Rezension über:

Lorenz Böninger: Die deutsche Einwanderung nach Florenz im Spätmittelalter (= The Medieval Mediterranean; Vol. 60), Leiden / Boston: Brill 2006, ix + 412 S., ISBN 978-90-04-15047-8, EUR 124,00
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Rezension von:
Christiane Schuchard
Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Jürgen Dendorfer
Empfohlene Zitierweise:
Christiane Schuchard: Rezension von: Lorenz Böninger: Die deutsche Einwanderung nach Florenz im Spätmittelalter, Leiden / Boston: Brill 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 12 [15.12.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/12/13231.html


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Lorenz Böninger: Die deutsche Einwanderung nach Florenz im Spätmittelalter

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Unter den Fremden, die Florenz als eine der bedeutendsten spätmittelalterlichen "Großstädte" anzog, stellten die Zuwanderer aus dem deutschen Sprachraum die größte Minderheit dar. Eine Studie über diese Gruppe darf von vornherein Interesse beanspruchen, zumal sie eine Lücke füllt, nachdem mehrere neue Untersuchungen über Deutsche in anderen italienischen Städten erschienen sind. [1] Nun hat Böninger die reiche Florentiner Überlieferung unter migrations- und mikrohistorischen Gesichtspunkten ausgewertet: mehrere hundert Notariatsprotokolle, Steuererklärungen sowie Akten des Handels- und Schuldgerichts, dazu einzelne Quellen der Kriminalgerichtsbarkeit und solche aus dem Florentiner Umland. Der Untersuchungszeitraum umfasst rund anderthalb Jahrhunderte, von der Mitte des 14. bis zum Ende des 15. Jahrhunderts.

Im ersten der insgesamt sieben Großkapitel geht es um die Voraussetzungen und Bedingungen, unter denen Migration stattfand, so die Kosten des Reisens und die Anlaufstellen für Neuankömmlinge und Durchreisende. Kapitel II behandelt die Einwanderung nach Florenz und die wirtschafts- und bevölkerungspolitischen Steuerungsmaßnahmen der Stadt. Im dritten Kapitel geht es um Quartiersuche, Existenz- und Familiengründung; Böninger präsentiert Beispiele landsmannschaftlichen Zusammenhalts, aber auch der raschen Integration und Assimilation. Im vierten Kapitel behandelt er die deutschen Bruderschaften (Wollweber-, Schuhmacher- und St. Barbarabruderschaft). Den Schuhmachern und ihrer "Liebfrauengesellschaft" ist Kapitel V gewidmet. Ihre Statuten und ihre Matrikel für die Jahre 1448-1483 ediert Böninger im Anhang. Kapitel VI fasst die "qualifizierten Wanderberufe" zusammen: Kaufleute, Metallhandwerker, Künstler und Kunsthandwerker, Schreiber, Buchführer und Drucker. Im Mittelpunkt des siebenten Kapitels steht der Nürnberger Arrigho di Federigho "Martello", der (bisher nur als "Arigo" bekannte) Erstübersetzer des Decamerone ins Deutsche. Neue Quellenfunde zeigen, dass er mit dem Kartographen Henricus Martellus Germanus identisch ist. Der Werdegang einer ungewöhnlichen Persönlichkeit erhält hier schärfere Konturen. Auftraggeber der Decamerone-Übersetzung war der Kartograph Nicolaus Germanus; auch über ihn steuert Böninger neue Details bei. In einem Nachwort greift er Fragen aus der Einleitung wieder auf: nach Ursachen und Folgen der Handwerkerwanderung, nach den individuellen Beweggründen der Migranten, ihrer Identität und deren Veränderung unter dem Akkulturations- bzw. Assimilationsdruck im Gastland und schließlich nach ihrem Beitrag zum kulturellen Austausch mit der Heimat - Fragen, die sich nur teilweise beantworten lassen, und auch dann nicht verallgemeinernd.

Die Darstellung zeichnet sich durch Materialfülle und hohe Informationsdichte aus. Bei der Lektüre entdeckt man immer wieder "Datennester" - etwa zu Gasthäusern und Wirten (118 ff.), Badestuben (122 ff.) sowie zu Deutschen in anderen Städten der Toskana - und Exkurse, so über deutsch-italienische Liebesaffären auf höchster gesellschaftlicher Ebene (132 ff.). Um die Kostspieligkeit von Italienreisen zu illustrieren, zieht Böninger Beispiele heran, die er in einem Heft über Zahlungen florentinischer Banken an ausländische Rombesucher der Jahre 1422-1425 gefunden hat (20-25); eine solche Quelle sucht man eigentlich nicht hier, sondern wünscht sich eine separate, vollständige Veröffentlichung. Auch die Erfolgsgeschichte der deutschstämmigen Familie Riccardi (144-147) könnte in anderer Form vielleicht breiter dargestellt werden. In einer Fußnote (!) ediert Böninger "das einzige ausführliche Selbstzeugnis eines Deutschen aus dem spätmittelalterlichen Florenz" (294), nämlich den Brief eines Berufsschreibers an seinen Vater in Aachen (293 ff., Anm. 193). Überhaupt enthalten die Fußnoten nicht nur Belege und Zusatzinformationen, sondern müssen auch das fehlende Quellen- und Literaturverzeichnis ersetzen. Zweifellos hat Böninger eine Fülle an Literatur herangezogen, doch ein wirklicher Überblick ist nicht möglich. Dies gilt auch für den Namens- und Ortsindex, denn der Autor hat das Namenmaterial des Quellenanhangs gar nicht und dasjenige der Darstellung nicht vollständig aufgenommen (16).

Quellenzitate und Anhang machen insgesamt einen zuverlässigen Eindruck, auch wenn in Einzelfällen Zweifel und Kritik anzumelden sind. So muss es statt "primarie" (21) "penitentiarie" heißen. Ob "Grunerode" (71) wirklich Günderode ist, "Asia" (71) Aachen und nicht Hessen, "Torne" (130) Tournai und nicht eher Thorn ? "Machlivia" (284) dürfte "Machlinia" (Mecheln), "Neutorshausen" (126) Nentershausen sein. Ein Bistum "Marloviensis" (292 Anm. 187) gab es nicht, wohl aber "Macloviensis" (Saint-Malo). Hinter "Turitinus Fricter" (265) verbirgt sich Thüring Fricker, Diplomat und Stadtschreiber von Bern. Till Eulenspiegel erscheint dreimal als "Eugenspiegel" (206 f. mit Anm. 14), im Index jedoch gar nicht. Geld ausschlagen ist nicht "mißhandeln" (220). Regensburg besaß einen Bischof, keinen Erzbischof (271 Anm. 72). Statt von vierzehn ist von vier Nothelfern die Rede (178).

Offenbar hat Böninger keine Veranlassung gesehen, vom Repertorium Germanicum [2] mehr als nur den inzwischen überholten "Probeband" [3] heranzuziehen. In Einzelfällen wäre dies aufschlussreich gewesen. So findet sich "Tilemann Haferius", Propst in "Morcusen" (128 Anm. 80), als "Tilemannus Haffernus" mit Pfründen unter anderem an der Heiligkreuzkirche in Nordhausen. [4] Der 1436 in Florenz gestorbene "Kurienknecht" "Henricus Burn alias Keseman" war Abbreviator der päpstlichen Kanzlei und seit 1400 an der Kurie, so dass an Böningers Identifizierung mit einem Jüngling namens "Arrigho di Piero della Magnia" (114) etwas nicht stimmt.

Vor allem aber kann das Repertorium Germanicum möglicherweise zur Rekonstruktion der Vita des Kartographen "Donnus Nicolaus Germanus" (334-342) einen Beitrag leisten. Anhand der von ihm zusammengetragenen Belegstellen weist Böninger zweifelsfrei nach, dass er Nicolaus Johannis hieß und Priester war. Böninger referiert ältere Vermutungen über die Zuordnung des Nicolaus zu Kloster Reichenbach in der Oberpfalz und präsentiert neben anderen florentinischen Belegen für Personen namens Nicolaus Johannis das Testament eines "dompnus Nicholaus Vannis de Allamania Alta", Kaplan des verstorbenen Kardinals "de Columna" (337 Anm. 93; 1464). Tatsächlich gab es einen Nicolaus, der Priester, Reichenbacher Mönch und Kaplan des Kardinals Prospero Colonna († 1463) gewesen ist: Er hieß Nicolaus Bleymi(n)t. Im Herbst 1459 erhielt er Gratis-Dispens zum Besitz von Pfründen und bemühte sich um die Lösung aus der Exkommunikation. Obwohl ihm verboten worden war, Reichenbach zu verlassen, hatte er sich nämlich nach Italien begeben. [5] Er war also jener "dompnus Nicholaus Vannis de Allamania Alta". Nun wäre zu überprüfen, ob er auch der Kartograph "dominus Nicholaus Iohannis"/"Donnus Nicolaus Germanus" war.

Andere Querverbindungen werden sichtbar, wenn man Böningers Quellenedition zur deutschen Schuhmacherbruderschaft in Florenz mit den neuerdings edierten Quellen zu den deutschen Bruderschaften in Rom [6] konfrontiert. So entspricht die Gliederung der Statuten der "römischen" Bäckerbruderschaft exakt derjenigen der Statuten der "Florentiner" Schuhmacherbruderschaft. Auch könnte man für die Suche nach Doppelmitgliedschaften auf die komplette Matrikel der deutschen Schuhmacherbruderschaft in Rom zurückgreifen. Diese Hinweise sollen andeuten, dass Böningers Buch Möglichkeiten zum Weiterforschen in viele Richtungen eröffnet. Hoffentlich wird es, obwohl es in deutscher Sprache erschienen ist, in Florenz und auch im übrigen Italien die Aufmerksamkeit finden, die es verdient.


Anmerkungen:

[1] Rom: Knut Schulz: Confraternitas Campi Sancti de Urbe. Die ältesten Mitgliederverzeichnisse (1500/01-1536) und Statuten der Bruderschaft, Rom/Freiburg i.Br./Wien 2002; ders. und Christiane Schuchard: Handwerker deutscher Herkunft und ihre Bruderschaften im Rom der Renaissance. Darstellung und ausgewählte Quellen, Rom/Freiburg i.Br./Wien 2005. - Bologna: Jürg Schmutz: Juristen für das Reich. Die deutschen Rechtsstudenten an der Universität Bologna 1265-1425, Basel 2000. - Venedig: Cecilie Hollberg, Deutsche in Venedig im späten Mittelalter. Eine Untersuchung von Testamenten aus dem 15. Jahrhundert, Göttingen 2005; La "Regula" bilingue della Scuola dei Calzolai Tedeschi in Venezia del 1383, a cura di Lorenz Böninger, Venezia 2002. - Schwerpunkt Treviso: Uwe Israel: Fremde aus dem Norden. Transalpine Zuwanderer im spätmittelalterlichen Italien, Tübingen 2005.

[2] Repertorium Germanicum. Verzeichnis der in den päpstlichen Registern und Kameralakten vorkommenden Personen, Kirchen und Orte des Deutschen Reiches, seiner Diözesen und Territorien vom Beginn des Schismas bis zur Reformation. Bisher 9 Bände. Berlin 1916-1958 und Tübingen 1979-2004.

[3] Repertorium Germanicum. Regesten aus den päpstlichen Archiven zur Geschichte des Deutschen Reichs und seiner Territorien im XIV. und XV. Jahrhundert. Pontificat Eugens IV. (1431-1447). Band 1. Berlin 1897.

[4] Repertorium Germanicum (wie Anm. 2) 6/1. Tübingen 1985, 559, Nr. 5484.

[5] Repertorium Germanicum (wie Anm. 2) 8/1. Tübingen 1993, 618, Nr. 4400.

[6] Schulz/Schuchard: Handwerker deutscher Herkunft (wie Anm. 1).

Christiane Schuchard