Rezension über:

Steffi Hummel: Der Borromäusverein 1845-1920. Katholische Volksbildung und Büchereiarbeit zwischen Anpassung und Bewahrung (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Kleine Reihe; Bd. 18), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2005, 237 S., ISBN 978-3-412-23505-5, EUR 32,90
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Rezension von:
Joachim Schmiedl
Philosophisch-Theologische Hochschule Vallendar
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Joachim Schmiedl: Rezension von: Steffi Hummel: Der Borromäusverein 1845-1920. Katholische Volksbildung und Büchereiarbeit zwischen Anpassung und Bewahrung, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2005, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 1 [15.01.2008], URL: https://www.sehepunkte.de
/2008/01/10164.html


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Steffi Hummel: Der Borromäusverein 1845-1920

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Aus dem Titel lässt sich nicht ersehen, dass die Autorin ihre im Jahr 2000 bei Herbert Gottwald in Jena eingereichte Dissertation als Lokalstudie über das Eichsfeld angelegt hat. Zwei Drittel der Arbeit beschäftigen sich denn auch mit dem Borromäusverein als solchem und seiner Entwicklung von der Gründung bis zur Veränderung der Statuten am Beginn der Weimarer Republik. Vieles ist bekannt und in Publikationen mit ähnlicher Thematik schon häufiger zu lesen gewesen, was auch der langen Zeitspanne zwischen Abgabe der Dissertation und Veröffentlichung (2005) zuzuschreiben ist. Die Forschungen zum katholischen Milieu und zum Vereinswesen machen eben doch einen wichtigen Teil der Arbeiten zum deutschen Katholizismus aus. In diese Reihe fügt sich Hummels Dissertation gut ein.

Der Borromäusverein gehört zu den ältesten katholischen Assoziationen und wurde noch im Vormärz ins Leben gerufen. Er hat seinen Ursprung im katholischen rheinischen Bürgertum und ist eine direkte Antwort auf die Gründung des protestantischen Gustav-Adolf-Vereins (1841). Stellte die ultramontane Presse in den 1840er Jahren bereits die Mehrheit der neu gegründeten Zeitschriften, so war es das Anliegen des Förderkreises, der in den Städten des Rheinlands um Unterstützung nachsuchte, einen Bücherverein zu initiieren, "der die Verbreitung 'guter' Literatur mit der gleichzeitigen Bekämpfung 'verderblicher' Lektüre verband" (38). Der 1845 gegründete Borromäusverein förderte die Gründung von Vereinsbibliotheken in den Ortsgruppen und über jährliche Vereinsgaben und den preiswerten Verkauf empfohlener Bücher den Aufbau von Privatbibliotheken für die Mitglieder und die Teilnehmer. Deren Status richtete sich nach der unterschiedlichen Höhe ihres finanziellen Beitrags. Die Gesamtmitgliederzahl erreichte ihren Höchststand um 1910 mit über 200.000 Mitgliedern. Besonders in den rheinisch-westfälischen Diözesen war der Organisationsgrad so hoch, dass in über drei Viertel aller Pfarreien Lokalvereine existierten.

In den ersten Jahren seiner Existenz versuchten sich Mitglieder des Borromäusvereins auch an der Gründung katholischer Tageszeitungen. Einer kurzzeitigen Politisierung während der 1848er Revolution und einer Abschwächung der Mitgliederzahl im Kulturkampf folgte eine "Öffnung des Vereins in Richtung Moderne" (61) nach 1890. Die Ankunft der Katholiken im Nationalstaat ließ sich vor allem an der Öffnung der Vereinsbibliotheken auch für nicht dezidiert katholische Schriften erkennen. Steffi Hummel zeichnet anhand der Archivalien im Vereinsarchiv die "Professionalisierung der Bibliotheksarbeit" und "Modernisierung der Organisationsstruktur" nach.

Der zweite Teil ihrer Arbeit konzentriert sich auf die Bedeutung des Borromäusvereins für die katholische Volksbildung. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts wird ein eigenes Bildungsverständnis reflektiert, das aber weitgehend eine "seelsorglich-apologetische Komponente" (93) hatte und deshalb innerkirchlicher Kritik ausgesetzt war. Der Verein reagierte auch skeptisch auf die Veränderungen im Leseverhalten, "weg von der Wiederholungslektüre hin zu einem extensiveren Literaturkonsum von Unterhaltungsliteratur" (98). Die inhaltliche Seite dieser Transformationsprozesse ist Inhalt des dritten Teils der Studie. Hier werden bevorzugte katholische Autoren des 19. Jahrhunderts vorgestellt sowie die Kompromisse des Borromäusvereins im katholischen Literaturstreits zu Beginn des 20. Jahrhunderts erörtert.

Den vierten Teil ihrer Studie widmet Steffi Hummel einer Lokalstudie des Borromäusvereins. Im Eichsfeld, einer ehemals kurmainzischen Exklave, waren die Bedingungen für die Herausbildung eines katholischen Milieus wegen der weitgehend geschlossenen katholischen Bevölkerung unter gleichzeitiger preußisch-protestantischer Verwaltung positiv. Unmittelbar nach der Gründung wurde der Borromäusverein deshalb im Eichsfeld eingeführt. Seine Entwicklung vollzog sich parallel zu der des Zentralvereins und der rheinisch-westfälischen Zweigvereine. Im ländlichen Eichsfeld fungierte er aber auch "als Lesehilfe im Sinne einer grundsätzlichen Heranführung vornehmlich der Landbevölkerung an das Lesen und den Umgang mit Literatur" (182).

Steffi Hummel hat eine Studie vorgelegt, die in vielem die Ergebnisse der konfessionellen Vereinsforschung zusammenfasst, aber dennoch wichtige neue Erkenntnisse vermittelt. Ihr Untersuchungsgegenstand ist mit seiner Mischung aus Zentralverein und vielen Lokalvereinen ein Beispiel für den Versuch der Milieusteuerung "von oben". Angesichts der starken Klerusdominanz im Vorstand schien die Funktionalisierung des Vereins für die Schaffung eines geschlossenen Milieus vorprogrammiert. Doch das Selbstverständnis als katholischer Bildungsträger ließ den Verein ständig hin und her lavieren zwischen der Offenheit für alle Volkskreise und dem ausgewählten Angebot an katholischer Literatur. Gerade im ländlichen Eichsfeld hatte das den Effekt einer langfristigen Öffnung des Milieus, weil über den Borromäusverein die Bevölkerung erst an das Lesen herangeführt wurde, das ihnen dann auch die nicht konfessionellen Kommunikationsprozesse der Industriegesellschaft erschließen half.

Joachim Schmiedl