Rezension über:

Erdmut Jost: Landschaftsblick und Landschaftsbild. Wahrnehmung und Ästhetik im Reisebericht 1780-1820. Sophie von La Roche - Friederike Brun - Johanna Schopenhauer (= Rombach Wissenschaften. Litterae; Bd. 122), Freiburg/Brsg.: Rombach 2005, 548 S., ISBN 978-3-7930-9442-5, EUR 60,20
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Rezension von:
Agnieszka Vojta
Konstanz
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Agnieszka Vojta: Rezension von: Erdmut Jost: Landschaftsblick und Landschaftsbild. Wahrnehmung und Ästhetik im Reisebericht 1780-1820. Sophie von La Roche - Friederike Brun - Johanna Schopenhauer, Freiburg/Brsg.: Rombach 2005, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 6 [15.06.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/06/10933.html


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Erdmut Jost: Landschaftsblick und Landschaftsbild

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Die Wahrnehmung der Landschaft ist ein individueller, schöpferischer Akt, bedingt durch die Neigungen, Ideen, Interessen und die kulturelle Prägung des Subjekts. "Das Phänomen Landschaft transportiert historisch je unterschiedliche Wahrnehmungsmodelle" (14). In ihrer fulminanten Arbeit deckt Erdmut Jost den Mythos des 'empirischen Auges' auf und zeigt die historisch bedingte Konstruiertheit der Landschaft auf.

Die 520-seitige Dissertation von Erdmut Jost erinnert an ihr eigenes Thema: Wie ein allumfassendes Panoramabild enthält sie eine Fülle von Details, wie ein 'schweifendes Auge' geht sie von Thema zu Thema. Der Leser würde manchmal ein beschränktes, klar strukturiertes Tableau bevorzugen.

Mitte des 18. Jahrhunderts fand ein wahrnehmungsästhetischer Paradigmenwechsel statt. Das bisherige rationalistische Prinzip der Rahmenschau wird durch das 'schweifende Auge' ersetzt, die Natur als Abbild göttlicher Ordnung wird zum Ort des subjektiven Erlebens. Die Reise bzw. die Reiseliteratur fungiert als 'Schule des Sehens'. Im besprochenen Zeitraum (1780-1820) entwickelt sich die Reiseliteratur zum Avantgarde-Medium, in dem neue Impulse verarbeitet und popularisiert werden und sich somit auch der oben genannte Paradigmenwechsel spiegelt.

Erdmut Jost zeigt auf der Folie der zeitgenössischen Ästhetik- und Wissenschaftsdiskurse exemplarisch, wie drei Autorinnen - Sophie La Roche, Friederike Brun und Johanna Schopenhauer - anhand ihrer Reisebeschreibungen eigene poetische Konzepte und Wahrnehmungsmodelle darstellten. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen die Schweizerreisen der Autorinnen. Jost fokussiert ihre Analyse auf Texte von weiblichen Reisenden, weil gerade für Frauen die Gattung Reiseliteratur entschiedene Vorteile hatte und thematische wie konventionelle Grenzüberschreitungen ermöglichte.

Die Konzentration auf Texte weiblicher Reisenden wird von einer kritischen Analyse der (feministischen) Frauenreiseliteraturforschung begleitet. Jost lehnt die Reduktion der weiblichen Wahrnehmung auf das Empirisch-Sinnliche ab, ihr geht es um eine "wissenschaftliche Würdigung der besonderen literarisch-ästhetischen Leistung der Autorinnen auf dem Gebiet der Landschaftsdarstellung" (54). Jost wehrt sich gegen die Annahme eines 'sozialisationsbedingt beschränkten Blicks' der Autorinnen, weil dieser Ansatz die Gefahr birgt "dass man den beschränkten Blick verabsolutiert, dass die Annahme einer im Wesentlichen konsistenten Gattungsausprägung, die keinerlei oder nur wenig Bezug haben soll zur jeweiligen zeitgenössischen theoretischen Diskussion und literarischen Praxis, die Teilhabe an und den Beitrag von Frauen zu theoretischem Diskurs und literarischer Praxis verdeckt bzw. marginalisiert" (38).

Für ihre Analyse der Landschaftswahrnehmung ist der geschlechterspezifische Ansatz nicht praktikabel, da sich "die Darstellung der erhabenen Landschaft nicht mit den Gattungspezifika der [...] weiblichen Reisebeschreibung verträgt" (39).

Obwohl der Fokus der Arbeit auf La Roche, Brun und Schopenhauer gerichtet ist, behandelt Erdmut Jost ein breites Spektrum an Themen und Autoren, reflektiert sowohl zeitgenössische als auch moderne Diskurse und rekurriert auf eine beeindruckende Fülle von Forschungsliteratur. Hier sei nur schlaglichtartig auf die interessantesten Aspekte dieser hervorragenden Arbeit hingewiesen.

Das 'schweifende Auge'
Der kulturelle Paradigmenwechsel im 18. Jahrhundert rückte das Unendliche, Unbegrenzte in den Mittelpunkt. Der kleine tableauhafte Ausschnitt wird durch die allumfassende Panoramasicht ersetzt. Die Landschaft ist nun ein Raum, den das 'schweifende Auge' betreten kann. Die Natur wird vom empirischen zum ästhetischen Bildmaterial. Die veränderte Wahrnehmung drückt sich in der neuen Bildlichkeit der Reisebeschreibungen aus - nicht mehr die statischen gerahmt wirkenden Sehenswürdigkeiten stehen im Mittelpunkt; nun kann der Leser der (Seh)Bewegung des Autors folgen. Die Texte fungieren als 'Bildermagazine'.

Der Text als das bessere Bild
Man strebt nach dem idealen 'Blick, mit dem sich alles sehen ließe'. "Die Ideallandschaft besitzt die von der Aufklärung gewünschte unmittelbarste Evidenz" (87). Auch hier wird der Konstruktionscharakter deutlich - das Bild muss wirken - durch Konzentration, Verdichtung und vor allem Lesbarkeit, d.h. Abkehr von der Allegorese und emblematischen Inhalten. Die 'Wahrheit' wird mosaikartig aus detaillierten (Reise-)Beschreibungen zusammengesetzt, wobei vieles übersehen oder nicht beachtet wird, um die klare Lesbarkeit zu gewährleisten. Durch die Beschreibungen entsteht mimetisch die 'beste Landschaft', in der sich die Übereinstimmung der göttlichen Ordnung und der menschlichen Natur spiegelt (86).

Die Intertextualität der Landschaft
Im Laufe des 18. Jahrhunderts bildet sich ein Kanon der Reiseliteratur heraus. Zitieren, Bezug-Nehmen, Kompilieren waren gängige Schreibpraxen. Die Anspielungen auf kanonisierte Autoren sollen bestimmte Stimmungen hervorrufen, das Zitieren berühmter Beschreibungen die eigene Erfahrung untermauern, die Nennung bekannter literarischer Figuren Assoziationen hervorrufen. Intertextuelle Strategien sind besonders bei weiblichen Autoren anzutreffen. Zitate dienen als Stellvertreter eigener Meinung, die man nicht direkt äußern wollte oder konnte, um die Grenzen des 'weiblichen Schreibens' nicht zu überschreiten. Die Rezeption des Kanons wandelt sich im Laufe des 18. Jh. Noch in den 80er Jahren, "da die Landschaft nicht [...] mit interesselosem Wohlgefallen betrachtet, sondern mit metaphysischen, historischen und moralischen Bedeutungen aufgeladen wurde, tendierten die Autoren dazu, dieses Bedeutungsspektrum mithilfe fremder Texte umfassend darzubieten" (144). Aber mit der zunehmenden Bedeutung der subjektiven Perspektive werden neue Referenzformen entwickelt - Ironie, kritische Reflexion, verdeckte Anspielungen. Erdmut Jost analysiert, wie sich die drei ausgewählten Autorinnen bei der kanonisierten Literatur 'bedienten': Für Sophie von La Roche sind Hallers Alpen eine Sehvorlage - bei ihrem Aufenthalt in den Alpen meint sie Hallers Landschaft wieder zu erkennen. Johanna Schopenhauer greift in ihrer Frankreichbeschreibung die Stern-Rezeption ironisch auf und verfasst eine Satire über die klischeehafte reisende Engländerin Miss Lucy. Frederike Brun rezipiert auf spezifische Weise den Genfersee von Friedrich Matthissons, indem sie weiterführt "was bei ihm angelegt war: der literarische Text als Freundschaftsallegorese" (202).

Das 'Erhabene'
Mit dem Wandel der Wahrnehmung verändert sich auch die Ästhetik - Gefühle gewinnen zunehmend an Bedeutung. Neben dem 'Schönen' wird das 'Erhabene' zur zentralen Kategorie. Es verbindet sinnliche Wahrnehmung und Gedanken, es changiert zwischen Universellem und Individuellem, es versucht etwas Undarstellbares darzustellen (334), es soll die Seelenkräfte steigern und zur Erkenntnis führen. Im Kontext der Landschaftswahrnehmung dient die Idee des Erhabenen dazu, die überwältigenden Sinneseindrücke einer Landschaft zu verarbeiten und sich bewusst zu werden, dass man "etwas besitzt, das größer ist als die betrachteten Naturgegenstände, [...] die unsterbliche Seele, das eigene Größenselbst oder die allgemein menschliche Idee der Freiheit" (337).

Außer dem oben besprochenen Themenspektrum analysiert Jost die Wahrnehmungsmodelle von Georg Foster und Jean Paul, skizziert die Entwicklung der Landschaftsgärten, bespricht die Bedeutung der Apodemiken, sie beschäftigt sich mit Caspar David Friedrich, dem Barockklassizismus, der Freundschaftslandschaft, dem Panorama und dem Diorama.

Die Fülle der Themen und Beispiele wirkt auf den ersten Blick erschlagend, der Leser wird von dem Text wie in ein "panoramatisches Bild" rein gezogen. Aber es ist ein gewinnbringendes und genüssliches Eintauchen.

Agnieszka Vojta