Rezension über:

Fulvio Ferrari / Napoleone Ferrari: The Furniture of Carlo Mollino, Berlin: Phaidon Verlag 2006, 240 S., 280 Farbabb., ISBN 978-0-7148-4532-6, EUR 75,00
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Rezension von:
Gerda Breuer
Studiengang Industrial Design, Bergische Universität, Wuppertal
Redaktionelle Betreuung:
Michaela Braesel
Empfohlene Zitierweise:
Gerda Breuer: Rezension von: Fulvio Ferrari / Napoleone Ferrari: The Furniture of Carlo Mollino, Berlin: Phaidon Verlag 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 4 [15.04.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/04/11334.html


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Fulvio Ferrari / Napoleone Ferrari: The Furniture of Carlo Mollino

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Carlo Mollino (1905-1973) ist zu einem Star in der Designwelt avanciert. Dem 1905 in Turin geborenen Architekten und Designer widmete seine Heimatstadt zur Jahreswende 2006/07 eine große monografische Doppelausstellung in der Galleria Civica d'Arte Moderna und in Castello di Rivoli. Mehrere Publikationen zu seiner Architektur, seinen Fotografien (u. a. Polaroids) und zu einzelnen designerischen Werkgruppen wie den Möbeln erschließen sukzessive sein Werk. Auktionshäuser erzielen derzeit Höchstpreise - ein Tisch aus dem Jahr 1949 wurde unlängst bei Christie's für 3,8 Millionen Dollar versteigert, eine Wertsteigerung, die noch vor Jahren niemand bei dem relativ unbekannten und als bizarrer Außenseiter geltenden Designer vermutet hätte.

Es wundert daher nicht, dass auch der 2006 im Phaidon Verlag erschienene opulente Œuvre-Katalog über die Möbel des Italieners, herausgegeben und kommentiert von Fulvio und Napoleone Ferrari, Sammlerinteressen zu dienen scheint. Macht doch schon der Klappentext auf die gigantischen Summen der Auktionshäuser aufmerksam und ziert das futuristisch anmutende Möbel den Einband, sekundiert von einem dämonisch-beschwörenden Porträt des Designers als Kunstflieger vor dem Hintergrund einer großstädtischen Skyline bzw. als Rennfahrer (auf der Rückseite). Der Band überschreitet den erstmals 1985 anlässlich einer Ausstellung in Turin edierten Katalog und die von Giovanni Brino (auch auf Deutsch) herausgegebene Monografie vor allem durch den fast 180 Seiten umfassenden Bildteil, bei dem rare Originalfotos, Fotografien nicht mehr existenter Unikate, teils unrealisierte Entwurfszeichnungen und Vorzeichnungen der noch vorhandenen Einzelstücke Konzeption und Konstruktion der Möbel anschaulich machen.

Es ist den beiden Kuratoren des Museo Casa Mollino, das zwischen 1960 und 1968 von Mollino selbst als privater Kosmos und Rückzugsort in der Via Napione eingerichtet wurde und nun als Erinnerungsort an den Designer dient, gleichwohl zugute zu halten, dass sie in ihren einleitenden Texten auf das reißerische Image des Designers als Dandy verzichten zu Gunsten einer dezidierten Aufarbeitung der einzelnen Einflüsse, die sein vielseitiges Œuvre aufnahm. Napoleone Ferrari fächert die fast gegensätzlich anmutenden Impulse, die Mollino in seinem Werk vereint, auf und belegt sie mit Hilfe der vielen programmatischen Selbstanalysen des Künstlers: seine Vorliebe für die lokale Bautradition und für bäuerliche Volkskultur gleichermaßen wie für die technischen Errungenschaften der modernen Zeit wie Autos und Flugzeuge. Er beschreibt die konkreten wie allgemeinen künstlerischen Einflüsse, besonders durch Max Ernst, von dem Mollino ein seltenes Konvolut des surrealistischen Journals "Minotaure" besaß; von den altmodischen Möbelstücken der Serie "La femme cent têtes" sollen seine Entwürfe von traditionell anmutenden Polstermöbeln inspiriert worden sein. Ein kontrastierendes Pendant dazu ist Mollinos Faszination für die eleganten, wie eiserne Skelette wirkenden Brückenkonstruktionen des 19. Jahrhunderts, die der italienische Ingenieur Alessandro Antonelli, über den er einen Essay schrieb, baute.

Der Sohn des in Turin hoch geschätzten Ingenieurs und Architekten Eugenio Mollino, in dessen Büro er 1931, nach seinem Diplom als Architekt, eintrat, verfügte über umfassende Ingenieurkenntnisse, die er in Entwürfe für Autos, Flugzeuge und Architektur einbrachte. In gleichem Maße aber schätzte er kunsthandwerkliches Expertenwissen und erarbeitete seine aufwändigen Holzmöbel gern in Zusammenarbeit mit professionellen Möbelschreinern. Napoleone Ferrari relativiert die häufig geäußerte oberflächliche Interpretation seiner Stiladaptation als barock, indem er Mollinos Vorliebe für Klassizismus und für den Jugendstil betont. Er verweist zugleich auf seine unbefangene Übernahme des Zeitgeschmacks der Italiener, die Antiquitäten mit modernem Design kombinierten. Mollino war kein Vertreter der strengen Moderne und betrachtete die italienischen Strömungen des Razionalismo und des Novecento in der Architektur der dreißiger Jahre nur als eine Möglichkeit unter vielen. Er bemängelte die Depersonalisierung des Individuums durch die Technik, die er als negatives Zeitphänomen denunzierte.

Als reicher Erbe seines 1953 verstorbenen Vaters, der sich nie um Brotarbeit kümmern musste, konnte er seine Auftraggeber frei wählen und seinen persönlichen Einschätzungen und künstlerischen Neigungen nachgehen. Auch die Faszination des begeisterten Bergsteigers für alpine Sportarten fließt bei Mollino in eine zeichnerische Analyse der Körperhaltungen beim Skifahren ein und wird geltend gemacht für die Modulation körpergerechter Möbel.

Intensiv werden die einzelnen Möbelformen beschrieben. Sie reichen von den filigranen Metallstühlen aus einem einzigen Eisendraht mit messinggefasster Sitzfläche und einem kardinalroten, gesteppten Polster mit Glasknöpfen für die Casa Devalle 1940 bis zu einfachen Bretterstühlen aus naturbelassenem Holz nach dem Vorbild bäuerlicher Stuhlmodelle. Bekannt wurde eine raffinierte Tischkonstruktion mit elegant geschwungener Tischplatte aus Glas und technoiden, deutlich sichtbaren Metallschrauben, Verbindungsstücken - und Stahlhalterungen, die an die Konstruktionsprinzipien und Präzisionsarbeit im Flugzeug- und Karosseriebau erinnern, und einem Untergestell aus Schichtholz mit jugendstilhaft geschwungenen Formen. Mollino griff auf organische Formen zurück, wie sie vor allem in den USA von Saarinen, Aalto und Eames entwickelt wurden und auf den zu Beginn der 50er wieder entdeckten Jugendstil. Mit dem Stuhl Gaudi, 1949 für die Casa Orengo entworfen, erwies der Designer expressis verbis dem berühmten katalanischen Architekten seine Reverenz. Er gestaltete seine Stühle wie menschliche Körper, vor allem Frauenkörper, um sie zu "verlebendigen" und eine tiefe - auch erotische - Beziehung zwischen Mensch und Umwelt zu unterstützen: extrem schlanke Stuhlrücken nehmen die Linienführung einer Wirbelsäule auf, weich gemuldete Sitzflächen die eines weiblichen Busens oder einer spitzen Zunge, die Stuhlbeine sind teilweise so aufgesetzt, als stünde der Stuhl auf "Zehenspitzen", provokante erotische Doppeldeutigkeiten, die er durch die Aktfotos, die er in seinen Wohnungen aufnahm, noch zusätzlich suggerierte. Häufig gehen die organischen Kunstformen aber auch auf Naturformen zurück, man erkennt Tierfelle, Schlangen und Muscheln in seinen Arbeiten. Das alte Motiv der Muschel wird besonders für die Inneneinrichtung der Privathäuser reklamiert: "Das Haus ist eine Muschel, die jedem Organismus ein freies und sehr unterschiedliches individuelles Leben erlauben muss", äußerte er 1959. [1]

Diese Beschreibungen in den beiden Katalogtexten machen neben dem üppigen Bildteil den Gewinn der Publikation aus. Eine grundsätzliche Schwäche des Buches, auf die auch die Autoren selbst aufmerksam machen, ist jedoch die Konzentration auf eine Werkgruppe, haben sie doch überzeugend darauf hingewiesen, dass die Möbel nie ortlose Unikate, geschweige denn Serienprodukte waren, sondern individuell für die Wohnung der jeweiligen Auftraggeber und die eigene Wohnung konzipiert wurden. Gerade das macht ihre Einzigartigkeit aus.

Trotz der bemühten und aufschlussreichen Entfaltung der gestalterischen Ikonographie bleibt der Band einer Tendenz verhaftet, die in Publikationen über Design häufig anzutreffen ist. Die Beschreibung von gestalterischen Herleitungen, künstlerischen Querbezügen, Interdependenzen mit dem Zeitkontext erscheinen den meisten Autoren als Schmälerung der Wertschätzung des Werkes und Abstrich am Bild vom einzigartigen Erfindergeist zu sein. Zwar bestätigen Fulvio und Napoleone Ferrari nicht mehr das Klischee des skurrilen Außenseiters, aber es häufen sich in den beiden Aufsätzen Beschreibungen wie "autonome Expression", "demiurgische Herleitung" und die antiquiert anmutende Betonung der angeborenen und deshalb nicht lern- und lehrbaren geniehaften Begabung des Künstlers. [2]

Dass Mollino als neuer Stern am Himmel der Designgeschichte gehandelt wird, sollte darüber hinaus nicht nur Sammler interessieren. Vielmehr hat er einen unverzichtbaren Wert darin, dass seine Arbeiten die klassischen Ordnungsmuster der "reinen" Designgeschichte des 20. Jahrhunderts, die durch die Regeln der rationalistischen Moderne gekennzeichnet sind, aufbrechen. Das ist zunehmend der Fall, wenn man beispielsweise an die künstlerischen Ingenieurkonstruktionen eines Jean Prouvé oder das surrealistische Möbeldesign eines Frederick Kiesler denkt. Blicke in die italienische Umgebung der 1930er- bis 1950er-Jahre hätten jedoch auf die viel größere Offenheit der Italiener für Künstlerisches und Handwerkliches als in vielen anderen europäischen Ländern aufmerksam gemacht: Piero Fornasettis Stuhl mit der Rückenlehne in Form einer antiken Säule von 1950, Osvaldo Borsanis Stuhlmaschine von 1954, das szenografische Werk von Erberto Carboni aus den 1940er- und frühen 1950er-Jahren oder auch nur die Lichtskulpturen von Lucio Fontana im Foyer der Mailänder Triennale von 1951 hätten die Position des Einzelgängers in "splendid isolation" ein wenig relativiert, ohne den Eindruck von einem imposanten Lebenswerk zu schmälern.


Anmerkungen:

[]1] Carlo Mollino: La nostra casa si trasforma, 1959, Übersetzung G.B., zitiert nach: Napoleone Ferrari: Surrealist Engineer, 52.

[2] Carlo Mollino: Classicismo e romanticismo nell'architettura attuale, 1953/54, zitiert nach: Fulvio Ferrari: Reflections, 19.

Gerda Breuer