Rezension über:

Ulrike Hasemann-Friedrich: "Ich erschien mir als Mensch ohne Vaterland.". Karl Friedrich Reinhard (1761-1837) - ein Württemberger im französischen Diplomatendienst (= Villigst Perspektiven; Bd. 7), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2007, XVI + 301 S., ISBN 978-3-8258-9166-4, EUR 29,90
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Rezension von:
Ina Ulrike Paul
Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Julia A. Schmidt-Funke
Empfohlene Zitierweise:
Ina Ulrike Paul: Rezension von: Ulrike Hasemann-Friedrich: "Ich erschien mir als Mensch ohne Vaterland.". Karl Friedrich Reinhard (1761-1837) - ein Württemberger im französischen Diplomatendienst, Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2007, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 2 [15.02.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/02/13551.html


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Ulrike Hasemann-Friedrich: "Ich erschien mir als Mensch ohne Vaterland."

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Die umfangreiche Korrespondenz eines an Literatur, Kunst und Wissenschaften interessierten Diplomaten stellt eine viel versprechende Quelle für die Kulturtransferforschung dar. Dies gilt umso mehr, wenn der Briefschreiber seine Korrespondenz als 'portable Heimat' betrachtete, zwei Nationen angehörte und mit beider Geistesleben so vertraut war wie Karl Friedrich Graf von Reinhard. Er entstammte einer altwürttembergischen Pfarrersfamilie und verstarb als Pair von Frankreich, war mit Staatsmännern und Geistesgrößen befreundet, blieb dem übernationalen Denken der Spätaufklärung ebenso treu wie seinem Idealbild von der Französischen Revolution und diente während der vier Jahrzehnte seiner Laufbahn (ähnlich seinem Förderer Talleyrand) den wechselnden Regierungen Frankreichs, die ihn meist in deutschsprachige Länder entsandten.

Ulrike Hasemann-Friedrich will mit ihrer Studie weder die maßgebliche Biographie des französischen Germanisten Jean Delinière fortführen [1] noch alleine Reinhards nationales Selbstverständnis erörtern, was man dem Titel nicht sofort anmerkt. Vielmehr soll ihre im Wintersemester 2003/04 von der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena angenommene romanistische Dissertation "Ergänzung und Vertiefung" (38) solcher "allgemeinen" Biographik bieten, indem sie mit den Methoden einer als "Kritik und Erweiterung der Komparatistik" (10) verstandenen Kulturtransferforschung "nach der Positionierung Reinhards zwischen zwei kulturellen Systemen sowie seiner Rolle beim Transfer kultureller Güter" (38) fragt. Zu diesem Zweck präpariert Hasemann-Friedrich aus der privaten Korrespondenz des Diplomaten Reinhard seine "Kontaktnetze" heraus, wobei sie zwischen "Korrespondentennetzen" sowie "geographischen" und "thematischen" Kontaktnetzen unterscheidet (4f.). Sie werden an den vergleichbar intensiven Briefwechseln mit Goethe, Joseph von Hammer-Purgstall und Sulpiz Boisserée, an Reinhards favorisierten Wirkungsorten und Bezugspunkten (Paris 1789, Weimar 1807) sowie wichtigen Themen der Korrespondenz (Farbenlehre, Romantik, 'Le Globe') konkretisiert.

Bis zum Aufspannen der kommunikativen Netze sind nach der Einleitung noch vier Kapitel zu erlesen. Hasemann-Friedrich schließt sich dem "weiten" Kulturbegriff Edgar Morins an und erörtert die Schlüsselbegriffe Kulturtransfer und Kommunikation als dessen Medium an den wichtigsten, bis zum Forschungsstand von 1998 führenden Aufsätzen von Michel Espagne und Michael Werner, Johannes Paulmann und Peter Schöttler. Bei der Darstellung der Kommunikationsstrukturen an der Wende zum 19. Jahrhundert und beim "historische[n] Abriss" hätte die Beachtung von Barbara Stollberg-Rilingers "Europa im Jahrhundert der Aufklärung" [2] und des 1999 erschienenen "Handbuch[s] der Medien in Deutschland 1700-1800" [3] bereichernd gewirkt. Die anschließende kurze Biographie vermittelt notwendige Eindrücke von Reinhards Leben "zwischen zwei Nationen" (55).

Seine Briefpartner bedeuteten für Reinhard Rückhalt in einem Leben, das von häufigen Ortswechseln und den damit einhergehenden Verlusten dort angeknüpfter Beziehungen geprägt war. Die Verfasserin charakterisiert die ausgewählten, hinsichtlich ihrer wechselseitigen Intensität und Dauer graphisch visualisierten Briefwechsel mit vielen aufschlussreichen Briefzitaten; Tagebucheinträge Boisserées oder Publikationen Reinhards flankieren sie. Seinem 25jährigen, eine breite Themenskala von Politik über Religion zu Naturwissenschaft umfassenden Briefwechsel mit Goethe, den er 1807 in Karlsbad kennen gelernt hatte, maß Reinhard vorrangige Bedeutung bei; seine beiden anderen Brieffreunde bezog er in diese intellektuelle Verbindung ein. Goethe hingegen schätzte Reinhard vornehmlich als "Kontaktperson nach Frankreich" (273), wo er die Rezeption von Goethes Farbenlehre wie überhaupt seines Werkes förderte; dieser Punkt wird in der Analyse der "thematischen Kontaktnetze" aufgegriffen. Mit dem österreichischen Diplomaten und Orientalisten von Hammer verband Reinhard eine von dem gemeinsamen Interesse an arabischer Literatur geprägte 'politikferne' Freundschaft, die sich 1806 in Jassy zwischen den diplomatischen Vertretern damals feindlicher Mächte ergeben hatte. 1798 [4] hatte Reinhard den damals 25jährigen Sulpiz Boisserée in Hamburg im revolutionsfreundlichen Kreis um Sieveking und Reimarus kennen gelernt; beider Briefwechsel repräsentiert Reinhards Verhältnis zur "jüngeren Generation" (5, 127). Boisserée konnte Reinhards interessierte Aufmerksamkeit für sein Domprojekt und die Romantik(er) gewinnen, während es Reinhard nicht gelang, dem Kölner Freund ein Jota Zustimmung für seine Sicht der Französischen Revolution oder seine Wahlheimat Frankreich abzuringen.

Die "geographischen Kontaktnetze" werden an Weimar und Paris geknüpft, von wo aus Reinhard erste Versuche unternahm, brieflich und - aufgrund der ungeplanten Publikation dieser Briefe auch - publizistisch ein positives Bild der revolutionären Ereignisse nach Deutschland zu übermitteln. "[Goethes] Weimar" wird zur Chiffre für Reinhards sich an diesem kulturellen Zentrum festigende Überzeugung vom "gesellschaftspolitischen Fortschritt der Menschheit" (171). Die "thematischen Kontaktnetze" materialisiert die Verfasserin an Reinhards Einsatz in Frankreich für Goethes Farbenlehre, an seiner von Friedrich von Schlegel personifizierten Haltung zur deutschen "nationalpolitischen" Romantik und an den zunehmend politischen Inhalten der zukunftsorientierten, übernationalen liberalen Pariser Literaturzeitschrift "Le Globe" (1824-1830).

Was Reinhards Selbstverortung zwischen den "kulturellen Systemen" Frankreich und 'Deutschland' angeht, so ist sie mit der Formulierung vom "Württemberger" oder "Deutsche[n] im französischen Diplomatendienst" wohl nicht getroffen, zumal vor dem Hintergrund der Tatsache, dass sich Reinhard 1791 zum Angehörigen der französischen Nation erklärt hatte und mit seinem Bürgereid 1792 (1832 bestätigt) naturalisiert wurde. Ähnliches gilt für die saloppe Feststellung, er sei "sprachlich Deutscher, beruflich Franzose, ideengeschichtlich jedoch Weltbürger" (5; Umschlag Rückseite) gewesen. Überhaupt lassen Sprachstil, Form (vgl. "Quellenlage") und der eigenwillige wissenschaftliche Apparat der Arbeit einige Wünsche offen.

Reinhard spielte, so kann man die Ergebnisse von Hasemann-Friedrichs Studie resümieren, seine Kulturvermittlerrolle erfolgreich innerhalb seiner "Kontaktnetze" von überwiegend Gleichgesinnten - und er tat dies bewusst als Deutscher von Geburt und Franzose aus politischer Überzeugung, als kosmopolitischer Spätaufklärer und als Diplomat, der das "Ideal der Verständigung aller Menschen" (274) zwischen Deutschland und Frankreich praktizierte, die er "à vol d'oiseau, aber mit scharfem Auge" (Zitat 260) besser kannte als seine Adressaten.


Anmerkungen:

[1] Jean Delinière: Karl Friedrich Reinhard (1761-1837). Ein deutscher Aufklärer im Dienste Frankreichs, Stuttgart 1989, als Habilitationsschrift 1983 an der Sorbonne [Paris IV].

[2] Barbara Stollberg-Rilinger: Europa im Jahrhundert der Aufklärung, Stuttgart 2000.

[3] Ernst Fischer / Wilhelm Haefs / York-Gothart Mix (Hgg.): Von Almanach bis Zeitung. Ein Handbuch der Medien in Deutschland 1700-1800, München 1999.

[4] Die Bekanntschaft datiert nach Delinière (232) von 1798, aber erst 1805 nach Hasemann-Friedrich (125).

Ina Ulrike Paul