Rezension über:

Rolf Große: Vom Frankenreich zur den Ursprüngen der Nationalstaaten 800 bis 1214 (= WBG Deutsch-Französische Geschichte; Bd. 1), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2005, 280 S., ISBN 978-3-534-14699-4, EUR 44,90
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Rezension von:
Stephan Freund
Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität, Jena
Redaktionelle Betreuung:
Jürgen Dendorfer
Empfohlene Zitierweise:
Stephan Freund: Rezension von: Rolf Große: Vom Frankenreich zur den Ursprüngen der Nationalstaaten 800 bis 1214, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2005, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 5 [15.05.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/05/9388.html


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Rolf Große: Vom Frankenreich zur den Ursprüngen der Nationalstaaten 800 bis 1214

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Nach den Werken von Joachim Ehlers [1] und Martin Kintzinger [2] ist nun die dritte deutschsprachige Darstellung binnen weniger Jahre zur Geschichte Deutschlands und Frankreichs im Mittelalter erschienen. Das Buch von Große ist zugleich der erste einer auf insgesamt elf Bände veranschlagten deutsch-französischen Geschichte, die gemeinsam vom Deutschen Historischen Institut und der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris verantwortet wird. Ziel dieses ambitionierten Vorhabens ist es, den Weg zu einer "wirklich europäischen Geschichtsschreibung" (7) zu bahnen und dabei inhaltlich und methodisch neue Wege zu beschreiten: Die Aufmerksamkeit soll nicht der "traditionellen Diplomatiegeschichte" gelten, sondern vielmehr "sozial- und kulturgeschichtliche Fragestellungen" in den Blick nehmen sowie eine "gegenseitige Wahrnehmungsgeschichte" in vergleichender Perspektive bieten, die die "empirischen und die reflexiv konstruierten Beziehungen zwischen den Gegenständen des Vergleichs ins Auge fasst" (alle Zitate Paravicini - Werner,7).

Große geht diese Aufgabe in einem dreigliedrigen Zugriff an, dessen Einteilung in "I. Überblick" (15-112), "II. Fragen und Perspektiven" (113-208) und "III. Bibliographie" (209-258) an den Oldenbourg Grundriss der Geschichte bzw. die Enzyklopädie deutscher Geschichte erinnert, sich von diesen bewährten Reihen aber dadurch unterscheidet, dass der zweite Teil entgegen der Überschrift ebenfalls vorwiegend Grundlinien der politischen Geschichte nachzeichnet, weniger Forschungskontroversen erörtert.

Im wiederum dreifach untergliederten ersten Teil wird zunächst "Das Frankenreich um 800" skizziert. Die Darstellung erfolgt in klarer, schnörkelloser Sprache, orientiert sich an der Vorgehensweise neuerer Handbücher und verzichtet auf eigene Akzente. Die Aufmerksamkeit gilt dem geografischen Rahmen, Fragen der Verfassung, der Bevölkerung sowie der Verkehrswege und der kulturellen Entwicklung. Manche Aussagen sind in sich widersprüchlich, einige Pauschalurteile kritisch zu hinterfragen: So vertritt Große auf Seite 16 die Auffassung, Karl der Große habe "natürlich kein Konzept besessen", schreibt dann aber Seite 23, dass Karl slawischen Verbänden in seinen Konzeptionen eine wichtige Rolle zugeschrieben habe; die Behauptung, die frühmittelalterlichen Menschen seien wenig mobil gewesen (34), steht einerseits in markantem Widerspruch zu den archäologischen Zeugnissen, die einen europaweiten Austausch von Gütern unterschiedlichster Provenienz und Beschaffenheit dokumentieren, der ohne Mobilität nicht möglich gewesen wäre. Andererseits lässt sich die beinahe gegenteilige Auffassung, auch in karolingischer Zeit habe es wie in römischer Zeit einen regelrechten Kurierdienst gegeben (35), nicht belegen. Bisweilen fehlen wichtige neuere Untersuchungen: Das 2004 erschienene Werk von Hechberger zum Adel [3] wäre für die Darstellung der gesellschaftlichen Gliederung der Karolingerzeit (32 ff.) hilfreich gewesen; das neuere Bild Ludwigs des Frommen, dessen Herrschaft generell sehr knapp dargestellt wird, bleibt ohne den gewichtigen Sammelband des Jahres 1990 unvollständig [4].

Mag dies jeweils dem Zwang zur Auswahl geschuldet sein, so erscheinen andere inhaltliche und methodische Entscheidungen grundsätzlich diskussionswürdig: So wird bei der Darstellung der kulturellen Entwicklung im Frankenreich die römische Dimension der karolingischen Reformen kaum thematisiert, wird aber insbesondere der Erlangung des Kaisertums durch Karl keine gesonderte Aufmerksamkeit geschenkt, obwohl Großes Werk mit dem Jahr 800 regelrecht programmatisch seinen Anfang nimmt und im weiteren Verlauf des 9. Jahrhunderts die Herrscher der sich auseinander entwickelnden Reichsteile durchaus um die Erlangung des Kaisertitels rivalisierten. Überraschend ist diese Nichtberücksichtigung aber vor allem deshalb, weil Große das jeweilige Verhältnis zum Papsttum als regelrechten Gradmesser des Verhältnisses zwischen Deutschland und Frankreich postuliert (12).

Im weiteren Verlauf der Darstellung ("2. Die Entstehung Deutschlands und Frankreichs") fällt wiederholte Male auf, dass den Verhältnissen im westlichen Reichsteil ungleich größere Aufmerksamkeit zuteil wird. Mag dies für die Zeit Karls des Kahlen vielleicht noch angemessen sein, so erscheint es problematisch, wenn im 10. Jahrhundert die Regierungszeit Ottos des Großen vor allem hinsichtlich ihrer Auswirkung auf die Verhältnisse im Westen thematisiert wird, kaum jedoch für den weiteren Verlauf der ostfränkisch-deutschen Geschichte. Gerade in diesem, sich in erster Linie entlang der Ereignisgeschichte bewegenden Abschnitt hätte man sich stärker systematisierende Bemerkungen gewünscht. Sie wären geeignet gewesen zu verdeutlichen, wie sehr sich die beiden Reiche damals einander entfremdet hatten und wie es zur Ausbildung eigener, sich nicht mehr als westlicher bzw. östlicher Teil ein und desselben Gebildes verstehender Herrschaftsbereiche kam - mithin zu Vorgängen, die insbesondere unter Heinrich I. und Otto I. die Integration bislang durchaus heterogener Regionen zur Folge hatten. Dass dabei im ehemals ostfränkischen Reich äußere Bedrohungen durch Slawen und Ungarn dazu führten, dass man sich hinter dem erfolgreichen Herrscher scharte, sich auf diese Weise zunehmend auch als Einheit verstand und schließlich von zeitlich begrenzten Handlungsgemeinschaften zu einem dauerhaften Verband zusammenfand, bleibt unerwähnt und wird auch nicht mit den anders gelagerten Verhältnissen im Westen verglichen.

Dieser chronologischen Betrachtungsweise folgen zwei Abschnitte, die sich den kirchlichen Strukturen und Reformbewegungen bzw. Kultur und Geistesleben widmen - Gebiete auf denen Große ein kulturelles West-Ost-Gefälle konstatiert.

Der dritte Abschnitt ("Regnum und Imperium bis zum frühen 13. Jahrhundert") zeigt am Beispiel der Wahrung von Frieden und Recht unterschiedliche "Vorstufen der Staatswerdung" auf, stellt aber die andersartigen Entwicklungen weitgehend beschreibend nebeneinander, ohne sie kontrastierend voneinander abzusetzen und auf diese Weise Unterschiede und Gemeinsamkeiten deutlich sichtbar werden zu lassen. Angesichts des knapp bemessenen Raumes machen sich erneut Disproportionalitäten bemerkbar. Zum Beispiel werden die Gründungsvorgänge der Cluniazenser und der Zisterzienser ausgesprochen detailliert geschildert, die im werdenden deutschen Reich des späten 10. und frühen 11. Jahrhunderts anzutreffenden Reformen im monastischen Bereich hingegen nur gestreift bzw. gar nicht erwähnt. Als Folge der großen Schritte, mit denen das 11. und 12. Jahrhundert durchmessen werden, bleiben bestimmte Aspekte des Vergleichs gänzlich außer Betracht. So wird zwar das Alexanderschisma eingehend dargestellt und werden auch dessen Entstehungshintergründe ausführlich beschrieben, doch das Papstschisma des Jahres 1130, in das deutsche und französische Akteure mindestens ebenso sehr involviert waren, wird noch nicht einmal angesprochen. Die beiden letzten Kapitel widmen sich den Kreuzzügen sowie unter der Überschrift "Bouvines" dem staufisch-welfischen Thronstreit und dessen Folgen für die deutsch-französische Geschichte.

Im zweiten Teil des Werks werden thematische Schwerpunkte und politische Ereignisgeschichte gleichermaßen behandelt, was zwar zu gewissen Redundanzen führt, aber auch Aspekte ergänzt, deren Behandlung man im ersten Teil schmerzlich vermisst hat (z.B. die Rolle Lotharingiens und Burgunds; das Verhältnis von Königen und Fürsten). Neben der Frage nach den jeweiligen Herkunftsmythen von Deutschen und Franzosen und der Darlegung der gegenseitigen Wahrnehmung ("Bilder vom Anderen") kommen Wirtschaft und Handel ebenso zur Sprache wie Krönungsorte und Nekropolen, die höfische Gesellschaft und Kultur sowie die Hohen Schulen. Gebündelt werden die Ausführungen in einer Schlussbetrachtung.

Es folgen im dritten und letzten Teil eine umfangreiche Bibliografie, eine Zeittafel und zwei Karten. Sie zeigen Lotharingien und Burgund im 10. und 11. Jahrhundert sowie das Karlsreich um 800. Eine Karte zum 10. Jahrhundert, die das Ausgreifen des ostfränkisch-ottonischen Reichs über die Alpen nach Süden bzw. nach Osten gezeigt hätte und in prägnanter Form hätte veranschaulichen können, welche Einflüsse damals in West und Ost wirksam waren bzw. welche unterschiedlichen Akzente gesetzt wurden, fehlt ebenso wie eine Karte, die für die Stauferzeit Ähnliches hätte leisten können.

Summa summarum hinterlässt die Lektüre den ambivalenten Eindruck, dass hier eine Chance nur bedingt genutzt wurde. Denn das Konzept der Reihe ist ehrgeizig und durchaus geeignet, Studierenden, aber auch einer historisch interessierten Öffentlichkeit Gemeinsamkeiten und Unterschiede der deutsch-französischen Vergangenheit näher zu bringen und damit einen konkreten Beitrag zur Integration Europas zu leisten.


Anmerkungen:

[1] Joachim Ehlers: Das westliche Europa (Die Deutschen und das europäische Mittelalter), München 2004.

[2] Martin Kintzinger: "Die Erben Karls des Großen". Deutschland und Frankreich im Mittelalter, Ostfildern 2005.

[3] Werner Hechberger: Adel, Ministerialität und Rittertum im Mittelalter (Enzyklopädie deutscher Geschichte 72), München 2004.

[4] Charlemagne's Heir. New Perspective's on the Reign of Louis the Pious (814-840), hg. von Peter Godman - Roger Collins, Oxford 1990.

Stephan Freund