografie Wehners lässt viele Fragen offen. Meyer wollte den Panzer, mit dem sich Wehner umgab, nur dann knacken, wenn er hinter ihm einen einfühlsamen, stets hilfsbereiten Menschen, der sich um jedes Einzelschicksal kümmerte, präsentieren konnte. Wehner wird vorgestellt als ein Mann ohne Widerspruch, der weder besonders "rätselhaft" noch "zerrissen" (491) war, der als glühender Idealist sich für eine Verbesserung der Lebensbedingungen einsetzte und dabei der SPD immer um ganze Nasenlängen voraus war.

Petra Weber