Rezension über:

Gian Enrico Rusconi / Hans Woller (Hgg.): Parallele Geschichte? Italien und Deutschland 1945-2000 (= Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient; Bd. 20), Berlin: Duncker & Humblot 2006, 575 S., ISBN 978-3-428-12300-1, EUR 118,00
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Rezension von:
Patrick Bernhard
Deutsches Historisches Institut, Rom
Empfohlene Zitierweise:
Patrick Bernhard: Rezension von: Gian Enrico Rusconi / Hans Woller (Hgg.): Parallele Geschichte? Italien und Deutschland 1945-2000, Berlin: Duncker & Humblot 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 4 [15.04.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/04/11710.html


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Gian Enrico Rusconi / Hans Woller (Hgg.): Parallele Geschichte?

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Parallele Geschichte? So lautet der fragende Titel eines jüngst von Gian Enrico Rusconi und Hans Woller herausgegebenen Sammelbands zur Nachkriegsgeschichte Italiens und (West-) Deutschlands in vergleichender und beziehungsgeschichtlicher Perspektive. Insgesamt 22 renommierte Forscherinnen und Forscher, deren Beiträge eine beachtliche thematische Bandbreite abdecken, haben die beiden für ihr Projekt gewinnen können. Sie beschäftigen sich mit der Bewältigung der diktatorialen Hinterlassenschaften, Parteien und Verfassung, wirtschaftlichen Entwicklungen, Leitbildern der politischen Akteure sowie schließlich mit der deutschen Wiedervereinigung. Lediglich sieben Autoren gehen in ihren Beiträgen auf beide Staaten ein, die anderen wurden von den Herausgebern zu deutsch-italienischen Paaren zusammengespannt und behandeln auf ihren Feldern den jeweils nationalen Fall.

Insgesamt bietet der Band eine Mischung aus alt und neu. Neben bekannten Ausführungen etwa zur westdeutschen Vergangenheitspolitik (Norbert Frei) findet sich vor allem unter den italienischen Aufsätzen Etliches, das zumindest für die deutschen Leser ein echtes Novum darstellen dürfte. So kann etwa Lutz Klinkhammer in seinem Beitrag zur ausgebliebenen Ahndung deutscher Kriegsverbrechen in Italien zeigen, dass nicht nur die bundesdeutsche Justiz in den Anfangsjahren der Republik wenig Interesse an einer Verfolgung straffällig gewordener Landsleute an den Tag legte. Auch die italienischen Behörden schlossen die Ermittlungsakten recht schnell, obwohl genug belastendes Beweismaterial gegen immerhin knapp 700 Tatverdächtige vorlag. Diese kalte Amnestie erfolgte ganz eindeutig auf politische Weisung: Die italienische Regierung wollte damit eine mögliche öffentliche Diskussion über die Bestrafung italienischer Kriegsverbrecher gar nicht erst aufkommen lassen - auf den internationalen Fahndungslisten standen damals nämlich auch die Namen von 1700 Italienern, die sich vor allem in Jugoslawien zahlreicher Kriegsverbrechen schuldig gemacht hatten.

Anstelle von Aufklärung und Strafverfolgung kreierte man auf breiter publizistischer Front den Mythos von den anständigen Italienern, wie Filippo Focardi in seinem Beitrag erklärt. Die Italiener hätten sich nie wirklich vom Faschismus vereinnahmen lassen, so die bald gängige Vulgata, sondern seien vielmehr selbst Opfer des nationalsozialistischen Besatzungsregimes geworden. Konservative, Liberale und selbst Kommunisten erklärten in bemerkenswerter Einigkeit noch vor Kriegsende den Faschismus flugs zum "Betriebsunfall" der italienischen Geschichte. In ständigen Vergleichen wurden die Unterschiede zum Nationalsozialismus so groß wie irgend möglich gemacht. Die damaligen Akteure verfolgten damit eine doppelte politische Zielsetzung: Zum einen erhofften sie sich für Italien eine mildere Behandlung durch die alliierten Siegermächte, als Hitlerdeutschland sie erwarten durfte. Zum anderen ließ sich so ein umfassender antifaschistischer Gründungskonsens in dem seit 1943 von einem Bürgerkrieg zerrissenen Land herstellen. Diese Strategie ging letztlich voll auf - und zwar mit weitreichenden Folgen: Bis heute sind die meisten Italiener davon überzeugt, dass es sich beim Faschismus um eine im Grunde harmlose Diktatur gehandelt habe; laut einer Umfrage beurteilte im Jahr 2002 immerhin ein Viertel aller Jugendlichen Mussolinis Gewaltregime sogar positiv.

Mit neuen Forschungsergebnissen kann auch Maddalena Guiotto aufwarten. Ihr quellengesättigter Beitrag über den Europagedanken der westdeutschen und italienischen Christdemokraten in den Fünfzigerjahren macht deutlich, dass die Wiederannäherung Westdeutschlands und Italiens vor allem über diese Parteikontakte erfolgte. Verbindendes Element waren jedoch weniger die gemeinsamen christlichen Grundüberzeugungen, sondern vielmehr die wirtschaftlichen und politischen Vorteile, die die deutsch-italienische Aussöhnung in den Augen der Akteure für beide Seiten bot. So war die Wiedereingliederung der Bundesrepublik in die westliche Staatenwelt für Italien eine gute Gelegenheit, sich als Vermittler anzubieten und auf dem internationalen Parkett verlorene Reputation zurückzugewinnen, wie Guiotto in Anlehnung an frühere Forschungen formuliert. Diese enge bilaterale Zusammenarbeit verlor freilich bereits um die Mitte des Jahrzehnts zunehmend an Bedeutung, als nicht nur mit Alcide De Gasperi ein wichtiger Protagonist verstarb, sondern multilaterale Organisationen wie NATO und EWG für beide Länder immer wichtiger wurden.

Von großem Neuigkeitswert für deutsche Leser sind schließlich auch die Beiträge von Giorgio Mori, Patrizia Battilani und Francesca Fauri zur wirtschaftlichen Entwicklung Italiens nach 1945. Wie die drei Forscher nachweisen können, endete für Italien das Wirtschaftswunder bereits 1963. Damit widersprechen sie der weit verbreiteten Annahme, dass erst der Ölschock des Jahres 1973 das Ende des "Goldenen Zeitalters" ökonomischer Prosperität für alle westlichen Industriegesellschaften bedeutet habe. Zwar schaffte es Italien bis 1958 auch dank der Marshallplan-Hilfe, seinen bisherigen Rückstand gegenüber den großen Wirtschaftsnationen zu verringern, wobei besonders die boomende Baubranche und die Metallindustrie zu Buche schlugen. Doch in den folgenden Jahren verschlechterten sich die Ausgangsbedingungen wieder erheblich: Durch den Abbau von Zollschranken innerhalb der EWG schwanden nicht nur die bisherigen Wettbewerbsvorteile der italienischen Wirtschaft. Heftige Arbeitskämpfe führten zudem zu teils erheblichen Lohnerhöhungen, die die Produktionskosten verteuerten. Schließlich setzte eine massive Kapitalflucht ins Ausland ein, die Inflation stieg und vor allem der strukturschwache Süden Italiens, der zuvor kaum vom Marshallplan hatte profitieren können, wurde in geradezu dramatischer Weise abgehängt, wie die Autoren eindringlich schildern.

Nicht ganz überzeugt haben den Rezensenten hingegen Themenauswahl und Arrangement des Sammelbands. Etwas merkwürdig nimmt sich beispielsweise die Entscheidung aus, die deutsche Einheit zu behandeln. Wie Woller selbst in seinem problemorientierten Aufriss deutlich macht, stellt die Teilung Deutschlands ja einen wesentlichen, den Vergleich erschwerenden Unterschied zur Nachkriegsentwicklung Italiens dar. Zudem spielte Italien, so Rusconi in seiner Einleitung, im Prozess der Wiedervereinigung auf der diplomatischen Bühne "eine im Grunde marginale Rolle". Geradezu erratisch wirkt in diesem Zusammenhang Joachim Scholtysecks Beitrag zur Außenpolitik der DDR in der Endphase des Regimes: Die Entwicklung im anderen Deutschland hatten die Herausgeber, weil hier das Vergleichsmoment weitgehend fehlt, an sich ausgeklammert.

Ausgesprochen schade ist schließlich, dass die Herausgeber trotz vier Einführungen und eines Epilogs darauf verzichtet haben, ein Resümee zu ziehen und die von ihnen im Titel selbst gestellte Frage zu beantworten. Dieses Manko wiegt umso schwerer, als der Sammelband zu einem Teil arbeitsteilig organisiert ist. So stehen nun die deutschen unverbunden neben den italienischen Einzelbeiträgen. Es bleibt letztlich dem Leser überlassen, diese "zusammenzudenken". Wer diese Arbeit jedoch nicht scheut, wird mit zahlreichen neuen Einsichten in die Nachkriegsgeschichte Italiens und Westdeutschlands belohnt.

Patrick Bernhard