Rezension über:

Heribert Schulz: Geometrie der Figur. Luca Cambiaso und die moderne Kunst, Osnabrück: Museums- und Kunstverein Osnabrück 2007, 224 S., ISBN 978-3-926235-27-5
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Rezension von:
Eckhard Leuschner
Institut für Kunstgeschichte, Universität Passau
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Eckhard Leuschner: Rezension von: Heribert Schulz: Geometrie der Figur. Luca Cambiaso und die moderne Kunst, Osnabrück: Museums- und Kunstverein Osnabrück 2007, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 6 [15.06.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/06/12843.html


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Heribert Schulz: Geometrie der Figur

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Was Ausstellungen mit Kunst aus der Zeit vor der so genannten Klassischen Moderne angeht, sind es vor allem die kleinen oder mittelgroßen Häuser, die sich noch trauen, über den Kanon der üblichen 20 bis 30 Künstlernamen hinauszugehen. "Geometrie der Figur" ist ein bemerkenswertes Beispiel dafür, wie ein wichtiger, doch in Deutschland nie monografisch gewürdigter Künstler des 16. Jahrhunderts der interessierten Öffentlichkeit zu vermitteln und dabei sogar ein Bogen zur Kunst des 20. Jahrhunderts zu schlagen ist. Der Organisator der Osnabrücker Ausstellung, der Medizin-Professor Heribert Schulz, hat eine beachtliche Gruppe von über 30 Zeichnungen des Luca Cambiaso (1527-85) und aus dessen Werkstatt versammelt. Dies gelang, obwohl die Ausstellung zeitweise parallel zur großen Cambiaso-Retrospektive in Genua lief [1]; denn die Organisatoren der Genueser Schau erkannten die Chance, in Deutschland eine Art "Brückenkopf" zu ihrer Ausstellung zu errichten, die noch dazu einem von ihnen nicht gleichermaßen intensiv reflektierten Aspekt des Schaffens von Cambiaso gewidmet war.

Der Katalog beginnt mit einem Beitrag von Schulz zu Albrecht Dürer als Vorläufer Cambiasos. Die stereometrische Fortsetzung von Dürers Studien zum Maß des (unbewegten) menschlichen Körpers findet sich - nach Ansätzen im so genannten Dresdener Skizzenbuch - im letzten Teil der Vier Bücher von menschlicher Proportion (1528), wo bewegte Figuren auf Kuben oder Quader reduziert werden. Laut Schulz lieferten Dürer und dessen Schüler Erhard Schoen, der in seinem Proportionstraktat (1534) Kubenfiguren in von Schachbrettmustern gegliederten Raumbühnen zeigte, den Ausgangspunkt für die maniera cubica Cambiasos. Im Unterschied zu den eher statischen, auf das antike Skulpturenvorbild und Vitruv bezogenen Stereometrien Dürers habe Cambiaso allerdings seine Aufmerksamkeit auf die Darstellung tatsächlicher Bewegung menschlicher Körper gerichtet.

Der folgende Aufsatz von Lauro Magnani geht auf Cambiasos Kubenfiguren ein. Der Autor relativiert die Annahme eines direkten Einflusses von Dürer auf den Genuesen, indem er auf die schon von Lomazzo 1584 aufgestellte These verweist, Cambiaso habe eine von Vincenzo Foppa begründete Praxis übernommen. Der Künstlerbiograf Soprani protestierte 1674 zwar gegen diese Behauptung Lomazzos, nannte aber ebenso wenig Dürer, sondern Cambiasos Vater Giovanni als Erfinder der maniera cubica. Jenseits dieser kaum überprüfbaren Behauptungen konzentriert sich Magnani auf Cambiasos Zusammentreffen mit dem Perspektivmaler Giovan Battista Castello, genannt Il Bergamasco, und dem Architekten Galeazzo Alessi, die ihn zur Suche nach einem Ausgleich zwischen einer "intuitiven" Stereometrie und streng regelhafter Proportionierung bewegt hätten. Cambiaso sei gegen Ende der 1550er-Jahre in seinen Zeichnungen davon abgekommen, Figuren aus Rundungen zusammenzusetzen, und habe immer mehr scharfe Ecken und gerade Linien verwendet. Den menschlichen Körper habe er schließlich als ein dem architektonischen Raum gleichwertiges geometrisches Element verstanden und so - im Vorgriff auf die malerische Umsetzung - eine Überprüfung der immer gewagteren Verrenkungen seiner Figuren unter Einbeziehung von Lichtwirkung und Oberflächenstruktur ermöglicht (abgebildete 3D-Studien am Computer verdeutlichen die weitgehende Korrektheit der Lichtverteilung Cambiasos selbst bei extremsten Verrenkungen). Während Cambiaso in den Fresken und Bildern der 1560er-Jahre den kubischen Charakter seiner vorgängigen Studienfiguren verschleiert und ihnen "Lebendigkeit" verliehen habe, sei in den Malereien des Spätwerks die kubische Vereinfachung auch in den Endprodukten sichtbar gehalten - womöglich aus einer religiösen Motivation heraus, die das Kubische als Symbol einer anderen, höheren Realität verstanden habe. Dem Katalog der ausgestellten Zeichnungen Cambiasos wird der Hinweis vorangestellt, dass die Attributionen auf Angaben der Leihgeber basieren und eine Diskussion über deren Korrektheit durchaus erwünscht sei. Tatsächlich ist die schwankende Qualität der Blätter, von denen viele in deutschen Museen (Berlin, Darmstadt, Köln, München, Stuttgart) aufbewahrt werden, nicht zu übersehen. Wahrscheinlich wurde deshalb auch auf eine chronologische Anordnung des Materials verzichtet. Bezeichnend erscheinen die vielen Varianten, die nicht nur auf eine fortgesetzte Beschäftigung des Künstlers mit einmal erprobten Bildformeln, sondern auch auf eine schwunghafte Produktion von Imitatoren schließen lassen, durch die offenbar schon früh der Sammlermarkt mit Kuben-Figuren alla Cambiaso bedient wurde.

Schulz leitet mit seinem Aufsatz "Cambiaso und Picasso" zum zweiten Teil des Katalogs über: Sogleich relativiert er die durch seinen Titel implizierte direkte Beziehung; denn der Satz "Im 16. Jahrhundert wird der Kubismus geboren" im seinerzeit einflussreichen Buch Die Welt als Labyrinth. Manierismus in der europäischen Kunst und Literatur von Gustav René Hocke (1957) sei unzutreffend. Picasso und Braque hätten 1907 nichts von Cambiaso wissen können, und der Kubismus sei von anderen formalen und geistigen Voraussetzungen ausgegangen: Bei der Avantgarde sei es, teils mit Rekurs auf "primitive" Kunst, um die Facettierung von Körperoberflächen in Grate, Flächen und Winkel gegangen, während der Genuese seine Zeichnungen immer nur kubisch umgrenzt habe. Picassos protokubistische Konstruktionsschemata ganzer Figuren, die entfernt an Leonardo und Dürer erinnern, seien vollkommen von innen her, aus gleichseitigen Rhomben, entwickelt und daher quasi bildautonom.

Auch der sich anschließende Katalog von Beispielen für die "Geometrie der Figur" in der Moderne basiert, wie Schulz erklärt, nur in einigen Fällen auf einer nachgewiesenen Vertrautheit der Künstler mit den Kuben Cambiasos. Unter den wenigen eindeutigen Fällen ist Jackson Pollock (168-69), der in den 1930er-Jahren, vermittelt durch seinen Lehrer Thomas Hart Benton, Figuren Cambiasos studierte und dessen kubische Darstellungsweise auf eigene Kopien nach Meistern der europäischen Malerei, etwa Signorelli und Tintoretto, anwendete. Ansonsten versammelt das Buch eine etwas heterogene Mischung aus Geometrisierungen und Zergliederungen menschlicher Figuren von Malewitsch, Bomberg, Léger, de Chirico, Gabo und van Doesburg, die ergänzt sind durch Proportionsstudien von Meyer-Amden, Weininger und Baumeister. Eine Auswahl modular und proportional definierter Arbeiten aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts - meist Plastiken oder Zeichnungen von Plastikern - schließt sich an, darunter Werke von Seitz, Wotruba, Shapiro und Wachter.

Man mag darüber streiten, ob es sinnvoll ist, zwei letztlich distinkte Phänomene der Kunstgeschichte, die kubische Manier Cambiasos einerseits und geometrisierende Tendenzen in der Moderne andererseits, so zu parallelisieren, wie es in der Osnabrücker Schau geschehen ist. Gleichwohl hat Schulz damit exemplarisch auf die historische Begründung geometrischer Konzepte in der Kunst des 20. Jahrhunderts hingewiesen - Konzepte, die eine Entwicklungsgeschichte auch in der Zeit zwischen Cambiaso und Picasso hatten. Insofern wäre noch genauer auf den Dialog der Moderne mit der über Jahrhunderte lang ausgefeilten akademischen Maß- und Proportionslehre einzugehen, für die das 15. und 16. Jahrhundert nur den Prolog lieferten. Zu dieser etwa an der Pariser Académie des Beaux-Arts ritualisierten Lehre stand bereits der Kubismus in einer (höchst anregenden) Opposition, aber ohne sie wären - wohl vermittelt durch die von Schulz nicht erwähnte Schule von Beuron - selbst die ausgestellten Schemata von Meyer-Amden und Weininger nie entstanden. [2]

Schulz hat die Tür zu einem Forschungsfeld geöffnet, das noch weitgehend unerschlossen und voller Widersprüche ist. Wo die so genannte Klassische Moderne Geometrisierungen oft als Ausdruck einer "spirituellen" Autonomie der Kunst gegenüber Staat, Institutionen und Gesellschaft einsetzte, können spätestens seit Minimal und Conceptual Art Maß- und Normvorstellungen in der Kunst nicht mehr ohne deren Verhältnis zu kulturellen und sozialen Ordnungskategorien, Normen und Normkonflikten gedacht und reflektiert werden. Die Kunst- und Bildwissenschaft tut gut daran, eine solche Ausdehnung des Spektrums auch für weiter zurück liegende Studienobjekte zu akzeptieren, selbst wenn dadurch die "Geometrie der Figur" zu einem Projekt von erheblicher Komplexität gerät. In keinem anderen Werk des Katalogs kommen die Chancen eines solchen "Zusammensehens" der Phänomene besser zum Ausdruck als in Felix Nussbaums "Gliederpuppen" von 1943 (172-73), einem Bild, in dem die geometrisierte Anonymität von Manichini im Stile Giorgio de Chiricos auf distanzierte Weise die verzweifelte Lebenssituation des von den Nazis tödlich bedrohten Malers vermittelt - unabhängig von der Frage, ob Nussbaum je ein Werk Cambiasos gesehen hat.


Anmerkungen:

[1] Vgl. Eckhard Leuschners Ausstellungsbesprechung von "Luca Cambiaso. Un maestro del Cinquecento europeo", FAZ, 18. April 2007, 42.

[2] Vgl. Claire Barbillon: Les canons du corps humain au XIXe siècle: l'art et la règle, Paris 2004.

Eckhard Leuschner