Rezension über:

Ilse Kodek (Bearb.): Der Großkanzler Kaiser Karls V. zieht Bilanz. Die Autographie Mercurino Gattinaras aus dem Lateinischen übersetzt (= Geschichte in der Epoche Karls V.; Bd. 4), Münster: Aschendorff 2004, X + 277 S., ISBN 978-3-402-06573-0, EUR 39,00
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Rezension von:
Peter Marzahl
Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Christine Roll
Empfohlene Zitierweise:
Peter Marzahl: Rezension von: Ilse Kodek (Bearb.): Der Großkanzler Kaiser Karls V. zieht Bilanz. Die Autographie Mercurino Gattinaras aus dem Lateinischen übersetzt, Münster: Aschendorff 2004, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 4 [15.04.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/04/5557.html


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Forum:
Diese Rezension ist Teil des Forums "Karl V. und die Politik seiner Zeit" in Ausgabe 7 (2007), Nr. 4

Ilse Kodek (Bearb.): Der Großkanzler Kaiser Karls V. zieht Bilanz

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Die Memoiren von Mercurino Gattinara, dem Großkanzler Karls V., werden hier in einer deutschen Übersetzung vorgelegt. Carlo Bornate hat die lateinische Fassung des Manuskripts im Jahr 1915 in einer sorgfältig edierten Version herausgebracht, die aber schwer zu beschaffen ist und dazu sprachlich einem breiteren Publikum kaum zugänglich. Neben einer flüssigen und gut kommentierten Übersetzung des gesamten Textes (99-249) - welche auch Schwierigkeiten nicht ausspart - bietet die Verfasserin einen ausgedehnten Kommentar, der neben einem biografischen Abriss das Werk als literarische Produktion und historische Quelle untersucht (3-98).

Die Memoiren, von Gattinara als "Darstellung seines Lebens und seiner Taten durch den Herrn Großkanzler" benannt, erzählen kurz Herkunft und Jugend in Piemont, gehen dann auf seine Karriere als Jurist und Fürstendiener bei den Herzögen von Savoyen ein, bei Margarete von Österreich und in diplomatischen Diensten für Maximilian. Der bei weitem wichtigste und auch längste Teil beschäftigt sich mit großer Politik und Kriegführung, nachdem Gattinara im November 1518 als Kanzler in die Dienste des jungen Königs von Kastilien getreten war. Von diesem Moment an ist Politik in den Diensten Karls das beinahe ausschließliche Thema der Memoiren. Während der folgenden Jahre wurde Gattinara ein wichtiger Ratgeber, vielleicht der wichtigste Karls, wie es besonders Karl Brandi in seiner Biografie des Kaisers betont hat. Dabei kamen Gattinara seine breiten Kenntnisse europäischer Politik zu Hilfe, eine bemerkenswerte Arbeitskraft, Hartnäckigkeit im Verfolgen von Zielen und ein ausgeprägtes Sendungsbewusstsein; ein Bewusstsein welches er auch dem Kaiser zu vermitteln suchte.

Gattinaras Bericht endet im Jahr 1529, als er sein Ziel, die Reise des Kaisers nach Italien zur Krönung durch den Papst, beinahe erreicht hatte. In Gattinaras Darstellung der elf Jahre davor steht Mercurino selbst im Zentrum der Erzählung und der Ereignisse, denn als Kanzler beansprucht er die Führung der Geschäfte und den maßgebenden Einfluss beim Kaiser. Im Staatsrat und in zahlreichen Denkschriften kann er diesen Anspruch geltend machen, insbesondere als nach dem Tod von Chièvres im Mai 1521 der Ausgleich mit Frankreich verlassen wird, um, wie Gattinara es formuliert, französischen Machenschaften entgegenzutreten, welche dem Ausbau der kaiserlichen Stellung im Wege stehen.

Die Rivalität von Habsburg und Valois mit Italien als Objekt wird der rote Faden der Erzählung. Die Memoiren zeigen die Konzentration Gattinaras auf dieses Ziel, seine Rolle als Mahner und Ratgeber. Die Beherrschung Italiens wird unter Gattinaras Inspiration das vornehmste Ziel kaiserlicher Politik. Allerdings kann und will der Kaiser dieses Ziel nicht immer mit derselben Konsequenz verfolgen wie sein Kanzler. Dann kann Gattinara sogar einen raren Zug psychologischer Finesse demonstrieren: die Italienfahrt wird definitiv beschlossen, als Gattinara seinen Unglauben an ihre Verwirklichung demonstrativ äußert! Auch ein Quäntchen Machiavellismus scheint einmal durch: Nach dem Sacco di Roma habe er dem Kaiser vorgeschlagen, entweder das Geschehen gutzuheißen, als Strafe eines Unruhestifters in Verteidigung einer gerechten Sache, oder aber sich in aller Öffentlichkeit von dem Geschehenen zu distanzieren als ohne seine Schuld zustande gekommen. In einem Memorandum, das Gattinara seinerzeit dem Kaiser hatte zukommen lassen, hatte er allerdings nur die letztere Version vorgeschlagen, als eine notwendige Erklärung, gegenüber einer Öffentlichkeit.

Die Memoiren wären ein wichtiger Baustein zu einer bis jetzt fehlenden Biografie des Kanzlers. In der Ausschließlichkeit der Selbstdarstellung und der Konzentration auf die eigene Person geben sie Hinweise zur Persönlichkeit, aber wie von der Verfasserin vermerkt: Es fehlen fast alle Bezüge zu Freund und Feind (obwohl der Kanzler Politik in diesen Kategorien zu begreifen schien). Wohl existiert die große Politik, im Rückblick des Kanzlers. Aber zu unserem Verständnis der jeweiligen Sicht Gattinaras gehören auch die Denkschriften, welche als Momentaufnahmen ein komplexeres Bild seiner Denkweise und seiner Form des Plädierens bieten als die Memoiren. Ihre Herausgabe in gesammelter Form stellte eine geeignete Ergänzung des hier vorgestellten Buches dar.

Was bis jetzt zu einem engeren Verständnis von Leben und Rolle Gattinaras fehlte, ist eine bessere Kenntnis des Hofes als Schnittstelle von Politik und Einfluss. Hof und Hofstaat sind inzwischen mehr in das Gesichtsfeld der Zunft geraten, so in den von Martínez Millán angeregten Studien zum Hof Karls V. Seinerzeit hat Brandi das Bild des Kanzlers und seines Einflusses wesentlich auf der Grundlage der Denkschriften für den Kaiser gezeichnet. In einer Studie über das Verhältnis von Kaiser und Kanzler und die Welt der Geschäfte hat Headley gezeigt, dass der Kanzler weder die Verwaltung bei Hofe noch die Führung der Geschäfte unter seiner Kontrolle halten konnte. Langfristig gelang es Gattinara nicht, im Geflecht von Hof und Behörden des Kaisers den dem Kanzler gebührenden Platz zu sichern. Dies lag wohl weniger an einem Mangel an Fähigkeiten, auch nicht unbedingt an der Expansion der Geschäfte und Behörden als vielmehr am Herrscher selbst, der sich zusehends seiner Prärogativen bewusst wurde. Für die Wahrnehmung dieser Prärogativen waren die Sekretäre ein geeigneteres Vehikel des Herrschers als der Kanzler. Folgerichtig hat der Kaiser nach dem Tod Gattinaras im Mai 1530 das Amt nicht mehr besetzt.

Peter Marzahl