Rezension über:

Florian Altenhöner: Kommunikation und Kontrolle. Gerüchte und städtische Öffentlichkeiten in Berlin und London 1914/1918 (= Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London; Bd. 62), München: Oldenbourg 2008, VII + 375 S., 8 Abb., ISBN 978-3-486-58183-6, EUR 39,80
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Rezension von:
Jörg Requate
Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Jörg Requate: Rezension von: Florian Altenhöner: Kommunikation und Kontrolle. Gerüchte und städtische Öffentlichkeiten in Berlin und London 1914/1918, München: Oldenbourg 2008, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 3 [15.03.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/03/13404.html


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Florian Altenhöner: Kommunikation und Kontrolle

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Forschung über Gerüchte ist ebenso faszinierend wie schwierig. Schwierig ist sie schon deshalb, weil der Gegenstand sowohl definitorisch als auch quellentechnisch schwer zu fassen ist. Florian Altenhöner macht zu Recht gar nicht erst den Versuch Begriffe wie "Unwahrheit" oder "Mündlichkeit" zur Definition des Gerüchts heranzuziehen, sondern schließt an den amerikanischen Soziologen Tamotsu Shibutani an, der Gerüchte als "improvisierte Nachrichten" versteht. [1] Gerüchte entstehen vor allem dann, so Altenhöner in Anschluss an Shibutani, "wenn Menschen in unbestimmten und problematischen Situationen versuchen, eine sinnhafte Deutung dieser Situation zu erlangen, indem sie ihre intellektuellen Fähigkeiten zusammenwerfen"(6). Da Kriege Situationen darstellen, in denen einerseits Regierungen in hohem Maße daran interessiert sind Informationen zu kontrollieren und zensieren und andererseits die Bevölkerung dringlich und permanent auf neue und zuverlässige Informationen wartet, werden unweigerlich aus der Gemengelage von Informationsschnipsel, kollektiven Hoffnungen und Befürchtungen in einem kollektiven Prozess Nachrichten "improvisiert". Das faszinierende an Forschungen über Gerüchte besteht somit in der Hoffnung, sowohl etwas über Kommunikationsprozesse "in the making" als auch etwas über kollektive Vorstellungen in ganz bestimmten Situationen aussagen zu können. Georges Lefebvres Untersuchung über die "grande peur" ist hier in jeder Hinsicht immer noch das unerreichte Beispiel. [2]

Altenhöner befasst sich in seiner Untersuchung konkret mit Gerüchten im Ersten Weltkrieg und vergleicht dabei London und Berlin miteinander. Damit fokussiert er eine Kommunikationssituation, in der die Medien zu einer voll ausgeprägten, modernen Maschinerie geworden waren, die mehr als je zuvor eine permanente Versorgung mit Informationen benötigte. Die Diskrepanz zwischen ebenso sparsamer wie propagandistischer Informationspolitik der Regierungen und dem Bedürfnis nach Neuigkeiten ließ die Medien somit unweigerlich Teil der Gerüchtekommunikation werden, um gleichzeitig jedoch die Vertrauenswürdigkeit ihrer eigenen Informationen zu verteidigen. Auf der anderen Seite versuchten die Regierungen über die Medien die Informationen zu lenken und gleichzeitig umlaufende Gerüchte zu bekämpfen. Dazu bauten die Regierungen in Berlin und in London jeweils einen umfassenden Apparat zur Kommunikationskontrolle auf. Die Auseinandersetzung mit dem Pressesystem, den Zensurpraktiken und der Kommunikationskontrolle sind somit unmittelbarer Bestandteil der Untersuchungen zur Gerüchtekommunikation. Bei Altenhöner sind die Kapitel zu diesen Fragen allerdings etwas zu ausführlich geraten. Da letztlich die Beschäftigung mit den Gerüchten den Kern des Buches ausmacht, liest man die ersten Teile mit einer gewissen Ungeduld. Dessen ungeachtet informiert Altenhöner in den ersten vier Kapiteln sehr zuverlässig und kenntnisreich über die Pressesysteme in England und Deutschland und über die Art und Weise, wie in beiden Ländern versucht wurde Information und Kommunikation zu kontrollieren. Auch wenn die Ergebnisse hier in ihrer Grundtendenz nicht grundsätzlich überraschend sind, arbeitet Altenhöner sehr klar die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den beiden Ländern heraus.

Auch in England mit seiner tief verwurzelten Tradition der Pressefreiheit griff die Regierung zu Zensurmaßnahmen und versuchte die Definitionsgewalt darüber zu erlangen, was in den Kriegszeiten als "wahr" gelten sollte. In diesem Sinne unterschieden sich die beiden Kriegsgegner zunächst nicht grundlegend. Doch anders als in Deutschland hatte die englische Presse in Person ihrer Verleger und Journalisten das Selbstbewusstsein, diesen Zustand anzuprangern und mehr Bewegungsspielraum und Informationen einzufordern. Anders auch als in Deutschland waren die britischen Militärs und Regierungsstellen bereit sich auf eine gewisse Zusammenarbeit mit den Zeitungen einzulassen. Das wiederum führte dazu, dass zum einen die Diskrepanz zwischen der spärlichen offiziellen Wahrheit und dem Informationsbedürfnis in England geringer ausfiel und folglich die Gerüchte, also die "Improvisation von Nachrichten", in London nicht ganz so ausufernd war wie in Berlin. Zum andern war die Obsession, Kontrolle über die Gerüchte zu erlangen in England auch nicht ganz so ausgeprägt wie in Berlin.

Die Tatsache, dass staatliche Stellen sich aber überhaupt für die Gerüchte interessierten, ist letztlich eine wichtige Voraussetzung dafür, dass Historiker darüber forschen können. In Berichten zu öffentlichen Stimmungen und Meinungen finden sich immer auch Hinweise auf umlaufende Gerüchte. Altenhöner betont aber zurecht, dass die Gerüchte, die sich in diesen oder in anderen Quellen, wie Zeitungen oder auch privaten Aufzeichnungen finden, in aller Regel "für wichtig, bedrohlich oder auch nur skurril gehalten" wurden. Die gesellschaftliche Normalität der Gerüchte, so Altenhöner zu Recht, wird dagegen in der Regel nicht dokumentiert. Gleichwohl gelingt es Altenhöner an einigen besonders prägnanten und gut dokumentierten Beispielen die Mechanismen und Effekte von Gerüchten aufzuzeigen. Abgesehen von vielen interessanten Details darüber, wie Gerüchte verbreitet und erfolglos bekämpft wurden, scheint mir vor allem die These vom umfassenden "Vertrauensverlust in den Wahrheitsanspruch von Medien und Politik" zentral zu sein. Die Zeitungen - die in Deutschland stärker als die in England - hatten durch den ganzen Krieg hindurch versucht, die an den vermeintlichen "Lügenecken" diskutierten Gerüchte zu diskreditieren und ihren Anspruch auf einen privilegierten Zugang zu Informationen und Wahrheit aufrecht zu erhalten. In direkter Abhängigkeit von der Informations- und Zensurpolitik der Regierung klaffte zwischen den geschürten Erwartungen und den täglichen Erfahrungen eine immer größere Lücke, die letztlich zu einer unaufhaltsamen Erosion an Glaubwürdigkeit und Legitimation der Regierung und damit letztlich des gesamten öffentlichen Kommunikationsprozesses führte. Wenn der Glaubwürdigkeitsverlust in England insgesamt deutlich weniger dramatisch ausfiel, so lag dies sicher, wie Altenhöner hervorhebt, auch daran, dass die Öffentlichkeit in England - anders als in Deutschland - "als Medium der Selbstverständigung der Gesellschaft über sich selbst weitgehend intakt blieb." Allerdings wird man einräumen müssen, dass England die Erfahrung der Niederlage und damit die Notwendigkeit erspart blieb, die Erwartungen an den Kriegsausgang so drastisch an die Realität anpassen zu müssen wie in Deutschland. Das ändert jedoch nichts an Altenhöners grundsätzlichen Befunden. Ob man allerdings den Begriff des Sonderwegs - oder wie abgemildert Altenhöner schreibt - "der preußisch-deutsche(n) Sonderwege" noch einmal revitalisieren sollte, erscheint eher fraglich. Das Bemühen um Informationskontrolle, insbesondere in Zeiten des Krieges, war keineswegs auf Deutschland beschränkt, wie Altenhöner auch selbst betont. Die Folgen des mit der gescheiterten Kommunikationskontrolle verbundenen Vertrauensverlustes war allerdings in Deutschland besonderes dramatisch - mit weitreichenden Folgen für die durch Misstrauen und wechselseitige Verunglimpfungen geprägte Weimarer Republik. So zeigt Altenhöners Studie eindringlich, dass es sich lohnt, sich dem mühevollen Prozesse der Untersuchung von Gerüchten zu unterziehen und dass es dabei weniger um Skurrilitäten als um gesamtgesellschaftliche Kommunikationsprozesse geht.


Anmerkungen:

[1] Tamotsu Shibutani: Improvised News: A Sociological Study of Rumor, Indianapolis 1966.

[2] Georges Lefebvre: La Grande peur, Paris 1932.

Jörg Requate