Rezension über:

Volker Remmert: Widmung, Welterklärung und Wissenschaftslegitimierung. Titelbilder und ihre Funktionen in der Wissenschaftlichen Revolution (= Wolfenbütteler Forschungen; Bd. 110), Wiesbaden: Harrassowitz 2006, 267 S., 101 Abb., ISBN 978-3-447-05337-2, EUR 89,00
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Rezension von:
Marion Bornscheuer
Stuttgart
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Marion Bornscheuer: Rezension von: Volker Remmert: Widmung, Welterklärung und Wissenschaftslegitimierung. Titelbilder und ihre Funktionen in der Wissenschaftlichen Revolution, Wiesbaden: Harrassowitz 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 9 [15.09.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/09/10523.html


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Volker Remmert: Widmung, Welterklärung und Wissenschaftslegitimierung

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Um es gleich vorwegzunehmen: die konzise Habilitationsschrift des Wissenschaftshistorikers Volker Remmert kann aufgrund ihrer klaren Gliederung, ihrer stichhaltigen Argumentation und ihrer klug gewählten Bildexempla geradezu als Musterbeispiel eines gelungenen Forschungsbeitrags gelten.

Remmert konzentriert sich in seiner Arbeit über Titelbilder zu mathematikwissenschaftlichen Werken des 17. Jahrhunderts verständig auf "zwei Problemkreise aus der Geschichte der Wissenschaftlichen Revolution", die "sowohl repräsentativ für die besondere, bislang unterschätzte Rolle visueller Kommunikation in der Wissenschaftlichen Revolution" seien "als auch mit Blick auf die jüngere wissenschaftshistorische Forschung besondere Aufmerksamkeit" verdienten (7), nämlich

1. "die Auseinandersetzung um das kopernikanische System [...] (Kapitel 2 und 3)", und

2. "die damit eng verbundenen Bestrebungen zur Legitimierung der neuen Theorien und Disziplinen im 17. Jahrhundert (Kapitel 4 bis 7)" (8).

Ausgehend von der Prämisse, dass die Titelbilder in ihrer inhaltlichen Aussage oft über die mathematikwissenschaftlichen Schriften hinausgehen, arbeitet Remmert ihre drei zentralen Funktionen heraus, die zugleich den Haupttitel seines Buches konstituieren:

1. die der "Widmung" an bereits gewonnene oder potenzielle Patrone,

2. die der "Welterklärung" im Kontext der Auseinandersetzung um das kopernikanische System,

3. die der "Wissenschaftslegitimierung" im Hinblick auf die Anerkennung neuer Theorien und Disziplinen.

Jedes der sieben Analysekapitel mündet in eigene "Schlussbemerkungen", was neben dem raschen Zugriff auf Remmerts Ergebnisse auch die Befriedigung spezifischer Leseinteressen erlaubt. Ein achtes Kapitel mit der synoptischen "Schlussbetrachtung" rundet die Darstellung ab.

Seine Ausführungen leitet der Autor mit einer Definition seiner Leitbegriffe ("mathematische Wissenschaften", "Legitimierung", "visuelle Kommunikation", "Wissenschaftliche Revolution") und einem Aufriss des wissenschaftsgeschichtlichen Forschungsstandes zu "Bildern" und "Titelbildern" ein (7-20), um den Ausgangspunkt für seine Argumentation zu konkretisieren: "bei der Selbstformung [...] der Wissenschaftlichen Revolution [spielten] Bilder eine große, bisher völlig unterschätzte Rolle" (21).

Diese exemplifiziert er im 2. Kapitel über die "Wurzeln der Galilei-Affäre" am Kupfertitel der "Opera mathematica" (1612) von Christoph Clavius. Bei der Analyse dieses in der "Galilei-Historiographie [...] nie als Quelle herangezogenen" Bildes (52) entdeckt Remmert, dass "der Zwang [...], den Kopernikanismus abzulehnen [...], in erster Instanz nicht auf die Theologen der Gesellschaft Jesu, sondern auf ihren führenden Mathematiker Clavius" (26) zurückgegangen sei. Abzuleiten sei dies aus Clavius' Porträt, das in den Kupfertitel seiner mathematischen Abhandlung integriert ist und durch ein beigefügtes Bibelzitat seinen Anspruch auf göttliche Erleuchtung in astronomischen Dingen bekundet. Es illustriere "Clavius' volle Autorität als führender [...] Mathematiker und Astronom für die geozentrische Kosmologie" (51) und enthalte - im Sinne einer "zusammenfassenden Beschreibung des status quo" (51) - "eine deutliche Warnung [...], den antikopernikanischen Konsens der Exegeten nicht zu verlassen, da dies unmittelbar den Vorwurf der Häresie nach sich ziehen würde" (44). Folglich gelte es, die geläufige Forschungsmeinung über die führende Rolle der Theologen bei der Übertragung der kopernikanischen Debatte aus dem mathematischen in den theologischen Bereich zu revidieren: die Bibelexegese sei zuerst "von Seiten der Astronomie [...] als Autorität angeführt" worden (51).

Im 3. Kapitel zeigt Remmert anhand der Rezeption des Frontispizes von Galileis "Dialogus de systemate mundi" (1635) auf, dass sich im Zuge der zunehmend in Bildern geführten Kontroverse um das kopernikanische Weltbild auch eine originelle Ikonographie entwickelt habe. Seien im Frontispiz der italienischen Ausgabe erstmals die Darstellungen von Kopernikus und Galilei miteinander verschmolzen worden (64-66), so habe sich aus dem Motiv in der Folgezeit die "fiktive Gestalt eines Galilei-Kopernikus [...] zur mythenbeladenen Über-Figur in der Astronomie des 17. Jahrhunderts" entwickelt, mit der "ein prägnantes Symbol der [...] Wissenschaftlichen Revolution entstanden" sei (100). Dem hätten die "Gegner der Erdbewegung nichts entgegenzusetzen" gehabt, "das von ähnlicher Suggestionskraft gewesen wäre" (100). Nach Remmert setz(t)en sich neue Forschungserkenntnisse also weniger aufgrund ihrer wissenschaftlichen Richtigkeit als vielmehr aufgrund ihrer überzeugenderen Legitimierungsstrategien durch.

Das 4. Kapitel behandelt mit "Krieg und Handel" die beiden Legitimierungszusammenhänge, die den mathematischen Wissenschaftlern zur Vermarktung ihrer Forschungen bei den herrschenden "sozialen Eliten" (103) zur Verfügung standen. Der Vorteil martialisch und merkantil ausgestalteter Titelbilder habe in ihrer evidenten Erschließbarkeit gelegen, weshalb ihnen potenziell eine "eine explizite Werbefunktion" (124) eigen sei.

Im 5. Kapitel erläutert Remmert am Beispiel Tycho Brahes die ebenfalls der wissenschaftlichen Anerkennung förderliche Strategie der Selbstinszenierung. Zur Etablierung seines Weltbildes habe sich Brahe geschickt der mythologischen Figuren des Königs Atlas und des Tugendhelden Herkules "als Lehrer und Schüler der Astronomie" (125) bedient, die im Hinblick auf seine Patronagebestrebungen eine maßgebliche Eigenschaft besessen hätten: "sie waren politisiert und symbolisierten berechtigte Machtansprüche" (125). So sei es Brahe gelungen, sich im Bildprogramm seines Observatoriums in den Augen der dänischen Königin Sophie erfolgreich zum neuen, königlichen Atlas zu stilisieren (143-146). Als er nach dem Regentenwechsel 1596 die Gunst des dänischen Königshauses verlor und am Prager Hof um die "Patronage Rudolfs II." warb (148), habe er angesichts der Habsburger Herkules-Symbolik rasch umdenken können: "Fortan war er Herkules", der "König Atlas [...] übertrumpft" und "durch seine Mühen Unsterblichkeit erreicht hat" (148-149). Den Erfolg seines Imagewechsels belege das 1603 entstandene Frontispiz von Johann Bayers "Uranometria", in dem "Herkules den Vertreter der neuen Astronomie, Tycho Brahe, repräsentierte" (151).

Der Evolution dieser Strategie geht Remmert im 6. Kapitel über "Visuelle Traditionskonstruktion in der Astronomie des 17. Jahrhunderts" nach und schlussfolgert, dass die antike Verbrämung "die Astronomie als alte und vertrauenswürdige Autorität" vorstellen (188) und die "Nobilität des Gegenstandes sichtbar" machen sollte (187), um mit den neuen, als Referenzwerke verstandenen Schriften auch weniger spezialisierte Leser zu gewinnen. Der intendierte Rezipientenkreis sei indes geteilt gewesen: habe die "Traditionskonstruktion auf das Vertrauen derer" gezielt, "die um Belehrung nachsuchten", so habe es "die Nobilitierung auf die Gunst der Wohlhabenden und Mächtigen abgesehen" gehabt (188).

Im letzten Analysekapitel untersucht Remmert "Das heitere Spiel mit den Bildern: Visuelle Patronagestrategien bei jesuitischen Autoren". Deren Titelbilder hätten vorrangig den "tatsächliche[n] oder potentielle[n] Mäzen" (188) als Rezipienten impliziert, weshalb nun der "qualitative Aspekt" relevant geworden sei (189). Höchste Virtuosität hätten Bilder mit dem Motiv des Gartens erlangt. Dessen Darstellung habe sich um die Mitte des 17. Jahrhunderts in den Frontispizen der Bücher von Kaspar Schott schließlich zum Spiegelbild des fürstlichen "Gartens als Ort der Prachtentfaltung" entwickelt, der mit dem älteren Motiv des "Garten[s] der mathematischen Wissenschaften zu einer Einheit" verschmolzen sei (217). Auch dieser habe aber - gemäß der zu Beginn des 17. Jahrhunderts gültigen Lex hortorum - freie Zugänglichkeit eingefordert. Erst dann habe sich "in diesen Büchern als Gärten der mathematischen Wissenschaften [...] nach Belieben Wissen wie Blumen pflücken und davontragen" (223) lassen.

Eine solche geistige 'Ernte' ermöglicht auch Remmerts Publikation, die über das Berichtete hinaus zahlreiche neue Bilddeutungen und Forschungsergebnisse enthält. Möge die methodische Meisterschaft dieses Buches beispielgebend und sein Ertrag disziplinübergreifend gewürdigt werden.

Marion Bornscheuer