Rezension über:

Astrid Windus: Afroargentinier und Nation. Konstruktionsweisen afroargentinischer Identität im Buenos Aires des 19. Jahrhunderts, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2005, 317 S., ISBN 978-3-86583-004-3, EUR 49,00
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Rezension von:
Volker Barth
Ludwig-Maximilians-Universität München / École des Hautes Études en Sciences Sociales, Paris
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Volker Barth: Rezension von: Astrid Windus: Afroargentinier und Nation. Konstruktionsweisen afroargentinischer Identität im Buenos Aires des 19. Jahrhunderts, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2005, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 1 [15.01.2008], URL: https://www.sehepunkte.de
/2008/01/10260.html


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Astrid Windus: Afroargentinier und Nation

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Schwarze sind in Argentinien Außenseiter. Das argentinische Selbstverständnis ist das einer genuin weißen Nation; Afroargentinier haben keinen Platz im hegemonialen Nationaldiskurs. Astrid Windus will in ihrer inzwischen mit dem Walter-Markov-Preis ausgezeichneten Dissertation den historischen Ursprüngen dieses Sachverhaltes auf den Grund gehen und die Funktion der schwarzen Bevölkerungsschichten bei der Konstruktion der argentinischen Nation ausloten. Dabei beschränkt sie ihre Untersuchung auf Buenos Aires, obwohl, wie die neuere Forschung nachgewiesen hat, der Anteil schwarzer Arbeiter auf den riesigen Haziendas der argentinischen Pampa durchaus beachtlich war. Allerdings konzentrierten sich die Formen schwarzer Vergemeinschaftung und Partizipation am nationalen Diskurs doch im Wesentlichen auf die Hauptstadt. Außerdem war die Rio de la Plata-Metropole das unbestrittene Zentrum der Debatten um die Identität Argentiniens, auf welche die Arbeit unentwegt rekurriert.

Windus geht es um Formen der "Konstituierung der Nation" (10), um die kulturelle und diskursive Herstellung von Argentinidad im 19. Jahrhundert. Gefragt wird, wie und warum die Schwarzen in die Nation ein- bzw. aus ihr herausgeschrieben wurden. Die Autorin spürt dem afroargentinischen Emanzipationsprozess (13) nach und will wissen, inwieweit es sich dabei auch um einen nationalen Partizipationsprozess (19) handelte. Methodisch stützt sie sich dabei mit Stuart Hall (17), Michel Foucault (19) und Benedict Anderson auf die klassischen Gewährsmänner solcher Herangehensweisen.

Die Arbeit gliedert sich in drei Teile. Zunächst werden übergreifende Konzepte und Kategorien der nationalen Debatte analysiert, welche für die Definition und Konsolidierung der argentinischen Nation grundlegend waren. Laut Windus waren der Unabhängigkeitskampf gegen die spanischen Kolonialherren sowie die dezidierte Anlehnung an einen europäischen Zivilisationsbegriff die beiden großen nationalen Gründermythen (22). Insbesondere die Dichotomie von Zivilisation und Barbarei wurde zum "Referenzpunkt nationalstaatlicher Praxis" (31). Mit Hilfe sorgfältig elaborierter Vorstellungen von Rasse und Fortschritt versuchten die nationalen Vordenker das eine vom anderen zu unterscheiden.

Der argentinische Präsident Domingo Faustino Sarmiento, der mit Facundo: Civilización y Barbarie einen der großen Gründertexte der argentinischen Nation vorlegte, formulierte eindeutig, dass die nationale Gemeinschaft, die es zu konstruieren galt, "ni Gauchos, ni negros, ni pobres" beinhalten dürfe (49). "Argentina [wurde somit; VB] als eine romantische Repräsentationsform des Mythos von einer organischen Einheit aller Menschen der Region mit ihrer eigenen, heimatlichen Natur konstruiert" (69). Diese rassisch homogene Gemeinschaft sollte die argentinische Nation kulturell konstruieren, politisch konstituieren und gegen die auserkorenen Fortschrittsgegner verteidigen. Mit letzteren waren sowohl die regionalen caudillos als auch die indigenen Ureinwohner gemeint, die in den Jahren 1878/79 in der so genannten "Campañia del Desierto" nahezu vollständig ausgerottet wurden. Eine dezidiert rassische Vorstellung von Ordnung wurde als Grundlage des Fortschritts ausgegeben (81), mit dessen Hilfe sich Argentinien Schritt für Schritt dem europäischen Vorbild annähern und angleichen sollte. "Die Modernisierung sollte auf der Grundlage einer verbesserten Infrastruktur, der Steigerung von Handel und landwirtschaftlichen Exporten, der Öffnung der Märkte für ausländisches Kapital und der Förderung der europäischen Einwanderung erfolgen." (91)

Wie Windus im zweiten Teil ihrer Untersuchung aufzeigt, gelang es den schwarzen Argentiniern kaum, an diesem Diskurs teilzuhaben, geschweige denn von ihm zu profitieren. Ihre Geschichte beginnt im Jahr 1587, als die ersten Sklaven an den Rio de la Plata (allerdings nicht ins gleichnamige spanische Vizekönigreich, das erst 1776 in dieser Form etabliert wurde) verschleppt wurden (11). Als der Sklavenhandel 1812 gesetzlich verboten wurde, lag ihr Bevölkerungsanteil in der Hauptstadt bei beachtlichen 30 bis 40 % (11, 118). Die in der nationalen Erinnerung vorherrschende Rolle der freien Schwarzen war, wie Windus nachweist, die des Soldaten. Schwarze hatten bereits 1807 bei der englischen Belagerung von Buenos Aires, die für die spätere Unabhängigkeitsbewegung zentrale Bedeutung erlangte, eine entscheidende Rolle gespielt. Von da ab wurde der Mythos des heldenhaften schwarzen Soldaten zu einem "immer wiederkehrende[n] Motiv" (107).

Dieses Motiv ging jedoch Hand in Hand mit der "Konstruktion des Afroargentiniers als Opfer" (114), was besonders während des Kriegs der Tripel-Allianz (Argentinien, Brasilien, Uruguay) gegen Paraguay zu Beginn der 1860er Jahre deutlich wurde. Auf argentinischer Seite war die Zahl der schwarzen Gefallenen dabei nicht nur deswegen besonders hoch, da sie leichter zu rekrutieren waren als Weiße, sondern auch, weil sie nur allzu oft an vorderste Front gestellt wurden. Der gute schwarze Soldat war meistens auch ein toter schwarzer Soldat, immer jedoch einer, der aufs äußerste diszipliniert und unter die Kontrolle weißer Offiziere gestellt war (121). Windus macht an verschiedenen Beispielen eine "Fortschreibung des kolonialen Diskurses des Edlen Wilden" fest (132) und weist in einer besonders interessanten Passage auch Formen des blanqueamiento nach, mit denen "Schwarze auch äußerlich an das weiße Kollektiv" angepasst wurden (225).

Schwarze wurden der weißen Gemeinschaft entweder zwangsangepasst oder aber der neuen Nation gezielt gegenüber gestellt. Dies geschah einerseits durch eine Überbetonung der Affinität des - den neuen nationalen Barden verhassten - Diktators Rosas zur schwarzen Bevölkerung, obwohl dessen durchaus dezidiert populistische und auf unterprivilegierte Schichten zugeschnittene Regierung den Sklavenhandel 1831 sogar wieder legalisiert hatte (140). Andererseits wurden auch die nur wenig bekannten religiösen Traditionen vieler Afroargentinier zu einem Faktor des "Ausschlusses von der christlichen Wertegemeinschaft" (256).

Windus untersucht die zeitgenössische schwarze Presse und die insgesamt 54 schwarzen sociedades, die von den 1820er bis 1860er Jahren existierten (169). Sie macht die Zugehörigkeit zur Nation als "die zentrale Forderung" (221) der schwarzen Bevölkerung aus, und kommt zu dem Ergebnis, dass "die afroargentinischen Texte der zweiten Jahrhunderthälfte bestimmt waren von der Selbstvergewisserung der schwarzen Elite von Buenos Aires als zivilisierte, fortschrittliche und moderne Staatsbürger" (266). Daher war folgerichtig auch die Frage der Einheit der schwarzen Gemeinschaft ein fundamentales und hochbrisantes Thema, wobei die schwarzen Selbstentwürfe durchaus überraschend "keine Referenz an eine genuin afrikanische Herkunft" enthielten (269).

Windus' gut recherchierte Darstellung wird mit einem dritten Teil abgeschlossen, der die Ergebnisse konzise zusammenfasst. Die Autorin macht keinen Hehl daraus, dass sie die schwarze Bevölkerung Argentiniens aus ihrer "Verortung 'am Rande'" befreien will (28). Indem sie diese der übergreifenden Nationaldebatte gegenüber stellt, zeigt sie, dass Argentinier schwarzer Hautfarbe trotz ihrer quantitativen Marginalität "keineswegs als exotische Randerscheinung" zu betrachten sind (199). Ihr stetiger und massiver Verlust an "öffentlicher Präsenz" (29) sagt ganz im Gegenteil Entscheidendes über das kulturelle Selbstverständnis der weißen Argentinier in der nationalen Gründerphase aus. Dies hat allerdings auch zur Folge, dass der den Afroargentiniern gewidmete Teil lediglich die Hälfte des Textes für sich beansprucht und einzelne schwarze Argentinier nicht zu Wort kommen. Schade findet es der Rezensent, dass auf den legalen Status der schwarzen Bürger Argentiniens nicht detailliert eingegangen wird, andere Leser werden sich an den durchgängig im spanischen Original wiedergegebenen Zitaten stören. Trotzdem kann der vorliegende Band jedem an Argentinien interessierten Leser - und dies gilt auch für den historischen Laien - empfohlen werden.

Volker Barth