Rezension über:

Susan Splinter: Zwischen Nützlichkeit und Nachahmung. Eine Biografie des Gelehrten Christian Gottlieb Kratzenstein (1723-1795) (= Europäische Hochschulschriften. Reihe III: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften; Bd. 1047), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2007, 235 S., ISBN 978-3-631-56958-0, EUR 42,50
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Rezension von:
Detlef Döring
Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig
Redaktionelle Betreuung:
Julia A. Schmidt-Funke
Empfohlene Zitierweise:
Detlef Döring: Rezension von: Susan Splinter: Zwischen Nützlichkeit und Nachahmung. Eine Biografie des Gelehrten Christian Gottlieb Kratzenstein (1723-1795), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2007, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 6 [15.06.2008], URL: https://www.sehepunkte.de
/2008/06/14300.html


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Susan Splinter: Zwischen Nützlichkeit und Nachahmung

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Wissenschaftsgeschichte ähnelte über lange Zeit hinweg in einem Punkt der Militärhistorie alten Stils: Es wurde über Heroen berichtet, die auf dem Gebiet dieser oder jener Disziplin bahnbrechende Forschungsergebnisse vorlegen konnten oder auch, im negativen Falle, Missachtung seitens ihrer Zeitgenossen erfahren mussten, da diese in ihrer Ignoranz die revolutionäre Bedeutung der vorgelegten Leistung verkannten. Wissenschaftliches Leben hat es aber auch und vielleicht nicht zuletzt mit den scheinbar banal anmutenden Mühen der Ebenen zu tun, wo es gilt, das Neue in die Praxis umzusetzen, und wo entgegen naiver Auffassungen alte und neue Vorstellungen nicht so scharf voneinander zu trennen sind. Auf diesem Gelände treffen wir auf den 'Durchschnittswissenschaftler', auf den normalen Kärrner des wissenschaftlichen Betriebes. Ihrer hat es allein im Zeitalter der Aufklärung Abertausende gegeben. Manchmal werden sie dem späteren Betrachter im Dunstkreis der 'Heroen' für einen kurzen Moment sichtbar. In der Regel jedoch sind sie aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden. Dabei geht es weniger um die Erinnerung an Persönlichkeiten, die zu Unrecht von der Vergessenheit der Geschichte verschlungen worden sind, denn das sind sie nur selten. Anzustreben ist vielmehr eine Alltagsgeschichte der Wissenschaft, die nicht allein Sternstunden der Entdeckungen und Einsichten ins Auge fasst, sondern die weniger spannende 'Normalität'. Diese Erkenntnis ist gewiss nicht neu, aber sie findet immer noch zu geringe Beachtung im Betrieb der heutigen Forschung.

In diese Zusammenhänge ist nun die an gegenwärtiger Stelle anzuzeigende, an der Universität Halle vorgelegte Dissertation aus dem Jahre 2005 einzuordnen. Untersucht wird das Leben und Wirken des heute kaum noch bekannten, zu seiner Zeit vor allem als Naturforscher und Instrumentenbauer hervorgetretenen Christian Gottlieb Kratzenstein. Er bietet das Beispiel eines solchen Wissenschaftlers des sozusagen zweiten, wenn nicht dritten Gliedes, gehört aber damit zu den 'normalen' Gelehrten seiner Zeit, über die wir eben vergleichsweise wenig informiert sind. Diese Feststellung verleiht der anzuzeigenden Arbeit ein besonderes Interesse für den Wissenschaftshistoriker. Dessen Neugierde ist nach der Lektüre des Buches zum Teil befriedigt, zum Teil aber leider auch nicht.

Da Kratzenstein erklärtermaßen nicht darum als Thema gewählt wurde, weil er ein verkanntes und jetzt zu rehabilitierendes Genie war, sondern aus den eben umrissenen Gründen, wüsste man gern, warum gerade er sich als 'Untersuchungsgegenstand' anbietet. Das wird nicht wirklich erläutert. Es heißt nur, seine Biografie eigne sich "als eine Fallstudie, um entsprechende Charakteristika einer wissenschaftlichen Laufbahn im 18. Jahrhundert herauszuarbeiten." (13) Kratzenstein hat den größten Teil seines Lebens im Ausland verbracht, erst in Petersburg (Akademie), dann in Kopenhagen (Universität und Akademie). Weder ein jahrzehntelanges Wirken im Ausland noch eine engagierte Tätigkeit innerhalb einer Akademie waren für einen deutschen Gelehrten, deren einer Kratzenstein war, typisch. Warum also dient sein Beispiel als Fallstudie? Kratzensteins Biografie wird nicht strikt chronologisch referiert, die Autorin bevorzugt vielmehr eine Darstellung, die sich an den "Rollen" (passim) orientiert, die Kratzenstein in seinem Leben wahrgenommen hat: Privatperson, Akademiemitglied, Universitätsmitglied und Gelehrter. Die ersten drei biografischen Dimensionen werden mit jeweils ca. 15 Seiten behandelt, das Wirken des Gelehrten steht mit 110 Seiten ganz klar und eindeutig im Mittelpunkt der Betrachtung. Der Rezensent kann nicht beurteilen, ob diese auffällige Unausgewogenheit der unterschiedlichen Quellenlage zuzuschreiben ist, oder ob hier das persönliche Interesse der Verfasserin eine Rolle spielt. Die Ausführungen zur Schul- und Universitätszeit in Wernigerode und Halle bieten sicher die wichtigsten Informationen, wirken in ihrer Knappheit (insgesamt kaum fünf Seiten) aber doch eher blass. Die Mitteilung z.B., die Mathematik habe in Halle nur ein bescheidenes Niveau besessen, wird allein mit Aussagen aus dem Briefwechsel zwischen Kratzenstein und Leonhard Euler belegt. Man wüsste schon gern, ob es aufgrund des uns vorliegenden Wissens tatsächlich an dem war. Was überhaupt ließe sich über Halle im zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts nicht alles mitteilen, was für Kratzensteins Entwicklung von Bedeutung gewesen sein mag?

Zur 'Privatperson' gehört natürlich auch die Familie. Die gängige Forschung meint, diesen Aspekt eher hintanstellen zu können. Das ist, auch wenn moderne Verhältnisse ausgeblendet werden sollen und müssen, irrig. Die Autorin widmet dem Thema immerhin mehrere durchaus gut lesbare Seiten, dennoch bleibt nach der Lektüre ein Gefühl der Unzufriedenheit. Innerhalb welcher Kreise suchten die Professoren ihre Ehepartnerinnen? Gab es da Unterschiede zwischen zugewanderten Gelehrten und alteingesessenen Familien? Auf welchen Wegen vollzogen sich die Eheanbahnungen? Wie gestaltete sich das Verhältnis der Partner zueinander nach der Eheschließung? Wie haben wir uns die Erziehung der Kinder vorzustellen? Es fehlt auch an jedweder allgemeinen Reflexion über Ehe und Partnerbeziehungen innerhalb der Welt der Wissenschaft.

Am kundigsten zeigt sich die Autorin beim Thema Kratzenstein als Wissenschaftler. Die vielfältigen Tätigkeitsfelder des Gelehrten werden überzeugend und ausführlich skizziert. Nicht nur für die Einschätzung Kratzensteins ist die Feststellung wichtig, seine Arbeitsweise sei als ein "kopierendes Weiterentwickeln" (201 u.ö.) zu charakterisieren. Kratzenstein greift auf schon vorliegende Erfindungen und Beobachtungen zurück und entwickelt sie weiter. Auch das ist ein Kennzeichen für den 'gängigen' Wissenschaftsbetrieb der Zeit. Etwas weniger verbreitet war vielleicht das Wirken des Professors als Konstrukteur und Erbauer verschiedenartigster wissenschaftlicher Instrumente, darunter von Elektrisiermaschinen, die sich im 18. Jahrhundert besonderer Beliebtheit erfreuten. Aber auch damit teilt Kratzenstein den Geist der Zeit, der sich auf die praktische Anwendbarkeit neuer Erkenntnisse orientiert. Nicht berücksichtigt wird von der Autorin das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Offenbarungstheologie, das zu den Kernthemen der intellektuellen Auseinandersetzungen der Zeit gehörte. Im Bereich der Naturwissenschaften ist hier vor allem die Diskussion um die Physikotheologie zu nennen. Ist Kratzenstein mit diesem Thema in Berührung gekommen?

Zum Schluss sei noch eine Bemerkung zu einem Aspekt der Quellennutzung gestattet. Zu den wesentlichen Beschäftigungen eines Gelehrten in der Frühen Neuzeit gehörte das Korrespondieren; seine Zugehörigkeit zur Respublica litteraria dokumentierte sich nicht zuletzt in der Einbindung in das europaweite Kommunikationsnetz der Gelehrten. Die Autorin weiß durchaus von dieser Bedeutung und zitiert in ihrer Arbeit reichlich aus dem überlieferten Briefmaterial. Der Leser wäre jedoch dankbar, wenn ihm ein Gesamtüberblick über die geografische Verbreitung, die soziale Zusammensetzung, die verwendeten Sprachen u.a. geboten würde. Daran fehlt es leider. Eine auf Seite 48 abgedruckte Karte "Korrespondentennetzwerk" verrät uns lediglich, dass Kratzenstein Kontakte nach England, Frankreich usw. hatte, was nur einen relativ geringen Informationswert vermittelt. Im Vorwort wird ein Familienarchiv erwähnt, in dem die Autorin drei Tage forschen durfte. Welche Art Einrichtung damit gemeint ist, wird nicht deutlich.

Die vorgelegte Untersuchung verfolgt einen sehr vielversprechenden Ansatz, der seitens der Forschung stärkere Beachtung als bisher finden sollte. Das macht die Stärke des Buches aus. Die konkrete Umsetzung der gestellten Aufgaben kann dagegen nur partiell überzeugen, wobei die Darstellung Kratzensteins als Gelehrter noch am gelungensten ist. Einige Themen werden nur mit einer gewissen Flüchtigkeit berührt oder gar nicht behandelt, manche handwerkliche Schwäche (z.B. Quellendarbietung) wird deutlich.

Detlef Döring